Lexikon der Psychologie: Experiment
Experiment, ist ein willkürlicher Eingriff in einen "natürlichen Ablauf", der planmäßig, kontrolliert und erwartungsgerichtet definierte Bedingungskonstellationen mit dem Ziel herbeiführt, die Folgen dieses Eingriffs möglichst umfassend zu beobachten. Ausgangspunkt ist eine zumindest vorläufige Annahme, Hypothese oder Theorie darüber, daß die betreffende Situation durch eine Abfolge von Ereignissen gekennzeichnet ist, wobei das eine – wir nennen es hier "X" – eine Voraussetzung, Bedingung oder Ursache des anderen, folgenden Ereignisses – wir nennen es "Y" – ist. Der wesentliche Unterschied zwischen der Beobachtung eines natürlichen Ablaufs und dem Experiment besteht in dem absichtlichen ("Willkürlichkeit"), planmäßigen Herbeiführen ("Variation der Bedingungen") des Ereignisses unter kontrollierten ("Kontrolle") und reduzierten Bedingungen ("Variablenisolation") zum Zwecke der möglichst vollständigen ("Variablenrepräsentativität"), genauen ("Zuverlässigkeit der Messung") und wiederholbaren ("Replikabilität") Beobachtung. Wird dieser Eingriff nicht tatsächlich, sondern nur in einer gedachten Situation modellhaft vorgenommen – z.B. bei mathematischen oder astrophysikalischen Überlegungen –, dann spricht man vom "Gedankenexperiment".
Die Ausgangsannahme der philosophischen Begründer der experimentellen Methodologie besteht darin, daß die natürlichen Ereignisabläufe (X = → Y), die wir verstehen wollen, und die künstlich geschaffenen Ereignisse (x = → y), die wir zum Zwecke der Beobachtung herbeigeführt haben, "nach dem gleichen Alphabet buchstabiert werden": Die im Experiment modellierte Realität folgt also nicht prinzipiell anderen Regeln als die Realität außerhalb des Experimentallabors.
In einem Experiment haben wir es also grundsätzlich mit zwei Klassen von Ereignisvariablen zu tun: Eine zeitlich erste, bereits vorhandene oder neu in die Situation eintretende variable Größe X wirkt auf eine andere Variable Y im Hinblick auf deren Auftreten oder Ausprägung. Der Untersucher strebt mittels des Experiments die Beantwortung seiner temporalen ("Folgt auf X immer Y?"), konditionalen ("Folgt Y nur, wenn X vorausgeht – ist X also Bedingung für Y?"), finalen ("Tritt X auf, damit Y folgt?") oder kausalen Frage ("Ist X die Ursache und Y deren Wirkung?") an. Gefragt wird also nach dem Erklärungsbeitrag, den X – als "explanans" – für das Auftreten von Y – das erklärungsbedürftige "explanandum" – leistet.
Dieses Paradigma einer Sequenz von X und Y, das ebenso für komplexe Variablengruppen, also keineswegs nur für den "monokausalen" Fall gilt, ist die Grundlage des klassischen Postulats "post hoc, ergo propter hoc". Dessen Kausalitätsimplikation – Y geschah nach X, also aufgrundvon X, daher ist X die Ursache von Y – hatte bereits A. Magnus (1193-1280) als unzulässig kritisiert, und sie veranlaßte D. Hume (1711-1776) zu einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der Unvollständigkeit des induktiven Schlusses. Während das empirische Datum gegeben ist – es tritt ein oder tritt nicht ein –, ist die Erklärung dieser Abfolge, z.B. im Sinne einer Ursachenzuschreibung, eine Leistung des Verstandes, die der Beobachter von Außen in die Situation hineinträgt; dabei kann er in vielfältiger Weise das Opfer eigener Vorannahmen werden – ein Rückgriff auf Bacons Idolenlehre und eine frühe Vorwegnahme eines Aspekts des sog. Rosenthal-Effekts.
In der experimentellen Methodologie – der Logik der experimentellen Methode – werden die beiden Variablenklassen als diejenige der unabhängigen (uV), der Wirk- oder auch Prädiktor-Variablen X, die andere als die durch sie veränderten abhängigen (aV), der Ziel- oder auch Kriteriums-Variablen Y bezeichnet. Der Experimentator geht aufgrund logischer Überlegungen, entsprechender Berichte oder Beobachtungen von einem Wirkgefüge aus – allgemein lautet die Annahme etwa: y = ƒ (x) oder: y ist eine durch die Hypothese näher definierte, vorläufig unbekannte Funktion von x. Zur Prüfung der Beziehung simuliert er die Wirklichkeit im Labor: Er provoziert das Ereignis x unter kontrollierten Bedingungen ("Variablenisolation", "Manipulation" und "Kontrolle" der uV) und beobachtet die Veränderung von y ("Messung" der aV).
Dabei macht der Experimentator einige grundlegende und notwendige Annahmen:
1) X geht Y regelmäßig voraus, X ist also eine notwendige und/oder eine hinreichende Bedingung für Y. Alle Aussagen über die Sequenz von X und Y sind – im Sinne der Hinweise von Hume und Kant–modellgebunden; dies gilt in analoger Weise für x und y: Der experimentelle Befund ist also nicht per se weniger "wahr" als die Beschreibung der nicht-experimentellen Realität.
2) Der Effekt der systematisch herbeigeführten Einwirkungen von x auf y wird "gemessen", d.h. mit einem geeigneten Meßmodell der quantitativen Erfassung zugänglich gemacht. Dabei gilt Heisenbergs sogenannte Unschärferelation: Messung ist ein theoriegeleiteter, modellabhängiger Eingriff in ein System, bei dem die empirische Präzisierung eines Untersuchungsaspekts nur um den Preis zunehmender Unschärfe anderer Variablen möglich ist – die Methode verändert den Gegenstand, beide sind nicht voneinander unabhängig.
3) Der empirische Zugriff erfolgt mit Hilfe operationaler Definitionen. Sowohl die experimentelle Realisation von X und Y durch x und y als auch deren Messung stellen also einen Eingriff dar; beide sind nicht berührungslos, sondern "invasiv", d.h. sie hinterlassen "Spuren" am Untersuchungsgegenstand. Zu fordern sind daher multimethodale Forschungsprogramme, die dem Prinzip konvergierender Operationen folgen: Ein und dieselbe Fragestellung wird mit Hilfe unterschiedlicher, theoretisch konvergierender experimenteller Studien analysiert, um Methodeneffekte und -artefakte zu kontrollieren .
4) Voraussetzung der logischen Stringenz des Rückschlusses von Y auf X, also von den Wirkungen auf deren Entstehungsbedingungen, ist die Einhaltung der sogenannten "ceteris paribus- Klausel": Danach wirken im Experiment nur die systematisch variierten Bedingungen von x auf y, alles übrige ist jedoch gleich ("ceteris paribus"). Beobachtete Effekte haben also weder prae-experimentell bereits bestanden noch sind sie auf andere, nicht kontrollierte Einflußgrößen zurückzuführen.
5) Aufgrund eines Vergleichs der unter den systematisch variierten Bedingungen von x resultierenden Ausprägungen von y schließt der Experimentator induktiv – vom besonderen empirischen Datum ausgehend – auf die allgemeine Regel für den Zusammenhang von X und Y. Die Unvollständigkeit des logischen Schlusses führt nur bei Falsifikation der Hypothese zu einer "wahren" Aussage – andernfalls hat sich die Forschungshypothese "bewährt" (Popper, 1994). Der positive Nachweis, die empirische "Verifikation" ist daher grundsätzlich ausgeschlossen – der Begriff vom "naturwissenschaftlichen Beweis" ist journalistische Folklore.
H.-P.M.
Literatur
Popper, K. R. (1994). Logik der Forschung (10., verb. u. vermehrte Aufl.). Tübingen: Mohr.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.