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Basiseinheiten: Als Fundament der Physik reicht die Zeit

Wie viele Einheiten braucht man, um die Welt zu vermessen? Ein brasilianisches Forschungsteam hält sogar Meter und Kilogramm für verzichtbar. Im relativistischen Universum genüge eine Einheit: die Sekunde.
Ein futuristisches, blau leuchtendes Interface-Design mit einem zentralen, kreisförmigen Element, das an ein Uhr- oder Zifferblatt erinnert. Ein heller Lichtstrahl strahlt von der Mitte des Kreises aus und verbindet sich mit einem darunter liegenden, ebenfalls kreisförmigen, digitalen Muster.
Das Ticken von – extrem präzisen – Uhren gibt, geschickt verrechnet, auch Antworten zu Längen, Massen, dem Universum und dem ganzen Rest.

Wenn Sie über das Wetter oder über Kochrezepte sprechen, verwenden Sie als Einheit für die Temperatur vermutlich Grad Celsius. Falls Sie wissenschaftlich arbeiten, ist Ihnen vielleicht die Einheit Kelvin lieber. Jedenfalls kämen Sie kaum auf die Idee, eine Temperatur mittels Kilogramm, Meter und Sekunde anzugeben. Das wäre aber möglich. Im Alltag benutzen wir die meisten physikalischen Einheiten, weil sie praktisch sind – doch grundsätzlich ist diese Vielfalt nicht nötig. Statt etwa die Temperatur in Kelvin oder die Stromstärke in Ampere zu messen, lassen sich die Werte ebenso durch passende Kombinationen aus Kilogramm, Meter und Sekunde ausdrücken sowie durch ein paar Naturkonstanten. Im Fall der Temperatur braucht man dafür die so genannte Boltzmann-Konstante. Das wäre nicht falsch, bloß unhandlicher.

Das Internationale Einheitensystem (kurz SI) legt sieben praktische Basiseinheiten für Zeit, Länge, Masse, Stromstärke, Temperatur, Stoffmenge und Lichtstärke fest. Physikalisch betrachtet reichen sogar Kilogramm, Meter und Sekunde aus, um alle Phänomene dieser Welt zu beschreiben. Aber braucht man wirklich drei? Oder lassen sich beispielsweise Länge und Masse auch in einer anderen Einheit messen? Genau das behauptet nun ein Forschungsteam: Allein die Sekunde reiche aus. In ihrer Veröffentlichung führen die Wissenschaftler um den theoretischen Physiker George Matsas von der brasilianischen Universidade de São Paulo aus, dass man für jedwede Beobachtung lediglich hochgenaue Uhren beziehungsweise den Zeitstandard benötigt. Zumindest solange man sich in einer relativistischen Raumzeit befindet. Das entspricht gerade unserem Universum, so wie Albert Einstein es beschrieben hat.

Die Debatte darüber, wie viele fundamentale Konstanten wirklich nötig sind, ist mehrere Jahrzehnte alt. Dabei gehen die Meinungen auseinander: Es könnten die üblichen drei genügen, möglicherweise aber auch zwei oder weniger, führten drei Physiker im Jahr 2002 aus. Zehn Jahre zuvor hatten sie die Debatte bei einer Begegnung in der für anregende Gespräche berühmten Cafeteria des Forschungszentrums CERN begonnen und seither nicht beenden können.

Matsas und seine Kollegen nahmen sich der Frage erneut an. Sie argumentieren: Die Antwort hängt zwar tatsächlich von den betrachteten Umständen ab, konkret von der Art, wie Raum und Zeit zusammenspielen. Aus der Perspektive von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, bei der Raum und Zeit untrennbar zur so genannten Raumzeit verflochten sind, genügen allerdings hochpräzise Uhren und damit die Sekunde.

Die Einheit der Masse lässt sich relativ problemlos beseitigen. Dabei verweisen die Forscher in ihrer Publikation auf den schottischen Physiker James Maxwell, der bereits im Jahr 1878 feststellte: »Die Einheit der Masse leitet sich von den Einheiten der Zeit und Länge ab, verbunden mit der Tatsache der universellen Gravitation.« Das heißt, Masse lässt sich bestimmen, indem man die Beschleunigung misst (Meter pro Quadratsekunde), die sie in einem gewissen Abstand mittels Schwerkraft ausübt. Diese Erkenntnis bildete als »Äquivalenzprinzip« – träge und schwere Masse sind ununterscheidbar – eine Grundlage für Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.

Die Welt sucht die Supereinheit

Warum aber sollte auch die Längeneinheit verzichtbar sein? Das liegt laut den vier Physikern gerade an der Relativitätstheorie. In ihrer Publikation betrachten sie eine vereinfachte Form der Raumzeit ohne Massen, den Minkowski-Raum, unterstreichen aber, dass sich ihre Ergebnisse verallgemeinern lassen. Sie formulieren eine Strategie, durch die sich hier jede Länge mittels dreier hochpräziser Uhren ermitteln lässt. Die Idee zu diesem Messprotokoll, so berichtet Matsas, habe der Physiker William Unruh (nach dem ein seltsamer relativistischer Effekt benannt ist) entwickelt und ihm bei einer privaten Unterhaltung dargelegt.

Dazu startet ein Beobachter O1 an einem Ort eine Stoppuhr C1 und sendet sie zu einem zweiten Beobachter O2 an einem anderen Ort. Sobald sie dort ankommt, liest O2 die Zeit ab und startet seinerseits eine Uhr C2, die er zu O1 schickt. Dort angekommen, notiert der erste Beobachter wiederum die Zeit. Schließlich folgt ein Abgleich mit der Anzeige einer dritten Uhr C3, die sich stets bei O1 befand. Insgesamt liefert das drei Zeitintervalle. Geschicktes Verrechnen ergibt den räumlichen Abstand zwischen O1 und O2, ganz ohne Meter, nur mit Sekunden.

Dieses Vorgehen definiert also eine Länge, die nur von den Zeitmessungen abhängt. Auch der Wert der Lichtgeschwindigkeit spiele keine Rolle, wie die Autoren betonen, sondern ergebe sich vielmehr aus dieser neuen Längendefinition. Bloß wenn die Verhältnisse nichtrelativistisch sind, etwa bei kleinen Geschwindigkeiten, entspricht die Summe der beiden mit C1 und C2 gemessenen Zeiten gerade dem Zeitintervall bei C3. Dann verschwindet die damit berechnete Länge, und es braucht eine separate Einheit – eben Meter zusätzlich zur Sekunde. Dann sind wir wieder bei dem klassischen, schon von Maxwell konstatierten Fall.

Sollten wir uns also mit einer außerirdischen Zivilisation auf einen einzigen Standard einigen müssen, um sämtliche physikalischen Messungen und Konstanten miteinander abzugleichen, ist die Sekunde dafür am vielversprechendsten. Immerhin wäre jeder Austausch über Lichtjahre hinweg garantiert relativistisch. Die Sekunde wiederum, wie sie heute auf der Erde als SI-Basiseinheit festgelegt ist, wird über einen bestimmten quantenmechanischen Übergang in Cäsium-Atomen definiert. Deswegen gibt es noch eine Voraussetzung, damit alles so funktioniert: dass es sich beim Wert dieses Quantenvorgangs um eine Konstante handelt. Wenn wir uns aber dahingehend mit den Aliens abstimmen können, dann ist der Rest nur noch eine Frage von viel Rechnerei und Kommunikation. Jedenfalls im Prinzip. Allerdings hätte wohl niemand im Universum etwas dagegen, doch noch ein paar weitere Einheiten hinzuzunehmen, um den interstellaren Austausch von Kochrezepten ein wenig praktischer zu gestalten.

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  • Quellen
Matsas, G. E. A. et al.: The number of fundamental constants from a spacetime-based perspective. Scientific Reports 14, 2024

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