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Der Mathematische Monatskalender: Camille Jordan (1838–1922): Verfrüht für tot erklärt

Jordan wurde beim internationalen Mathematikerkongress 1900 als am 7.11.1898 verstorben genannt. »Zumindest die Jahreszahl kann nicht stimmen«, sagte er dazu.
Camille Jordan

Marie Ennemond Camille Jordan stammte aus einer angesehenen und vermögenden Familie. Sein Vater, Absolvent der École Polytechnique, arbeitete als Ingenieur und war Abgeordneter des Département Saône-et-Loire; der Bruder der Mutter war einer der bedeutendsten Wandmaler Frankreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Mit 17 Jahren besteht Camille die Aufnahmeprüfung an der École Polytechnique als Jahrgangsbester. Wie in dieser Zeit üblich, umfasst das Studium neben der Beschäftigung mit mathematischen Theorien auch eine Ausbildung zum Ingenieur, so dass Camille Jordan nach Abschluss des Studiums – ähnlich wie Augustin Cauchy und Henri Poincaré – zunächst als Ingenieur tätig ist, erst in der Provinz, bald aber in Paris. 1861 wird Jordan promoviert; seine Arbeit besteht aus zwei Teilen: »Sur le nombre des valeurs des fonctions« aus dem Teilgebiet Algebra und »Sur des periodes des fonctions inverses des intégrales des différentielles algébriques« aus dem Teilgebiet Analysis.

1862 heiratet Jordan die Tochter des stellvertretenden Bürgermeisters von Lyon, Marie-Isabelle Munet; in der glücklichen Ehe werden zwei Töchter und sechs Söhne geboren. Neben seiner Tätigkeit als Ingenieur hat Jordan genügend Zeit, sich mit mathematischen Fragen zu beschäftigen – aus nahezu allen Bereichen, an denen geforscht wird. In seinen ersten Veröffentlichungen untersucht er unter anderem Symmetrieeigenschaften von Polyedern. 1870 erscheint dann das 667 Seiten umfassende Werk »Traité des substitutions et des équations algébraiques«, eine umfassende Darstellung der Galois-Theorie und der Theorie der Gruppen.

Diese enthält unter anderem einen später nach Jordan benannten Satz über Normalreihen von Gruppen (aufsteigende Kette von Gruppen mit besonderen Eigenschaften); dieser Satz wird 1889 von Otto Ludwig Hölder erweitert und daher in der Literatur als Satz von Jordan-Hölder zitiert. Für seine Abhandlung erhält Jordan den Prix Poncelet der Académie des sciences (gestiftet von der Witwe Poncelets).

Als Erster hatte Joseph Liouville 1846 die Bedeutung der Galoisschen Abhand-lungen erkannt und Vorlesungen hierüber gehalten, an denen unter anderem Charles Hermite und Joseph Bertrand teilnahmen, die ihrerseits weitere Untersuchungen durchführten. Nach Jordans Veröffentlichung kommen etliche Mathematiker nach Paris, um im direkten Gespräch mit Jordan Anregungen für eigene Forschungen zu erhalten, darunter Sophus Lie und Felix Klein. Jordan setzt seine Untersuchungen über Gruppen auch in den nächsten Jahrzehnten fort; unter anderem beschäftigt er sich mit Matrizengruppen und deren Untergruppen (nach Jordan benannt ist die so genannte Jordansche Normalform von Matrizen).

\[ \begin{pmatrix} \lambda_1 & 1 & 0 & \dots & & & \\ 0 & \lambda_1 & 1 & 0 & \dots & & \\ 0 & 0 &\lambda_1 & 0 & \dots & & \\ 0 & 0 & 0& \lambda_2 & 1 & 0 & \dots \\ 0 & 0 & 0 & 0 & \lambda_2 & 0 & \dots \\ & & & & & \dots & \\ & & & & & \lambda_n & 1\\ & & & & & & \lambda_n \end{pmatrix}\]

Von 1873 an ist Jordan als Prüfer an der École Polytechnique tätig. 1876 folgt seine Berufung auf den Lehrstuhl für Analysis. 1881 wird er als Mitglied in die Académie des sciences gewählt.

Aus seinen Vorlesungen zur Analysis entwickelt er ein dreibändiges Werk, den »Cours d'Analyse de l'École Polytechnique«. 1887 erscheint die erste Auflage; weitere folgen 1887 und zwischen 1909 und 1915.

Das Anspruchsniveau dieser Bücher zur Analysis geht aber weit über das seiner Vorlesungen hinaus; diese richten sich an Ingenieurstudenten, für die weniger eine allgemeine und exakt begründete Theorie wichtig ist (wie sie in den drei Bänden vorhanden ist) als eine umfassende Darstellung der Anwendungen der Differenzial- und Integralrechnung. Auf diese Diskrepanz von Henri Lebesgue angesprochen, entschuldigt sich Jordan mit dem Hinweis, dass der Titel allein dazu diente, den Verleger zufrieden zu stellen. Vorlesungen, in denen die Theorie noch stärker betont wird, hält Jordan dann von 1883 an am Collège de France (als Nachfolger von Liouville).

Der dritte Band seines »Cours d'Analyse« enthält einen berühmten Satz, der heute nach ihm benannt ist. Der Satz erscheint auf den ersten Blick offensichtlich; Jordan zeigt aber die Notwendigkeit eines Beweises. Der von ihm dann entwickelte Beweis wird später von einigen Mathematikern kritisiert (unter anderem vom US-amerikanischen Mathematiker Oswald Veblen, der dann selbst eine Präzisierung vornimmt).

Jordanscher Kurvensatz

Jede geschlossene überschneidungsfreie Jordan-Kurve in der euklidischen Ebene zerlegt diese in zwei disjunkte Gebiete, deren gemeinsamer Rand die Jordan-Kurve ist und deren Vereinigung mit der Jordan-Kurve die ganze Ebene ist. Genau eines der beiden Gebiete ist beschränkt.

Dabei bezeichnet man einen Graphen als geschlossene Jordan-Kurve, wenn dessen Punkte durch eine stetige Parameterdarstellung beschrieben werden können und Anfangs- und Endpunkt übereinstimmen.

Beispiel: Die Parametrisierung der Kreislinie durch \(\varphi(t) = \left( \cos(t); \sin (t) \right)\) mit \( t \in [0, 2 \pi] \) und \(\varphi(0)= \varphi(2\pi) \) erfüllt diese Bedingung.

Auch fraktale Kurven können diese Bedingung erfüllen (vergleiche die ersten drei Beispiele, unten). Bei der aufgewickelten Schleife (rechts) ist dagegen kaum zu erkennen, welche der Punkte innerhalb und welche außerhalb liegen.

Unabhängig von Giuseppe Peano entwickelt er Kriterien zur Bestimmung eines Maßes von beliebigen Punktmengen in der Ebene und in höherdimensionalen Räumen. Er untersucht oszillierende Funktionsgraphen, indem er das Kriterium der »beschränkten Variation« einführt. In diesem Zusammenhang beweist er den Satz, dass nur Graphen mit beschränkter Variation »rektifizierbar« sind, das heißt eine endliche Bogenlänge besitzen. Beispielsweise sind die Graphen von \(f_0(x) = \sin \left(\frac{1}{x}\right) \) und \( f_1(x) = x \cdot \sin \left(\frac{1}{x}\right) \) (links und Mitte) auf dem Intervall \( ]0, \frac{2}{\pi}] \) von unbeschränkter Variation, dagegen ist der Graph von \( f_2(x) = x^2 \cdot \sin \left(\frac{1}{x}\right) \) (rechts) von beschränkter Variation.

Jordan werden zahlreiche Ehrungen zuteil: Bereits 1869 wird er zum korrespondie-renden Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften gewählt. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand (1912) wird er Präsident der Académie des sciences (1916), Foreign Member of the Royal Society (1919), Ehrenpräsident des Internationalen Mathematikerkongresses in Straßburg (1920). Nach dem Tod Liouvilles (1882) über-nimmt er die Herausgeberschaft der Zeitschrift »Journal de Mathématiques Pures et Appliquées« (auch als »Liouvilles Journal« bezeichnet).

Diese Ehrungen können Jordan nur wenig über die persönlichen Verluste hinweg-trösten: Drei seiner Söhne und ein Enkel sterben als Soldaten während des ersten Welt-kriegs. Camille Jordan stirbt 1922 an Herzversagen.

Eine Anekdote zum Schluss: Als man zu Beginn des Mathematikerkongresses im Jahr 1900 der seit der letzten Tagung verstorbenen Toten gedenkt, wird auch Camille Jordan genannt und der 7. November 1898 als sein Todestag angegeben. Darauf soll der anwesende Jordan aufgestanden sein und angemerkt haben, dass zumindest die Jahreszahl nicht stimmen könne.

Hinweis: Das so gennante Gauß-Jordan-Verfahren zur Lösung eines linearen Gleichungssystems ist nach Carl Friedrich Gauß und nach dem deutschen Geodäten Wilhelm Jordan benannt, und die so genannte Jordan-Algebra nach dem deutschen Quantenphysiker Pascual Jordan, die beide nicht mit Camille Jordan verwandt sind.

Camille Jordan

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