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Archäogenetik: Kein Neolithikum im Mundraum

Vor rund 9000 Jahren zogen die ersten Bauern von Anatolien nach Europa. Sie brachten Ackerbau und Viehzucht, neue Mikroben für die Mundflora aber überraschend wenige. Das Mikrobiom änderte sich erst sehr viel später.
Menschliche Kieferteile vom mesolithischen Fundplatz Vlasac in Serbien aus der Zeit von 6750 bis 6450 v. Chr.

Archäogenetiker haben im Zahnstein alter Gebisse die Mikroben identifiziert, die einst den Mundraum von Menschen vor bis zu 15 000 Jahren bevölkerten. Claudio Ottoni von der Universität La Sapienza in Rom und sein Team wollten so einem bedeutenden Moment der Menschheitsgeschichte auf den Zahn fühlen: Wie veränderte sich die Mundflora der Menschen, als die ersten Bauern von Anatolien nach Europa wanderten, beginnend vor zirka 9000 Jahren, und dort auf Jäger und Sammler trafen? Beide Gruppen ernährten sich unterschiedlich. Wie die Arbeitsgruppe im Fachblatt »PNAS« darlegt, brachten die Bauern aber überraschenderweise kaum neue Bakterien mit. Das Mundmikrobiom der angestammten Bevölkerung Europas, der Wildbeuter, wandelte sich zwar anschließend, aber nur sehr allmählich näherte es sich der neolithischen Zusammensetzung an.

Für ihre Studie analysierten die Genetiker den Zahnstein an 44 menschlichen Überresten vom Balkan und aus Italien. Die Fundorte liegen entlang der beiden hauptsächlichen Wanderrouten der frühen Bauern. Ein Teil von ihnen kam vor zirka 8000 bis 9000 Jahren über Griechenland und den Balkan nach Europa, der andere stieß vor 7500 bis 8000 Jahren entlang der Meeresküsten über Italien und die Iberische Halbinsel vor. Die Skelette stammen aus einem Zeitraum, der mehr als 10 000 Jahre umspannt und von der jüngeren Altsteinzeit bis ins Mittelalter reicht.

Zwei Bakterienarten fielen der Forschergruppe bei ihren DNA-Analysen auf: die Art Olsenella und ein Bakterium aus der Familie der Anaerolineaceae. Erstere Art nistete zwar auch in der Mundhöhle von Wildbeutern, aber in geringerer Menge als bei den Neolithikern. Für das zweite Bakterium konnten Ottoni und seine Kollegen einzelne Abstammungslinien geografisch und zeitlich unterscheiden. Mit den Bauern breitete sich etwa deren Anaerolineaceae-Mikrobe aus und ersetzte die Variante der europäischen Jäger und Sammler. Wie das Bakterium im Mund arbeitet, ist noch unbekannt, doch womöglich sorgt es eher für Erkrankungen. Darüber hinaus, so schreiben Ottoni und Co, war das Mundmikrobiom der Wildbeutergruppen untereinander diverser als bei den Neolithikern.

Verglichen mit heute war die Mundflora vorgeschichtlicher Menschen aber überraschend ähnlich, trotz des unterschiedlichen Ernährungsstils. Deutliche Veränderungen ereigneten sich sehr viel später mit der industriellen Revolution. Insbesondere Antibiotika wandelten laut den Forschern seit den 1940er Jahren das Mikrobiom in der Mundhöhle. Womöglich gehen die Veränderungen auch auf antibiotikaresistente Keime zurück.

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