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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines versunkenen Kontinents namens Lemuria

Warum gab es auf Madagaskar so viele Lemurenarten, anderswo aber nur wenige? Weil, so fabulierte ein Gelehrter, einst ein Kontinent die Meere umspannte. Unsere Geschichtskolumne.
Statuen unter Wasser, die für ein Filmset platziert wurden.
Bezeugen diese Statuen unter Wasser eine vergangene Kultur? Das sollen sie zwar, aber nur für einen Film. Die Kulisse kann täuschen, ähnlich wie die Idee von einem Urkontinent, der angeblich ein Paradies für Menschen war.
Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« auf ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

»Zwischen Madagaskar und Indien muss in früheren Zeiten eine Landverbindung bestanden haben.« Davon war der britische Zoologe Philip Sclater fest überzeugt, als er diese These 1864 in einem Aufsatz verkündete. Die Landverbindung stellte sich Sclater als einen eigenen Kontinent zwischen Madagaskar und Indien vor. Und er benannte ihn nach ebenjener Spezies, die ihn überhaupt auf die Idee gebracht hatte: den Lemuren!

Damit war Lemuria geboren. Ein Kontinent, den es nie gegeben hatte und der schon bald für die Wissenschaft keine Rolle mehr spielte – für die Pseudowissenschaft aber umso mehr, wie die Historikerin Sumathi Ramaswamy von der Duke University in Durham in ihrem Buch »The Lost Land of Lemuria« berichtet.

Was hatte es nun mit den Lemuren auf sich? Philip Sclater (1829–1913), der nicht zuletzt auf Grund seiner Kategorisierung der Welt in sechs zoologische Regionen als angesehener Biologe galt, war bei seiner Arbeit nämlich Folgendes aufgefallen: Während es auf dem afrikanischen Festland nur elf oder zwölf Lemurenarten gab, waren es auf der Insel Madagaskar ganze 30. Sclater erklärte sich diese Diskrepanz damit, dass vor langer Zeit ein großer Kontinent Teile des Atlantischen und Indischen Ozeans bedeckt haben musste. Er ging von einer Landmasse aus, die sich von Amerika bis Indien erstreckt haben soll.

Tatsächlich war Sclater zu jener Zeit mit dieser Idee nicht allein. Der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913), der heute vor allem für seine Arbeit zur natürlichen Selektion bekannt ist, postulierte schon 1859, dass ein solcher Kontinent existiert haben musste. Für ihn war es eine Erklärung für die ungewöhnliche Fauna der indonesischen Insel Sulawesi. Und bereits der französische Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844) hatte die Vermutung aufgestellt, Madagaskar sei eigentlich Teil eines versunkenen Kontinents gewesen.

Sclaters Errungenschaft in dieser ganzen Geschichte lag also vor allem darin, dem Kontinent einen Namen gegeben zu haben. Das war ein nicht unwichtiger Beitrag, denn damit errang die Theorie eine gewisse Bedeutung – viel mehr noch: Sie wurde geradezu zukunftsträchtig. Davon zeugt, was als Nächstes passierte.

Viel Zuspruch für Lemuria

Die Theorie von Lemuria fiel im 19. Jahrhundert auf fruchtbaren Boden. Zahlreiche Gelehrte befassten sich damals mit der Geologie und Naturgeschichte Indiens und Afrikas. Daher befürworteten viele Wissenschaftler Sclaters Theorie. Nicht alle nannten den Kontinent Lemuria. Africano-Indischer Kontinent, Indo-Ozeanien oder Indo-Afrikanischer Kontinent sind einige der Namen, die sich Forscher dafür ausgedacht hatten.

Ob der Kontinent tatsächlich existierte, darüber herrschte natürlich keine Einigkeit – schließlich ging es um Wissenschaft, und die lebt davon, dass Theorien auf ihre Validität hin abgeklopft werden. Das tat schließlich auch der österreichische Forscher Eduard Suess (1831–1914). In seinem Werk »Das Antlitz der Erde« aus dem Jahr 1885 behauptete er, dass es einst einen Superkontinent Gondwana gegeben hatte, der zu einem großen Teil das Gebiet von Lemuria bedeckt haben soll. Suess' Theorie, die Jahrzehnte später bewiesen wurde, ersetzte in der Forschung schnell jene vom versunkenen Kontinent Lemuria. Nicht zuletzt, weil mittlerweile auch der oben erwähnte Wallace die Existenz von Lemuria in Frage stellte.

Für die Wissenschaft war die Sache gegessen, doch Lemuria lebte weiter.

Lemuria ist tot, lang lebe Lemuria!

Denn die Idee vom vermeintlichen Urkontinent war in der Welt und ließ sich nicht mehr einfangen. Wer sie nun wie aufgriff, darüber hatte keiner die Kontrolle. Und so nahm sich eine Frau des Konzepts an, die Russin Helena Blavatzky (1831–1891). In den 1850er Jahren reiste sie ausgiebig durch Europa und machte auch in Paris Halt, wo sie sich vor allem dem Mesmerismus, einer pseudowissenschaftlichen Methode, widmete.

Blavatzky, die sich selbst als Medium bezeichnete, landete schließlich im Juli 1873 in New York. Sie hatte nicht viel Geld, weil ihr Vater, der sie bisher auf ihren Reisen unterstützt hatte, mittlerweile gestorben war. Anfangs hielt sich Blavatzky mit spiritistischen Sitzungen über Wasser. Dann gründete sie den Miracle Club und widmete sich mehr und mehr der Esoterik. Daraus resultierte die Gründung der Theosophischen Gesellschaft im Jahr 1875. Wobei Theosophie als ein Sammelbegriff für diverse mystische, teils pantheistische Theorien zu verstehen ist. Tatsächlich kursierte der Begriff schon einige Jahrhunderte.

Blavatzkys Gesellschaft griff vor allem indische Religionen auf, was uns wieder zu Sclaters Lemuria bringt. Im Jahr 1888 veröffentlichte Blavatzky in einem Werk namens »The Secret Doctrine« ihr Konzept der so genannten Wurzelrassen. Eine zutiefst esoterische Idee mit pseudowissenschaftlichem Unterbau, die sich ganz famos dafür eignete, mit der bereits widerlegten These von Lemuria kombiniert zu werden. Blavatzky siedelte daher die dritte Wurzelrasse, die ihr als die Urahnen der Menschen galt, auf Lemuria an.

Ihr gesamtes Konzept war voll von Mythen und Symbolen, die in den darauf folgenden Jahrzehnten viel Platz für rassistische Ideologien boten, nicht zuletzt bei solchen Nationalsozialisten, die esoterischen Ideen anhingen – und derer gab es nicht wenige.

Noch ein Urkontinent, der dieses Mal Kumarikkantam hieß

Lemuria als Wiege der Menschheit – diese Idee überlebte ihre Schöpferin. Der US-Theosoph William Scott-Elliot (1849–1919) erweiterte das Konzept. In der Zwischenzeit hatte es aber auch in Indien Anklang gefunden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich im Süden des Landes die tamilische Renaissance, die der Theorie Lemurias als Wiege der Menschheit Auftrieb verschaffte.

In Verbindung mit indischen Mythen entwickelte sich daraus das Konzept von Kumarikkantam, einem ebenfalls versunkenen Kontinent. Dort hätten die ersten tamilischen Akademien existiert, die in sehr früher Zeit die tamilische Sprache und Kultur etabliert hätten. Da die Kultur der Tamilen in Indien nicht nur damals, sondern auch heute noch marginalisiert wird, ist die Idee von Kumarikkantam auch gegenwärtig von enormer Bedeutung für diese Menschen.

Und was blieb von Lemuria? Vor allem sehr viel Esoterik. In den einschlägigen Kreisen heißt es weiterhin, der Kontinent habe existiert. Es sei ein mythischer, gar paradiesischer Sehnsuchtsort. Ähnliche Vorstellungen finden sich in Fantasy- und Sciencefiction-Werken. Nicht zuletzt die Perry-Rhodan-Reihe widmete sich ausgiebig dem Kontinent, der nie existierte.

Damit zeigt Lemuria auch, wie wirkmächtig Ideen aus der Wissenschaft sein können, selbst wenn sie schon seit mehr als 100 Jahren widerlegt sind und heute nur noch ein Dasein im Fußnotenapparat fristen.

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