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Warkus' Welt: Ähnelt die Zukunft der Vergangenheit?

Der Großteil unseres Alltagswissens basiert darauf, dass die Dinge morgen so sein werden, wie sie gestern waren. Aber diese Annahme führt geradewegs in ein philosophisches Dilemma. Eine Kolumne.
Eine Glaskugel am Ostseestrand, in der sich Strand und Meer spiegeln
Was die Zukunft bringt, können wir bestenfalls erahnen. In aller Regel verlassen Menschen sich allerdings darauf, dass die Welt morgen in ihren Grundzügen nicht anders aussieht als gestern.

Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine hartnäckige, wiederkehrende Hautirritation mit Rötung und Juckreiz, immer an einer bestimmten Stelle Ihres Körpers, selbst bei bester Pflege. Der Hautarzt verschreibt Ihnen dafür eine Creme, die Sie immer dann anwenden sollen, wenn die Beschwerden auftreten. Und tatsächlich: Kaum ist das Zeug drauf, hören die Symptome jedes Mal auf. Sie gehen davon aus, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Creme und der Linderung Ihres punktuellen Hautproblems gibt. Es scheint eine Art Gesetzmäßigkeit zu sein, dass diese weiße, weiche Substanz in der Lage ist, Juckreiz und Rötungen zu lindern.

Nur: Woher wissen Sie das eigentlich? Es ist der Salbe an sich nicht anzumerken, dass sie diese Wirkung hat. Es gibt andere, exakt gleich aussehende Cremes – weich, weiß, geruchlos –, zum Beispiel einfache Feuchtigkeitscremes, die keinen Effekt auf die Hautirritation haben. Keine mit Ihren Sinnesorganen wahrnehmbare Eigenschaft zeichnet die wirksame Creme vor den anderen aus. Wenn man näher darüber nachdenkt, nutzen Sie die Creme nur aus einem einzigen Grund, wenn sich die Hautreizung wieder einstellt: weil sie Ihnen in der Vergangenheit schon ein paarmal gute Dienste erwiesen hat.

Aber mit welchem Recht ziehen Sie diesen Schluss? Es gibt im Grunde zwei Möglichkeiten. Entweder gehen Sie davon aus, dass es einen zwingenden gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen der Creme und der Wirkung gibt, die zum Beispiel auf der molekularen Zusammensetzung der Inhaltsstoffe der Creme beruht. Doch selbst wenn Sie davon ausgehen, dass es sich bei dem biologisch-medizinischen Wissen, das Sie für diesen Schluss in Stellung bringen müssen, um vollkommen zweifelsfrei gesicherte Naturgesetze handelt – woher nehmen Sie die Sicherheit, dass diese Regeln morgen genauso gelten wie gestern und in zehn Jahren? Es gibt schließlich genug auf der Welt, was sich ständig verändert. Warum ausgerechnet solche Zusammenhänge nicht? Außerdem kommt es durchaus (wenn auch selten) einmal vor, dass die Creme nicht wirkt, und wenn das passiert, verwerfen Sie dadurch auch nicht gleich Ihre Überzeugung, dass sie im Prinzip eine Wirkung hat.

Sie können aber auch akzeptieren, dass es keine zwingende Verbindung zwischen der Creme und der Wirkung gibt, sondern nur einen statistischen Zusammenhang. Der Satz »Die Creme vom Hautarzt lindert meine Hautreizung« spielt nicht in derselben Liga wie der Satz »Die Winkelsumme im ebenen Dreieck beträgt 180 Grad«, sondern eine Klasse tiefer: Es ist nicht notwendigerweise so, dass die Creme wirkt, allerdings sehr wahrscheinlich. Doch auch hier können wir fragen: Wo nehmen wir die Wahrscheinlichkeit her? Irgendwie müssen wir von dem Satz »In der Vergangenheit hat die Creme in den allermeisten Fällen gewirkt« zu dem Satz »Auch morgen wird die Creme höchstwahrscheinlich wirken« oder »In zehn Jahren wird die Creme höchstwahrscheinlich wirken« kommen können. Welche Regel erlaubt uns den Übergang vom einen zum anderen? Eindeutig so etwas wie »Die Zukunft wird so sein wie die Vergangenheit«.

Nur ist »Die Zukunft wird so sein wie die Vergangenheit« eine Behauptung, die ähnlich strukturiert ist wie »Die Creme wird morgen genauso wirken wie heute«. Dass sie wahr ist, lässt sich nicht beweisen, sondern nur statistisch belegen. Am Ende beißt sich die Katze in den Schwanz: Wir glauben daran, dass etwas morgen genauso funktionieren wird wie heute, weil wir davon ausgehen, dass die Zukunft der Vergangenheit ähnelt; und dass die Zukunft der Vergangenheit ähnelt, glauben wir, weil wir davon ausgehen, dass etwas morgen genauso funktionieren wird wie heute. Am Ende zeigt sich, dass quasi das gesamte Wissen, das wir zur Bewältigung unseres Alltags brauchen, überhaupt keine solide Grundlage hat. Wir haben uns daran gewöhnt, so zu handeln, als ob die Zukunft der Vergangenheit ähnelt, doch ein gesichertes Wissen darüber haben wir nicht.

Das eben gezeigte Argument ist untrennbar mit dem Namen des schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) verbunden, einem der einflussreichsten Denker der europäischen Aufklärung. Große Teile der modernen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie können als Auseinandersetzung mit ihm gesehen werden. Der von Hume selbst vorgeschlagene Ausweg, dass nämlich aus der Erfahrung gewonnene Regeln stets nur menschliche Verhaltensgewohnheiten sind, nie aber notwendig gültige Gesetze, kann bis heute überzeugen.

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