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Lexikon der Astronomie: Tunneleffekt

Dieser Effekt ist nur durch die Quantentheorie zu erklären und besitzt kein klassisches Analogon. Deshalb bereitet der Tunneleffekt – wie viele Aspekte der Quantenwelt – häufig Verständnisprobleme. Eines sei vorweggenommen: der Tunneleffekt hat nichts mit dem Tunnelblick zu tun.

Wellenfunktion und Aufenthaltswahrscheinlichkeit

In der quantentheoretischen Beschreibung stellt man Teilchen als Wellenfunktion dar. Die Lösungen der fundamentalen Schrödinger-Gleichung des Problems liefern die möglichen Energiezustände (oder Eigenfunktionen, repräsentiert durch die Wellenfunktionen) und die Energieeigenwerte (das Spektrum). Die Energie eines Quantensystems ist nicht kontinuierlich, sondern in diskreten Portionen, den Energiequanten, gepackt. Die Absolutquadrate der Wellenfunktionen sind von besonderer Relevanz, weil sie die Aufenthaltswahrscheinlichkeiten des beschriebenen Teilchens in einem Raumbereich angeben. Das typische Beispiel sind die Orbitalwolken des Wasserstoffproblems, die gerade die Aufenthaltswahrscheinlichkeit für Elektronen angeben.

Tunneln einer Welle durch einen Potentialwall

endliche Wahrscheinlichkeit an verbotenen Orten

Wenn man nun die Schrödinger-Gleichung für verschiedene Bereiche eines Potentials (beispielsweise einer Stufenfunktion, wo das Potential von null auf einen konstanten Wert springt) löst, stellt man fest dass die Wellenfunktion bzw. deren Absolutquadrat im klassisch verbotenen Bereich endlich werden kann!. Was bedeutet das anschaulich? Das Diagramm oben zeigt eine Wellenfunktion (rot) links von einem Potentialwall, die sich von links nach rechts ausbreiten möge. Die Koordinate r parametrisiert den Ort der Welle (hier: eindimensionales Problem). Ein vergleichbares, klassisches (unquantisiertes) Problem wäre beispielsweise eine von links einlaufende Wasserwelle, die auf ein Hindernis rechts, z.B. einen Deich, trifft. Der Potentialwall entspricht dem Deich. Klassisch ist klar: Wenn die Wasserwelle zuwenig kinetische Energie mitbringt, bleibt das Gebiet jenseits des Deichs trocken. Ein quantenmechanisches Teilchen jedoch schafft es über den Deich bzw. durch die Potentialstufe! Das Teilchen tunnelt durch die Barriere, wie Physiker sagen. Jenseits der Barriere kommt ein Teil der Wellenfunktion (grün) an. Es ist nur ein abgeschwächter Teil der ursprünglichen Amplitude der Welle, weil die Schrödinger-Gleichung in der Barriere eine exponentielle Dämpfung diktiert. Doch Fakt ist, dass die Aufenthaltswahrscheinlichkeit (= Absolutquadrat |Ψ|2) jenseits der Barriere größer als Null ist. Im Allgemeinen berechnen Quantenphysiker Transmissionswahrscheinlichkeiten und -koeffizienten, die es dem Teilchen erlauben, einen Potentialwall zu passieren. Dabei kommt umso weniger von der Welle auf der anderen, klassisch verbotenen Seite an, je dicker das Hindernis ist.
Weiterhin gibt es auch Reflexionskoeffizienten, weil ja der andere Teil der Welle am Hindernis reflektiert wird – so wie es uns klassisch vertraut ist: Die Wasserwelle prallt auf den Deich und läuft wieder zurück nach links. Die Überlagerung der einlaufenden (links nach rechts) und reflektierten Welle (rechts nach links) ergibt gerade die hier dargestellte, variierende Aufenthaltswahrscheinlichkeit. Dieses Interferenzmuster ist typisch für quantenmechanische Kastenprobleme (vergleiche auch Casimir-Effekt).

Beispiel 1: α-Zerfall

Das traditionelle Anwendungsbeispiel des Tunneleffekts ist der α-Zerfall. Die Alphateilchen dieser Form der Radioaktivität stammen aus dem Atomkern bestimmter Nuklide und sind nichts anderes als Heliumatomkerne (Verbund aus zwei Protonen und zwei Neutronen). Die Alphateilchen tunneln durch das klassisch unüberwindbare Coulombpotential und können so den Kern (der dann Alpha-Strahler heißt) verlassen.

Beispiel 2: Elektronenmikroskopie

Ein weiteres Beispiel, das sogar spektakuläre Anwendung gefunden hat ist das Rastertunnelelektronenmikroskop. Mit diesem Mikroskop, das die Beobachtung (bzw. besser gesagt Abtastung) einer Oberfläche nicht mit Lichtteilchen sondern mit Elektronen ermöglicht, kann man noch kleinere Strukturen abbilden, sogar Atome! Die Funktionsweise beruht darauf, dass eine haarfeine, positiv geladene Nadel (Anode) eine Materialoberfläche im Vakuum abtastet. Dabei können Elektronen, des Materials, die sich im klassisch verbotenen Bereich aufhalten (siehe oben: Aufenthaltswahrscheinlichkeit ungleich null) mit der positiv geladenen Elektrode abgesaugt werden: es fließt ein so genannter Tunnelstrom. Die Verstärkung und Visualisierung dieses Stroms offenbart dann kleinste Strukturen im Bereich von Nanometern (ein Milliardstel Meter), wie Molekülanordnungen und sogar einzelne Atome!

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  • Die Autoren
- Dr. Andreas Müller, München

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