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Psycholinguistik: Der tägliche Kampf mit der Grammatik

Etwa sieben Prozent aller Kinder scheitern am korrekten Satzbau oder der Wortbildung. Auch wenn die Therapie der spezifischen Sprachentwicklungsstörung Fortschritte macht, steht die Forschung noch ganz am Anfang. Jetzt fanden Forscher heraus: Möglicherweise ist bei manchen nur das Grammatikmodul betroffen.
Aktivitätsverteilung
Ihr IQ liegt im Durchschnitt, das Gehör ist normal entwickelt und auch sonst wären sie völlig unauffällig – wäre da nicht ihr tagtägliches Scheitern im Kampf um den richtigen Satz: Weltweit zeigt sich bei sechs bis acht Prozent der Kinder eine so genannte spezifische Sprachentwicklungsstörung.

Sie sagen Sätze wie "Wen hat Hans jemanden gesehen?" statt "Wen hat Hans gesehen?" und "Wir hinten spiele?" ohne "Dürfen wir ...". Manche haben vornehmlich Probleme mit der Lautbildung oder sind permanent auf der Suche nach dem richtigen Wort. In der Schule werden dann meist Mängel in der Satzbildung offenbar. Warum bei ihnen Teile der Sprachfähigkeit den Dienst versagen, während ihre Entwicklung ansonsten normal verläuft, ist umstritten. Immerhin gelingt es Ärzten inzwischen, die möglicherweise genetisch bedingte Störung zuverlässig zu diagnostizieren.

Nur mühsam kaschierte Probleme

"In den letzten zehn Jahren hat auch die Therapie erhebliche Fortschritte gemacht", meint Stephanie Riehemann, die an der Universität Köln an der Entwicklung solcher Therapiekonzepte beteiligt ist. Doch wer nicht gezielt gefördert werde, müsse ein Leben lang mit Einschränkungen leben. Meist könnten Betroffene dann zwar ihre Grammatikprobleme mit Kompensationsstrategien kaschieren; unter bestimmten Umständen – etwa beim Schreiben – würden aber auch diese versagen. Allgemein zeigt sich, dass die sprachliche Entwicklung solcher Kinder der ihrer Altersgenossen um Monate oder Jahre hinterherhinkt.

ELAN im EEG | Die Abbildung zeigt die Hirnstromkurven für Kinder mit Sprachentwicklungsstörung (G-SLI) und gesunde Kontrollgruppen. Im grau markierten Bereich müsste sich im Normalfall bei ungrammatischen Sätzen (rote Kurve) ein stärkerer Ausschlag ins Negative als bei grammatischen (schwarze Kurve) zeigen. Bei der Gruppe der Betroffenen bleibt dies jedoch aus. Negativität wird traditionell nach oben dargestellt.
Obwohl ein nicht geringer Bevölkerungsanteil betroffen ist und die genauen Hintergründe noch immer unklar sind, ist nur eine Handvoll Forscher derzeit mit reiner Grundlagenforschung beschäftigt. Ihnen erlaubt das moderne Instrumentarium der Psycholinguistik zunehmend einen Blick auf die Wurzel des Problems. Zwar ist die menschliche Sprachverarbeitung erst in Ansätzen verstanden, doch Studien wie die von Heather van der Lely und ihrer Kollegin vom University College London geben bereits Hinweise darauf, an welchen Stellen genau das System aus der Bahn geworfen wird.

Denn ob ein Sprecher bei dem Satz "Wen hat Hans jemanden gesehen" über das unerwartete Wörtchen "jemanden" stutzt, können Forscher als Ausschlag im EEG sichtbar machen. Mehr noch: Ort und Zeitpunkt dieser ereigniskorrelierten Potenziale geben darüber Auskunft, ob das System einen grammatischen oder inhaltlichen Fehler entdeckt hat.

Kein EEG-Stolpern der Grammatik

Schon rund 100 Millisekunden nach dem unerwarteten Wort verrät der ELAN (Early left anterior negativity) genannte Ausschlag, dass das Gehirn auf einen Syntaxfehler reagiert. Van der Lelys Deutung zufolge, ist hier die Komponente "Satzbau und Grammatik" angesprungen.

Ist ein Testsatz zwar grammatikalisch korrekt, aber inhaltlich ungewöhnlich ("Barbie backt Leute in der Küche"), komme hingegen die Komponente mit dem Ressort "Semantik" zum Zuge, ablesbar am Ausschlag N400 mit 400 Millisekunden Verzögerung.

Bei ihren 10 bis 21 Jahre alten Probanden, deren Störung die Forscher der hypothetischen Subgruppe G-SLI (grammatical specific language impairment), also einer rein "grammatischen" Sprachentwicklungsstörung, zuordneten, unterblieb jedoch das charakteristische Stolpern über einen Syntaxfehler komplett. Ihre Probanden hätten also im Prinzip einen mehr oder weniger starken Ausfall ihrer Grammatikkomponente zu verkraften.

Für viele Forscher ist allerdings noch keineswegs klar, ob das Sprachverarbeitungssystem tatsächlich so einfach in Komponenten für Phonetik, Grammatik, Wortschatz unterteilt werden kann, geschweige denn, dass diese einzeln Schaden nehmen könnten. Einer weit verbreiteten Hypothese zufolge müsse die Ursache daher eher in unspezifischen Einschränkungen liegen, wie beispielsweise einer zu langsamen Verarbeitungsgeschwindigkeit in wichtigen Bereichen des Gehirns.

Je nachdem, wie weit ihre Sprachkompetenz entwickelt sei, hätten die Kinder dementsprechend mit unterschiedlichen Problemen zu kämpfen: Den Schwierigkeiten in der Lautbildung im Kleinkindalter folgt ein zu dünner Wortschatz und schließlich der Kampf mit der Grammatik.

Nutzen für die Therapie?

Van der Lelys EEG-Befunde legen jedoch nahe, dass manche der Betroffenen unter einer reinen Grammatikschwäche leiden. Die Sprachkomponenten im Gehirn würden sich unabhängig voneinander entwickeln und könnten dabei gezielt in Mitleidenschaft gezogen werden. So war das Korrektursignal für inhaltliche Fehler bei den Probanden nicht nur völlig normal, es trat auch – anders als bei der gesunden Vergleichsgruppe – bei eigentlich rein strukturellen Fehlern auf den Plan. "Offenbar kompensierten diese Menschen den Ausfall des Grammatiksystems zumindest teilweise mit ihrem semantischen Wissen", meint van der Lely.

Therapeuten sollten sich daher auf die Förderung dieser semantischen Kompensationsstrategien verlegen, glaubt die Forscherin. Auch andere Konsequenzen für die Therapie könnten sich ziehen lassen: Wenn Sprachentwicklungsstörungen tatsächlich in einzelne Untergruppen einteilen lassen, wie van der Lely meint, könnte deren Behandlung wesentlich zielgerichteter ansetzen.

Auch die Kölner Forscherin Riehemann hält es nicht für ausgeschlossen, dass solche Subgruppen existieren. Ob sich allerdings daraus ein Nutzen für die Praxis ziehen lasse, sei schwer zu sagen. "Wir halten es für den viel versprechenderen Weg, das individuelle Störungsbild zu beachten. Jeder Betroffene hat da seine ganz eigenen Symptome."

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