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Metzler Lexikon Philosophie: Abbildtheorie

(1) Bezeichnung für unterschiedliche Theorien der Erkenntnis mit den gemeinsamen Grundannahmen (a) einer vom Bewusstsein unabhängigen, objektiv existierenden Wirklichkeit und (b) einer Bewusstseinsleistung des menschlichen Verstandes oder einer sprachlichen Darstellung, durch die die Wirklichkeit oder deren logische Form abgebildet wird. Hinsichtlich des Abbildungscharakters lassen sich positionale Unterscheidungen anführen: (a) Die naiv-realistische A. geht davon aus, dass im Bewusstsein die Abbilder der wirklichen Dinge, deren Eigenschaften und Beziehungen, erscheinen. Die griech. Atomisten Leukipp und Epikur fassen den Gedanken in eine Vorstellungstheorie, wonach die Gegenstände unsichtbare Bilder in Form von Atomgruppen aussenden, die über die Sinnesorgane aufgenommen und zu unmittelbaren Gegenständen der Wahrnehmung werden. – (b) Der Empirismus der Neuzeit ist von Bacons Forderung geprägt, der Verstand soll die Natur ausschließlich abbilden und keine wesenlosen Bilder (Idole) entwerfen. Die Erkenntnistheorie von Descartes beruht auf der stillschweigenden Annahme, dass Erkennen immer eine Art Abbilden bedeute: Bei der Wahrnehmungserkenntnis erzeugen vom Objekt ausgehende Reize mechanischer Natur im Sinnesorgan bestimmte quantitative Eindrücke, die dem körperlichen Normalsinn und der körperlichen Imagination übermittelt werden und von der rein geistigen Erkenntniskraft bewusst erfahren werden. Der Abbildungscharakter ist zu verstehen als eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Gestalt des wahrgenommenen Objekts und der Gestalt des Eindrucks im Sensorischen. Bei Locke findet die Abbildung in veränderter Form eine Entsprechung: Die physische Außenwelt wird im Geist durch verschiedene Arten von Ideen repräsentiert, deren Ursprung in der äußeren Wahrnehmung (sensation) und der inneren Wahrnehmung (reflection) liegen. Der Geist gleicht einem unbeschriebenem Blatt (tabula rasa), der über Sinnesdaten einfache Ideen (simple ideas) aufnimmt, die ihrerseits als exakte Abbilder der äußeren Wirklichkeit mit ihren verschiedenartigen Qualitäten anzusehen sind. In der Aufnahme einfacher Ideen wird der Geist als passiv-rezeptive Instanz aufgefasst, dem erst in der Verknüpfung der einfachen Ideen zu komplexen eine aktive Leistung zugesprochen wird. – (c) Der historisch-dialektische Materialismus (Lenin, Pawlow, Rubinstein) erweitert die bloß rezeptive Abbildung um den Handlungsaspekt: Die sozial determinierte psychische Tätigkeit des Gehirns führt zu einer historisch vermittelten, vorstellungsmäßigen Reproduktion der materiellen Objekte. Die Anforderungen der gesellschaftlichen Handlungspraxis bestimmen die Selektion der Abbilder. Die isomorphe Entsprechung von Abbildung und objektiver Realität wird als subjektive Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit im menschlichen Bewusstsein begriffen. – (d) In der analytischen Sprachphilosophie (Wittgenstein) wird die Abbildung i.S. einer Isomorphie von strukturellen Eigenschaften der Dinge bzw. Sachverhalte und der sprachlichen Abbildung verstanden. Die semantische Funktion der Sprache wird in ihrer Abbildungsfunktion gesehen, so dass durch den Aufbau einer exakten Sprache (Ideale Sprache) eine korrekte Abbildung der Wirklichkeit dem Anspruch nach gewährleistet wird, d.h. der Aufbau der Sprache soll den Aufbau der abgebildeten Tatsachen wiedergeben. – (e) Der Rationalismus (Herbart, Külpe, N. Hartmann) versteht die A. in dem Sinne, dass nicht die wirklichen Dinge selbst wahrgenommen werden, sondern nur ihre Abbilder dem Bewusstsein zugänglich sind. Auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit kann von den Abbildern her hypothetisch rückgeschlossen werden. – (2) Platons Ideenlehre, wonach die wirklichen Dinge als Abbilder der Ideen zu verstehen sind, stellt eine den realistischen Annahmen gegenläufige A. dar: In seiner frühen Ideenlehre sind die Sinnendinge Aggregate von Sachgehalten, die die Seele als bloße Abbilder von Ideen empfängt. Gegen die Undeutlichkeit der Sinneseindrücke, die Vermischung der Sachgehalte in den Dingen und die Unzuverlässigkeit unserer Sinnesorgane verhilft die Wiedererinnerung jener Ideen, d.h. der reinen unvermischten Urbilder zu einem Wissen von größter Deutlichkeit. Nur dadurch wird in der Seele auch Erkenntnis von Dingen als Verdeutlichung des Undeutlichen, als steigerungsfähige Deutlichkeit i.S. von Wahrheit möglich (Phaidon). – Seitens Kant wird an den A.n kritisiert, dass der Charakter von Erkenntnis solange unverstanden bleibt, als sie rückgebunden wird an ein wahres oder falsches Sinngebilde i.S. der Abbildung, und solange die Verstandesleistung nur in der Verdeutlichung undeutlicher Sinneseindrücke gesehen wird.

Literatur:

  • R. Descartes: Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Hg. H. Springmeyer/L. Gäbe/H. Zekl. Hamburg 1973
  • Ders.: Dioptrik. Hg. G. Leisegang. Meisenheim 1954
  • O. Külpe: Die Realisierung. Bd. I-III. Leipzig 1920–23
  • J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. I. Hamburg 1981
  • W. Röd: Descartes. München 21982
  • M. Sandkühler: Marxistische Erkenntnistheorie. Stuttgart 1973
  • M. Schlick: Allgemeine Erkenntnislehre. Frankfurt 1978
  • W. Windelband: Einleitung in die Philosophie. Tübingen 1914
  • L. Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Werkausgabe Bd. 1). Frankfurt 1984
  • D. Wittich/K. Gößler/K. Wagner: Marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie. Berlin 1978.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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