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Haber-Bosch-Prozess: Die Ammoniak-Herstellung braucht ein Update

Gäbe es kein industriell hergestelltes Ammoniak, würden heute keine acht Milliarden Menschen die Erde bewohnen, sondern deutlich weniger. Denn der Stoff dient als Grundlage für Kunstdünger. Doch der energieintensive Produktionsprozess braucht dringend ein Update.
Blick auf die Ammoniakanlage der BASF Ludwigshafen bei einbrechender Dunkelheit
In riesigen Anlagen wie hier bei der BASF in Ludwigshafen entstehen weltweit jedes Jahr zirka 180 Millionen Tonnen Ammoniak.

Es ist ein Prozess, der die Welt verändert hat: Das Haber-Bosch-Verfahren, Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt, krempelte die Nahrungsmittelproduktion grundlegend um. Denn es erlaubte es plötzlich, aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak (NH3) herzustellen – die Grundlage für Düngemittel. Nur so wurde es möglich, die rasant wachsende Weltbevölkerung zu ernähren.

»Dass Fritz Haber und Carl Bosch entdeckten, wie man Ammoniak künstlich erzeugen kann, löste eine echte Revolution aus. Dieser chemische Prozess war der erste, der in solch großem Umfang eingesetzt wurde«, erzählt Laura Torrente Murciano, Expertin für Reaktionstechnik und Katalyse an der University of Cambridge in Großbritannien. Schätzungen zufolge ernährt sich die Hälfte aller Menschen weltweit von Lebensmitteln, die mit Hilfe von Kunstdünger aus Ammoniak angebaut wurden.

Das mehr als 100 Jahre alte Verfahren hat sich seit seiner Entdeckung allerdings nicht wesentlich verändert – und das ist ein Problem. Nach wie vor lässt man Wasserstoff und Stickstoff an Eisen- oder Rutheniumkatalysatoren unter extremen Bedingungen miteinander reagieren: bei bis zu 600 Grad Celsius und einem Druck von mehr als 200 Bar.

Die Ammoniakherstellung ist extrem energieintensiv

In riesigen Reaktoren entstehen jährlich rund 180 Millionen Tonnen Ammoniak, was mehr als ein Prozent der gesamten weltweit erzeugten Energie benötigt. Darüber hinaus ist die Gewinnung von Ammoniak bislang untrennbar mit der Förderung fossiler Rohstoffe verknüpft, denn der benötigte Wasserstoff wird mittels Dampfreformierung aus Kohle oder Erdgas hergestellt. 450 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid setzt der Haber-Bosch-Prozess jedes Jahr frei.

Eine Erneuerung des Verfahrens ist also längst überfällig. Nach Ansicht vieler Fachleute könnte nachhaltig hergestelltes Ammoniak gleich zwei Aufgaben erfüllen: die schädlichen Umweltauswirkungen von Düngemitteln verringern und als neuer, sauberer Energieträger dienen.

Ammoniak und Methan | Ammoniak (links) und Methan (rechts) ähneln sich in ihrem molekularen Aufbau.

Wenn man sich das Molekül selbst ansieht, ähnelt es dem Methanmolekül, dem Hauptbestandteil von Erdgas: Ammoniak hat ein Stickstoffatom und drei Wasserstoffatome, Methan ein Kohlenstoff- und vier Wasserstoffatome. »Das bedeutet, dass die Moleküle Energie auf sehr ähnliche Weise speichern und freisetzen«, sagt Torrente Murciano. »Ich glaube daher, dass Ammoniak eine Schlüsselrolle bei der Dekarbonisierung der Gesellschaft spielen wird, weil es sich auf ähnliche Weise verwenden lässt wie heute Methan.«

Zu grünem Ammoniak in zwei Schritten

Wahrscheinlich wird es zwei Schritte brauchen, um die Ammoniakproduktion umzustellen. Zunächst wird vermutlich klimaneutral hergestellter Wasserstoff als Rohstoff dienen, während die Anlagen mit erneuerbarem Strom beheizt werden statt wie bislang mit Erdgas. In fernerer Zukunft könnten dann neue Verfahren zum Einsatz kommen, die auf einer völlig anderen Chemie beruhen.

»Man muss den Prozess komplett neu aufsetzen und optimieren«Laura Torrente Murciano, Expertin für Reaktionstechnik und Katalyse

Bestehende Prozesse mit »grünem« Wasserstoff zu betreiben ist deutlich komplizierter, als es klingt. Denn die derzeitigen Haber-Bosch-Anlagen sind vollständig auf die Dampfreformierung – die bisherige Prozedur zur Wasserstoffherstellung – abgestimmt. Das Verfahren »ist darauf ausgelegt, dass fossile Rohstoffe gleichzeitig als Ausgangsmaterial für den Wasserstoff und als Energiequelle für den gesamten Prozess dienen. Bei der Herstellung von grünem Ammoniak fällt diese gesamte Integration weg«, erklärt Torrente Murciano das Problem. »Wenn man Wasserstoff anders produziert, muss man sich Gedanken darüber machen, wie man die Kompressoren im Ammoniakkreislauf betreibt, wie man die Reaktoren heizt, wie man die Systeme anschaltet und dergleichen mehr. Man muss den Prozess komplett neu aufsetzen und optimieren.«

Die sehr hohen Drücke im Verfahren sorgen dafür, dass möglichst große Mengen an Wasserstoff und Stickstoff in einem einzigen Durchgang zu Ammoniak umgesetzt werden und nicht wieder zurück in den Reaktor geführt werden müssen. In den derzeitigen Anlagen basieren die dazu verwendeten Kompressionssysteme auf Dampf. Wenn das Verfahren jedoch auf grünem Wasserstoff basieren soll, wäre es sinnvoll, wesentlich energieeffizientere elektrische Kompressoren einzusetzen.

Grünen Wasserstoff mit Strom aus erneuerbaren Quellen zu erzeugen ist noch aus anderen Gründen schwierig. Ein großes Problem stellt sich etwa dann, wenn die Energieversorgung zwischenzeitlich unterbrochen wird. Denn die riesigen Haber-Bosch-Anlagen sind auf einen kontinuierlichen Betrieb ausgelegt und laufen 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Um die Reaktoren zu speisen, muss Wasserstoff folglich laufend zur Verfügung stehen.

Das ließe sich durch den Aufbau eines Wasserstoffpuffers lösen – eines großen Wasserstoffspeichers, der aufgestockt wird, sobald die Sonne scheint oder der Wind weht, und auf den die Ammoniakanlage immer zurückgreifen kann. Das wäre allerdings sehr teuer und könnte lediglich kurzfristige Energieschwankungen ausgleichen.

Flexible Ammoniakreaktoren wären eine Revolution

»Die andere Lösung wären neue Technologien zur Ammoniakherstellung, bei denen man die Produktion herunter- und wieder hochfahren kann, je nachdem, ob die Sonne scheint oder nicht«, sagt Torrente Murciano. »Dazu müsste die chemische Industrie enorm umdenken. Aber wenn uns das gelingt, wäre das eine Revolution.«

Die Forscherin aus Cambridge und ihre Kollegen haben kürzlich ein System präsentiert, in dem Ammoniak durch Absorption aus dem Verfahren abgetrennt wird statt wie bislang durch Kondensation. Es arbeitet bei einem Druck von nur 30 Bar, und das Ammoniak wird in einem einzigen Behälter produziert und separiert. Dadurch ist der Prozess wesentlich flexibler.

»Dabei ist wichtig, dass es sich um eine stark exotherme Reaktion handelt. Deshalb stellt das Wärmemanagement eine Herausforderung dar – insbesondere, wenn man das System dynamisch betreibt«, wenn man es also bei Bedarf an- und wieder abschaltet, fügt die Wissenschaftlerin hinzu. Allerdings gibt sie zu bedenken, dass die Grundvoraussetzungen für Ammoniakanlagen künftig ganz anders sein werden als heute: Da erneuerbare Energien dezentral gefördert würden, müsse die Industrie sich darauf einstellen, auch Ammoniak an mehreren verteilten Standorten herzustellen. Zukünftige Anlagen müssten folglich womöglich viel kleiner sein als die derzeitigen. Bei kleineren Anlagen ließe sich die Wärmeentwicklung in einem dynamischen Betrieb wiederum leichter handhaben als in einer großen Fabrik.

Die Aufgabe: Die stabilste Bindung der Welt spalten

Viele Fachleute versuchen gleichzeitig, Ammoniak auf völlig neuen Wegen herzustellen. Doch es gibt einen Grund, warum weltweit immer noch das jahrhundertealte Haber-Bosch-Verfahren angewandt wird: Stickstoff, der fast 80 Prozent der uns umgebenden Luft ausmacht, ist ein außergewöhnlich stabiles Molekül. Seine Stickstoff-Stickstoff-Dreifachbindung ist die stärkste in der Chemie bekannte Bindung zwischen zwei gleichen Atomen. Sie zu spalten ist keine leichte Aufgabe.

In der Natur erledigt das die Familie der Nitrogenase-Enzyme. Es gibt drei Hauptklassen von Nitrogenasen, von denen alle einen Kern aus Eisen- und Schwefelatomen besitzen; manche enthalten zusätzlich Molybdän oder Vanadium. Nitrogenasen finden sich in Mikroben, die Stickstoff in bioverfügbares Ammoniak umwandeln. Welche Bedeutung das kleine Enzym für das Leben auf der Erde hat, verdeutlicht Douglas MacFarlane, der an der Monash University im australischen Melbourne elektrochemische Verfahren zur Ammoniakherstellung entwickelt: Sämtlicher Stickstoff, den Pflanzen und Tieren enthalten, gehe auf dieses Enzym zurück, erläutert er. »Vermutlich wären die Pflanzen in der Evolution nicht sehr weit gekommen, wenn es das Enzym nicht gäbe.«

Daher lassen sich viele Forscher und Forscherinnen von der Vorgehensweise der Natur inspirieren. Serena DeBeer untersucht dazu in ihrem Labor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion in Mülheim an der Ruhr die Aktivität der Nitrogenase-Enzyme anhand verschiedener Röntgen- und Spektroskopietechniken. Für jemanden aus der Katalyseforschung ähnelten die aktiven Zentren der Nitrogenasen potenziellen Katalysatoren bereits sehr, sagt sie. »Es besteht demnach ein großes Interesse daran, zu verstehen, wie genau die zusätzlich vorhandenen Metalle die Reaktivität steuern und wie sie eine andere Art von Reaktivität ermöglichen.«

Nitrogenase-Kofaktor | Nitrogenasen besitzen kompliziert aufgebaute Kofaktoren mit verschiedenen Metallzentren.

Doch selbst mit diesem Wissen zeigt sich noch nicht das ganze Bild. Denn Nitrogenasen sind große, mehrteilige Proteinsysteme, welche die Abgabe von Elektronen und Protonen steuern. »Wir versuchen also jeden einzelnen Schritt zu verstehen: Wohin wandern die Elektronen, wohin die Protonen? Und wie unterscheidet sich das bei den verschiedenen Formen des Enzyms?«, erläutert die Forscherin. Die unterschiedlichen Varianten zeigen nämlich drastisch unterschiedliche Reaktivität und besitzen sogar verschiedene katalytische Zentren. Am Beispiel des Nitrogenase-Enzyms könnten Chemiker noch einiges von der Biologie lernen, schätzt DeBeer.

Wie Nitrogenasen Ammoniak herstellen, ist noch nicht ganz klar

Obwohl die Aktivität von Nitrogenasen schon seit Jahrzehnten erforscht wird, ist noch immer nicht vollständig klar, wie genau sie Ammoniak herstellen. Denn das Enzym selbst ist bereits außerordentlich kompliziert. Jeder Schritt der Strukturaufklärung sei eine kristallografische und spektroskopische Herausforderung gewesen, berichtet DeBeer und erklärt, warum: »Zum einen lässt sich mit dem Protein nur schwer arbeiten. Zum anderen ist der Kofaktor höchst kompliziert aufgebaut.« Der Kofaktor besitzt sieben Eisen- und ein Molybdänatom, die sich wiederum gegenseitig beeinflussen und auf komplizierte Weise miteinander verknüpft sind. »Einen komplexeren Kofaktor gibt es in der Biologie nicht«, findet die Chemikerin. Und selbst theoretische Wissenschaftler tun sich schwer, die Nitrogenase zu verstehen. So kann die Dichtefunktionaltheorie, mit der Fachleute von der Elektronendichte auf die Struktur eines Moleküls schließen, die komplizierte Natur des Enzyms nicht vollständig beschreiben.

Auch wenn die Wirkungsweise der Nitrogenase noch mit vielen Fragezeichen versehen ist, bietet das Enzym immerhin Anhaltspunkte, wie alternative Wege zu Ammoniak aussehen könnten. Ausschlaggebend für die Aktivität des Enzyms ist die Art und Weise, wie es zunächst das Distickstoffmolekül (N2) an sich bindet und dann kontrolliert Elektronen und Protonen an die richtigen Stellen verteilt. Das verhindert, dass sich nur die Protonen miteinander verbinden und an Stelle von Ammoniak lediglich Wasserstoff entsteht. Auch im Labor ist es eine der größten Herausforderung bei der Ammoniakherstellung, die konkurrierende Wasserstoffentwicklung zu unterdrücken – ganz gleich, mit welchem Ansatz man arbeitet.

Im Jahr 2003 stellten Dmitry Yandulov und Richard Schrock die erste homogen katalysierte Stickstoffreduktion vor. Für ihren Katalysator, einen Molybdänkomplex, ließen sie sich teilweise von dem Eisen-Molybdän-Kofaktor inspirieren, der in einigen Nitrogenasen vorkommt. Weitere Molybdänkatalysatoren, wie die von Yoshiaki Nishibayashi an der Universität Tokio in Japan, reduzieren Stickstoff mittlerweile mit ähnlichen Geschwindigkeiten wie die Nitrogenasen selbst.

»Wir glauben, dass es möglich wird, Ammoniaksynthesereaktionen mit erneuerbarer Energie zu entwickeln«Yoshiaki Nishibayashi, Katalyseforscher

Von der Natur inspirierte Katalysatoren nutzen Licht als Energiequelle

Als sich die Hinweise häuften, dass die Eisenatome der Nitrogenase für die Bindung von Stickstoffmolekülen wichtig sein könnten, entwickelte die Gruppe von Jonas Peters am California Institute of Technology die ersten Katalysatoren auf Eisenbasis, die Stickstoff in Ammoniak umwandeln können. Nishibayashis Forschungsgruppe erschuf ebenfalls Eisenkatalysatoren. Auch Katalysatoren auf Grundlage anderer Metalle entstanden, aber bisher funktionieren ausschließlich die Molybdänkatalysatoren bei Raumtemperatur, während die anderen nur bei sehr niedrigen Temperaturen arbeiten.

Unabhängig voneinander haben die Gruppen von Peters und Nishibayashi Ende 2022 zwei Katalysesysteme entwickelt, die einander ziemlich gleichen. Die Reaktion startet dabei durch sichtbares Licht – ein entscheidender Vorteil gegenüber dem Haber-Bosch-Prozess, wie Nishibayashi erklärt: Gängige Reaktionsprozesse würden durch die Energie der Reaktanten angetrieben, beim Haber-Bosch-Verfahren stamme sie beispielsweise aus dem Wasserstoffgas. Die Ammoniaksynthese mit sichtbarem Licht bezieht ihre Energie hingegen aus einer externen Quelle. »Wir glauben, dass es dadurch möglich wird, Ammoniaksynthesereaktionen mit erneuerbarer Energie zu entwickeln«, sagt der Forscher.

Molybdänkatalysatorsysteme | Mit Kombinationen aus einem Molybdänkomplex (links) und einem Photoredoxkatalysator auf Iridiumbasis (rechts) setzten die Forschungsgruppen um Peters und Nishibayashi Stickstoff zu Ammoniak um. Sie nutzten dazu unterschiedliche Vehikel zur Übertragung von Wasserstoff (nicht gezeigt).

Die Systeme der Gruppen um Peters und Nishibayashi nutzen als Katalysator für die Stickstoffreduktion einen Molybdänkomplex und kombinieren ihn mit einem iridiumhaltigen Photoredoxkatalysator. Die Arbeiten unterscheiden sich hauptsächlich in der Wahl der Protonenquellen, also der Moleküle, die Wasserstoffionen abgeben. Auf lange Sicht will Nishibayashi diesen Aspekt noch entscheidend verbessern: Seine Vision ist eine Ammoniaksynthese, welche ihre Energie aus sichtbarem Licht und die Protonen aus Wasser bezieht.

Die Stickstoffreduktion mit Strom steht noch am Anfang

Einer der vielversprechendsten Wege zur künstlichen Stickstoffreduktion ist die Elektrokatalyse. Zu dem Zweck haben Forschungsgruppen sogar schon Nitrogenasen mit Elektroden kombiniert. Solche Systeme stehen jedoch am Anfang ihrer Entwicklung und laufen derzeit noch langsam, sind instabil und nicht besonders effizient.

Auf viele verschiedene Arten versuchen Gruppen weltweit, Stickstoff mit Hilfe von elektrischem Strom zu reduzieren. Die Ergebnisse in diesem aufstrebenden Forschungsfeld sind allerdings schwierig zu reproduzieren. Eines der Hauptprobleme: Wenn ein Katalysator nur schwach wirkt, lässt sich kaum feststellen, ob das wenige erzeugte Ammoniak tatsächlich von der Elektrokatalyse stammt oder vielmehr von Spuren stickstoffhaltiger Verunreinigungen, die in der Luft und in Lösungsmitteln vorhanden sind.

»Es ist ein echtes Problem, nachzuweisen, dass jemand auf diesem Gebiet etwas besonders Beeindruckendes geleistet hat«, sagt Douglas MacFarlane. »Ausbeute und Wirkungsgrad sind nämlich so niedrig, dass es durchaus möglich ist, dass jegliches Ammoniak von Verunreinigungen stammt.«

»Es ist ein echtes Problem, nachzuweisen, dass jemand auf diesem Gebiet etwas besonders Beeindruckendes geleistet hat«Douglas MacFarlane, Chemiker

Die bislang einzige elektrokatalytische Methode, die Stickstoff nachgewiesenermaßen reduziert, stammt aus der Gruppe des Elektrochemikers Ifan Stephens vom Imperial College London in Großbritannien. Sie spaltet die Stickstoff-Stickstoff-Bindung an einer mit metallischem Lithium beschichteten Elektrode. Der Elektrolyt besteht dabei meist aus einem organischen Lösungsmittel, das ein Lithiumsalz sowie einen Protonenüberträger wie etwa Ethanol enthält. Der Schlüssel zum Erfolg ist laut Stephens, sicherzustellen, dass Elektronen und Protonen in der Reaktionsmischung nicht frei zugänglich sind. Nur dann werde Stickstoff reduziert, ohne dass sich stattdessen Protonen mit Elektronen verbinden und Wasserstoff bilden. Er vermutet, dass sein System genau deshalb so erfolgreich ist.

Olivia Westhead, die mit Stephens am Imperial College zusammenarbeitet, sieht noch einen langen Weg vor sich. »Das Forschungsfeld hat riesige Fortschritte gemacht, aber wir müssen es noch viel grundlegender verstehen und so weit verbessern, dass es in großem Maßstab umsetzbar und damit für die Industrie relevant wird.«

Viele Faktoren beeinflussen den Erfolg der Elektrokatalyse

Wie sie anmerkt, kann die Konzentration von Salzen, Ethanol und Wasser im Elektrolyten die Effizienz des durch Lithium vermittelten Stickstoffreduktionssystems drastisch verändern. Für die Industrie sei es schwierig, wenn ein Prozess von so vielen Faktoren abhängt. Aus diesem Grund will Westhead ihre Reaktionen gewissermaßen widerstandsfähiger machen, so dass kleine Veränderungen das Ergebnis nicht mehr so stark beeinflussen.

Im Vergleich zu frühen lithiumvermittelten Stickstoffreduktionen laufen die heutigen Ansätze weitaus effizienter und stabiler. Als wichtig für die Leistung von Lithiumsystemen hat sich eine Zwischenschicht aus festem Elektrolyten (solid electrolyte interphase, SEI) entpuppt. Sie bildet sich während des Betriebs auf der Oberfläche der negativen Elektroden und stabilisiert das Elektrodenpotenzial. Außerdem sorgt sie dafür, dass an der Elektrodenoberfläche weniger Protonen ankommen, und verhindert damit die Wasserstoffentwicklung.

Es gibt verschiedene Ansätze, das Potenzial der elektrochemischen Zelle konstant zu halten. »In unserer Gruppe haben wir festgestellt, dass sich das negative Elektrodenpotenzial stabilisiert, wenn man die Salzkonzentration erhöht. Der Grund ist, dass man dadurch die SEI verbessert – man macht sie anorganischer und stabiler«, sagt Westhead.

Getreidespeicher | Rund die Hälfte der Menschen ernähren sich Schätzungen zufolge von Lebensmitteln, die mit Hilfe von Kunstdünger auf Ammoniakbasis erzeugt wurden.

Andere Forschungsgruppen haben alternative Lösungen gefunden. »Fachleute an der Technischen Universität Dänemark haben herausgefunden, dass die Zugabe von etwas Sauerstoff die SEI-Schicht ebenfalls stabilisiert, so dass man sie lange Zeit betreiben kann«, fügt sie hinzu. Außerdem habe das Team ein Vorgehen mit gepulstem Strom entwickelt – der Strom fließt dabei nicht kontinuierlich in die Zelle, sondern schubweise. Auch dadurch bleibt das Elektrodenpotenzial viel länger erhalten.

Die Wahl des Salzes ist entscheidend

Am drastischsten verbesserten sich die Ergebnisse, nachdem man andere Protonenüberträger und Elektrolytsalze verwendete. Douglas MacFarlanes Gruppe nutzte 2021 etwa Phosphoniumsalze als molekulare Shuttles. Diese Überträger halfen zum einen dabei, die Protonen kontrolliert weiterzugeben, zum anderen erhöhten sie die ionische Leitfähigkeit des Systems. Ein weiterer wichtiger Punkt: Die Phosphoniumsalze werden dabei nicht verbraucht, sondern können Protonen aufnehmen und wieder abgeben.

Dass die Salze ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, hat die Forschung an Lithium-Ionen-Batterien gezeigt. Trotzdem sei bisher nur eine kleine Anzahl von Salzen bei der Ammoniakreduktion getestet worden, erzählt MacFarlane. Sein Team wollte insbesondere herausfinden, ob mehr Ammoniak produziert wird, wenn man fluorierte Lithiumsalze auf Basis von Imiden verwendet.

»Es ist bekannt, dass derartige Salze in etherischen Lösungsmitteln sehr viel besser löslich sind, in unserem Fall in Tetrahydrofuran. Dadurch konnten wir eine Reihe von Konzentrationen erforschen, die wesentlich höher lagen als bei gängigen Arbeiten«, erzählt MacFarlane. Salzkonzentrationen lagen bis dahin typischerweise bei unter einem Mol pro Liter, manchmal gar nur bei 0,1 oder 0,2 Mol pro Liter. Seine Gruppe arbeitete plötzlich mit bis zu vier Mol pro Liter.

Industrielle Prozesse rücken in greifbare Nähe

Mit diesem deutlich konzentrierteren Elektrolyten waren die Zellen schlagartig vielfach leitfähiger, die Stromdichte lag deutlich höher. Das wiederum steigerte die Aktivität der Zelle, und Strom wurde mit fast 100 Prozent Effizienz in Ammoniak umgesetzt.

Damit rückten Kennzahlen, wie sie die Industrie vorgibt, auf einmal in greifbare Nähe. Das US-amerikanische Energieministerium hat als Ziele für einen elektrochemischen Ammoniakherstellungsprozess festgelegt, dass solche Prozesse einen Wirkungsgrad von mehr als 90 Prozent erreichen und etwa ein Mikromol pro Quadratzentimeter und Sekunde erzeugen sollen. »Wir erreichten mehrere hundert Nanomol und mehr, kommen also in die Gegend«, bemerkt MacFarlane.

»Plötzlich kann das Konzept Düngemittelversorgung direkt auf dem Bauernhof umgesetzt werden«Douglas MacFarlane, Monash University, Melbourne

Auf der Grundlage dieser Entwicklungen hat der Forscher das Unternehmen Jupiter Ionics gegründet, um einen Ammoniak produzierenden Elektrolyseur auf den Markt zu bringen. Seine Vision sind kleine Apparate, die sich in einem Gewächshaus betreiben lassen und genug Dünger für einzelne Standorte produzieren. Die neuen Ansätze zur Ammoniakproduktion wären vor allem in solchen Gegenden hilfreich, die ihre Dünger derzeit komplett von weit entfernten Anlagen beziehen und sich daher auf lange globale Lieferketten verlassen müssen, die anfällig für Krisen sind.

»Plötzlich ist das Konzept Düngemittelversorgung direkt auf dem Bauernhof umsetzbar, und deshalb können unsere ersten Geräte recht klein sein«, sagt MacFarlane. Es bestehe großes Interesse an diesem Konzept; verstärkt werde es durch den Ukraine-Krieg, durch Lieferengpässe und die Preissteigerungen bei Gas und Öl.

Für viele Entwicklungsländer ist eine dezentrale Düngemittelproduktion möglicherweise eine große Chance. In einer Analyse zeigte Laura Torrente Murciano 2021, wie Sierra Leone über einen Zeitraum von 30 Jahren zirka 230 Millionen US-Dollar (rund 210 Millionen Euro) einsparen könnte, wenn es grünes Ammoniak mit Strom aus lokaler Wasserkraft herstellen würde, statt Dünger oder Lebensmittel zu importieren. Ihrer Meinung nach böten sich für zahlreiche weitere Länder südlich der Sahara ähnliche Vorteile.

»Viele Länder in Afrika haben keinen Zugang zu Düngemitteln«, berichtet Torrente Murciano. Daher betrieben sie sehr viel Aufwand für die Nahrungsmittelproduktion – ihre gesamte Wirtschaft konzentriere sich auf die Landwirtschaft, allein um die Bevölkerung zu ernähren. »Wir glauben, dass das die tatsächliche Entwicklung des Landes behindert«, sagt die Forscherin und vergleicht die Lage mit der vor Jahrzehnten in Europa: »Man kann erst dann anfangen, Arbeitsplätze in stärker industrialisierte Bereiche zu verlagern, wenn man die Gewissheit hat, dass man seine Bevölkerung ernähren kann. Wir sind daher der Meinung, dass Landwirtschaft und Lebensmittel die Grundlage für jede entwickelte Gesellschaft bilden.«

Nutzung genehmigt von der Royal Society of Chemistry aus »Chemistry World«

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  • Quellen

Anderson, J. S. et al.: Catalytic conversion of nitrogen to ammonia by an iron model complex. Nature 501, 2013

Ashida, Y. et al.: Molybdenum-catalysed ammonia production with samarium diiodide and alcohols or water. Nature 568, 2019

Ashida, Y. et al.: Catalytic nitrogen fixation using visible light energy. Nature Communications 13, 2022

Johansen, C. M. et al.: Catalytic transfer hydrogenation of N2 to NH3 via a photoredox catalysis strategy. Science Advances 8, 2022

Yandulov, D. V und Schrock, R. R.: Catalytic Reduction of Dinitrogen to Ammonia at a Single Molybdenum Center. Science 301, 2003

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