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Ernährung: Fleisch aus der Retorte

Die großindustrielle Fleischproduktion ist mitverantwortlich für Klimawandel und Artensterben. Doch es gibt Alternativen dazu. Können Proteine aus dem Bioreaktor dabei helfen, eine nachhaltige Lebensweise zu erreichen?
Fleisch aus dem 3-D-Drucker
Neue Verfahren erlauben es, aus tierischen Stammzellen sowohl Muskel- als auch Fettgewebe zu züchten und daraus Fleischersatzprodukte herzustellen. Der Vorteil: Geschmack und Inhaltsstoffe sind dem Original sehr ähnlich, ohne dass dafür Tiere leiden und sterben müssen.

Für Thibault Godard liegt die Zukunft des Essens im Untergrund. Dort, wo Pilze ihr feines, wurzelähnliches Geflecht aus Zellfäden ausbreiten, um Nährstoffe aufzunehmen und organische Stoffe abzubauen, soll eine neue Generation nachhaltiger Lebensmittel heranwachsen. Der promovierte Biotechnologe ist Mitbegründer und Forschungsleiter des Hamburger Start-ups Mushlabs. Das junge Unternehmen kultiviert eiweiß- und ballaststoffreiches Pilzmyzel in Bioreaktoren, um damit langfristig tierische Produkte zu ersetzen. Die Vision: eine gesunde und schmackhafte Proteinversorgung ohne die katastrophalen Auswirkungen der heutigen Fleischindustrie auf Umwelt und Tierwohl.

Damit folgt die Firma einem Trend, der zuletzt stark an Fahrt aufgenommen hat, nämlich der Herstellung von Fleischersatzprodukten (siehe »Spektrum« Januar 2023, S. 44). Die Branche hat sich in den zurückliegenden zehn Jahren rasant weiterentwickelt. Es geht längst nicht mehr nur um Sojawürste oder Hafermilch, sondern um völlig neue Konzepte, die eine umfassende Transformation des Ernährungssystems anstoßen sollen. Da werden Steaks in der Petrischale gezüchtet und Bakterien dazu gebracht, proteinreiches Pulver zu erzeugen. Und auch wenn es noch etliche Hürden zu überwinden gilt: Die Bereitschaft vieler Menschen, Neues auszuprobieren, scheint vorhanden. Laut einer 2022 veröffentlichten Studie des Good Food Institute Europe ist Deutschland mit 1,9 Milliarden Euro jährlich der mit Abstand größte Markt für alternativ hergestellte Nahrungsproteine in Europa. 41 Prozent der Deutschen geben an, dass sie mindestens einmal im Monat pflanzenbasierte Fleischalternativen essen, ein Viertel der Befragten möchte das in Zukunft noch öfter tun.

Fleischlose Proteinquellen müssen künftig eine wachsende Rolle spielen, wenn ein weltweiter Kollaps von Ökosystemen verhindert werden soll. Nach aktuellen Vorhersagen der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung bis Mitte des Jahrhunderts die Zehn-Milliarden-Marke erreichen, damit könnte sich der Fleischkonsum im Vergleich zum Jahr 2008 verdoppeln. Mehr Fleisch und Milch bedeuten aber auch mehr Rinder, Schweine und Hühner – und damit noch mehr Flächenverbrauch, noch mehr Emissionen, noch mehr Bedarf an Trinkwasser und noch mehr Antibiotikaresistenzen.

Drei mögliche Auswege

Schon heute nehmen Tierhaltung und entsprechender Futteranbau mehr als drei Viertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche des Planeten in Anspruch und tragen maßgeblich zur Zerstörung von Lebensräumen, zum Artensterben und zum Klimawandel bei. Hinzu kommen hoher Wasserverbrauch nebst globaler Gewässerverschmutzung, Überdüngung, Masseneinsatz von Antibiotika und Milliarden Tiere, die unter artfremden Haltungsbedingungen leiden. Kein Wunder, dass bei Herstellern und Verbrauchern der Ruf nach Alternativen immer lauter wird.

Im Wesentlichen gibt es derzeit drei Lösungsansätze:

  1. Pflanzlicher Fleischersatz: Der direkte Verzehr von pflanzlichen Proteinen (etwa aus Erbsen, Soja oder Hafer) ohne den Umweg über das Nutztier bietet eine gute Lösung für Umwelt und Tierwohl. Allerdings lässt sich bislang nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung für eine rein vegetarische oder vegane Lebensweise begeistern.
  2. In-vitro-Fleisch: Mit neuen Verfahren der Zellkultur lässt sich im Labor aus tierischen Stammzellen sowohl Muskel- als auch Fettgewebe züchten. Der Vorteil: Geschmack und Inhaltsstoffe ähneln dem Original, ohne dass dafür Tiere leiden und sterben müssen. Allerdings stecken die Kulturverfahren noch in den Kinderschuhen, sind kostspielig und benötigen viel Energie.
  3. Fermentation: Der Prozess wird seit Jahrhunderten zur Herstellung von Sauerkraut oder Bier verwendet und bezeichnet die Umwandlung organischer Stoffe mit Hilfe von Mikroorganismen. So können Proteine, die man für die Herstellung von Fleischersatzprodukten braucht, beispielsweise von Bakterien, Pilzen oder Algen produziert werden. Werden solche Mikroben gezielt kultiviert oder auch genetisch modifiziert, spricht man von Präzisionsfermentation. Die Herausforderung besteht darin, die eiweißreichen Rohstoffe anschließend in schmackhafte Lebensmittel zu verwandeln.

Mushlabs setzt auf den dritten Weg. Das Start-up arbeitet bislang mit rund 30 verschiedenen Speisepilzarten – welche das genau sind, ist ein Betriebsgeheimnis. »Uns geht es nicht darum, Fleisch nachzuahmen. Wir wollen die vielfältigen natürlichen Aromen der Pilze nutzen«, sagt Godard. »Je nach Pilzspezies und den verwendeten Nährsubstraten entstehen verschiedene Geschmacksrichtungen und Konsistenzen.« Damit lassen sich völlig neue Produkte schaffen, aber auch der typische Hähnchen- oder Rindfleischgeschmack imitieren. Das Angebot reicht von Pilzburgern und -hackbällchen bis zu ganzen Menüs auf Pilzbasis. Pilze enthalten nicht nur Proteine und Fette, sondern auch Ballaststoffe – ein Nahrungsanteil, der nach Einschätzung von Godard in der gesellschaftlichen Diskussion oft vernachlässigt wird.

Effektive Müllverwertung

In der Natur bauen Pilze organische Reste wie Laub oder totes Holz ab, um zu wachsen. Durch seine langjährige Tätigkeit in der Lebensmittelindustrie weiß Godard, dass in vielen Produktionsprozessen große Mengen nährstoffreicher, organischer Reste anfallen. Dazu gehören Wein- und Obsttrester, Malz- und Hopfentreber aus dem Brauwesen, Zuckermelasse oder Rückstände aus der Kaffee-, Tee- und Kakaoverarbeitung. Allein in Deutschland sind das rund 1,6 Millionen Tonnen im Jahr. Warum sollte man solche Reststoffe nicht für die Pilzzucht nutzen?

Proteine aus Pilzmyzel | Thibault Godard, Biotechnologe und Mitgründer des Start-ups Mushlabs, setzt auf die Fermentation, um mit Hilfe von Pilzen neue Proteinquellen zu erschließen.

Das Pilzgeflecht wächst bei Mushlabs – ähnlich wie die Hefen in einer Brauerei – nicht auf trockenem Substrat, sondern in flüssigem Nährmedium, welches in Glaskolben oder Edelstahltanks durch Schütteln oder Rühren ständig durchmischt wird. So erreicht Mushlabs nach eigener Aussage ein 10- bis 20-mal schnelleres Wachstum als bei der klassischen Pilzzucht auf Erde, Holz oder Stroh. Weitere Vorteile des Verfahrens sind der geringe Platzbedarf dank vertikal ausgerichteter Tanks, die Möglichkeit zur dezentralen Produktion in kleinen Anlagen sowie die relativ einfache Qualitätskontrolle. Weil Pilze alle Stoffe aus ihrer direkten Umgebung aufnehmen, lassen sich im Fermenter diverse Zusätze wie etwa B-Vitamine gezielt in den Herstellungsprozess einbinden.

Burger ohne Tierleid

Während man bei Mushlabs auf die Experimentierfreudigkeit der Konsumenten setzt, verspricht der Zellkulturansatz »echtes Fleisch« aus dem Bioreaktor. Die Technik hat sich aus der medizinischen Forschung herausentwickelt. Dort wurde die Zucht von menschlichen oder tierischen Zellen vorangetrieben, um Gewebe für Transplantationen zu erhalten oder Tierversuche zu vermeiden. Dabei entnimmt man einem Tier unter Betäubung eine etwa pfefferkorngroße Gewebeprobe. Die daraus isolierten Stammzellen werden anschließend in einem flüssigen Nährmedium kultiviert, damit sie sich vermehren und zu Muskel- beziehungsweise Fettgewebezellen differenzieren. Die lassen sich anschließend zu größeren Strukturen zusammensetzen.

Eine der größten Herausforderungen dabei liegt in der Zusammensetzung des Nährmediums. Es ist nicht nur teuer, sondern muss auch so genannte Wachstumsfaktoren enthalten, die bis vor Kurzem aus dem Blut ungeborener Kälber stammten. Inzwischen gibt es Wachstumsfaktoren aus tierfreier Quelle (etwa aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen oder Pflanzen), die mit steigenden Produktionsmengen zudem immer kostengünstiger werden. So hat das Team um Mark Post, Mitbegründer und leitender Wissenschaftler bei der niederländischen Firma Mosa Meat, ein synthetisches Nährmedium entwickelt und das Verfahren im Januar 2022 veröffentlicht. Im Mai 2023 eröffnete Mosa Meat eine Produktionsstätte in Maastricht, wo sich nach Aussage des Unternehmens jährlich zehntausende zellkultivierte Burger mit tierfreiem Nährmedium herstellen lassen.

Künstliches Fleisch | Mark Post, Professor für Gefäßphysiologie und Gründer des niederländischen Unternehmens Mosa Meat, präsentiert im August 2013 den weltweit ersten im Labor gezüchteten Burger.

Fischfang war gestern

Nicht nur Hühnchen, Rind, Schwein & Co. kann man inzwischen im Labor erzeugen, auch das Muskelfleisch von Fischen lässt sich im Bioreaktor züchten. Der Meeresbiologe Sebastian Rakers hat jahrelang am Fraunhofer-Institut in Lübeck geforscht, um Fischzellkulturen zu etablieren. Inzwischen ist es seinem Team gelungen, Stammzellen aus dem Muskelfleisch von Forelle, Lachs und Karpfen so zu verändern, dass sie sich ständig weiter vermehren und große Zellmengen hervorbringen. Das ermöglicht alternative Produkte, für die kein Fisch mehr gefangen oder gezüchtet werden muss.

Daraus ist die Firma BLUU Seafood entstanden, die aktuell in Hamburg eine Pilotanlage errichtet. »Ab Ende des Jahres 2024 wollen wir dort jährlich mehrere hundert Kilo Fisch aus der Zellkultur herstellen und die Produktion weiter ausbauen«, sagt Marketingchef Hans-Georg Höllerer. Die Firma plant, innerhalb der nächsten Jahre erste Erzeugnisse wie Fischstäbchen und -bällchen auf den Markt zu bringen. »Das werden erst einmal Hybridprodukte aus Fisch und pflanzlichen Proteinen sein«, erklärt Höllerer.

»Ab Ende 2024 wollen wir mehrere hundert Kilo zellkultivierten Fisch pro Jahr herstellen und die Produktion weiter ausbauen«Hans-Georg Höllerer, Marketingchef von BLUU Seafood

Viele, die schon Fleisch oder Fisch aus dem Bioreaktor probieren durften, zeigen sich mehr vom Geschmack als von der Konsistenz beeindruckt. Denn die Zellmasse, die im Nährmedium entsteht, ist weitgehend homogen: Ihr fehlen Struktur und Festigkeit. Auch deswegen kombinieren die Hersteller die kultivierten Fleischzellen mit Soja-, Weizen- oder Erbsenprotein. Die tierischen Bestandteile liefern den Geschmack und die pflanzlichen Komponenten die faserige Konsistenz.

Hühnchenfreies Hühnchen

Dass sich etliche Produkte der Marktreife nähern, zeigen erste Zulassungen in anderen Ländern. In Singapur bieten einige Restaurants bereits seit 2020 kultiviertes Hühnerfleisch aus der Petrischale an. Und seit Ende Juni 2023 dürfen die Firmen Upside Foods und Good Meat ihr im Bioreaktor erzeugtes Hühnerfleischerzeugnis in den USA verkaufen.

Um die im Labor gezüchteten Muskel- und Fettzellen näher an das Original zu bringen, gibt es unterschiedliche Ansätze. Manchmal werden die Zellen schon im Kulturgefäß auf eine Struktur aus pflanzlichen Proteinen aufgebracht, manchmal erst später mit diesen zu Mischprodukten zusammengebaut. Oder man versucht, den Zellen mit Hilfe von Hydrogelen eine Konsistenz zu verleihen, die sich per 3-D-Drucker in die gewünschte Form bringen lässt.

Eine Forschungsgruppe aus Südkorea hat kürzlich vorgeschlagen, sich all den Aufwand ganz zu sparen. Stattdessen solle man auf »Cell Powder Meat« (CPM) setzen, also die proteinreiche Zellmasse zu einem Pulver verarbeiten. CPM punktet mit einfacherer und deutlich günstigerer Herstellung, hohem Proteingehalt und überzeugendem Fleischgeschmack. So wie man heute Mehl und Salz in der Küche einsetzt, ließe sich CPM zu den verschiedensten Produkten verarbeiten, zudem leicht lagern und transportieren. Als Ausgangsmaterial für das Pulver dienen minimalinvasiv gewonnene Muskel-, Fett- und Knochenzellen von Rind, Schwein oder Huhn, die in Kultur vermehrt werden. Der Geschmack des daraus erzeugten Produkts lässt sich leicht variieren. Nach Ansicht der südkoreanischen Fachleute wird das Fleischpulver die Basis für die Massenproduktion von Kulturfleisch werden.

Nahrhaftes Bakterienmehl

Die finnische Firma Solar-Foods wirbt damit, »Nahrung aus Luft« zu erschaffen. Das 2017 gegründete Unternehmen nutzt Bodenbakterien, um proteinreiches Solein-Pulver herzustellen. Die Mikroben sind genetisch unverändert und werden hauptsächlich mit Wasserstoff und Kohlenstoffdioxid gefüttert, das aus der Luft gezogen wird. Die dazu nötigen Anlagen laufen mit Solarstrom. Zusätzlich enthält das Nährmedium in den Fermentern Stickstoff, Phosphor, Kalzium und andere Stoffe. Die darin hergestellte Bakterienmasse kann als Solein abgeschöpft werden. Getrocknet sieht es aus wie Kurkumapulver (die Mikroben produzieren unter anderem Karotinoide) und lässt sich ähnlich wie Mehl verarbeiten. Nach Angaben des Unternehmens besteht es zu 65 bis 70 Prozent aus Proteinen, zu 5 bis 8 Prozent aus Fetten (hauptsächlich ungesättigten), zu 10 bis 15 Prozent aus Ballaststoffen und zu 3 bis 5 Prozent aus Mineralstoffen.

Ende Mai 2023 fand in Singapur die erste öffentliche Verkostung von Solein statt. Einer der daran beteiligten Köche beschrieb den Geschmack als »nussig, buttrig und cremig« und konnte sich vorstellen, es als Ersatz für Ei, Milch oder Butter zu verwenden. Daneben wurden Fleischbällchen, Burger, Pfannkuchen und Schoko-Eiscreme auf Solein-Basis getestet. Der Fantasie der Köche waren kaum Grenzen gesetzt.

»Tektonische Verschiebungen finden an unseren Esstischen statt. Die Zukunft der Ernährung ist da und findet in diesem Moment statt«Pasi Vainikka, Geschäftsführer von Solar-Foods

Bislang ist das Proteinpulver nur in Singapur zugelassen, aber das soll sich bald ändern. Solar-Foods baut in Vantaa, im Norden von Helsinki, gerade seine »Factory 01«. Die Solein-Fabrik soll noch im Jahr 2024 die Produktion aufnehmen. Dem Geschäftsführer von Solar-Foods, Pasi Vainikka, mangelt es nicht an Selbstbewusstsein: Er spricht von »tektonischen Verschiebungen an unseren Esstischen« und vergleicht das neue Foodtech-Verfahren mit den Anfängen des Computerzeitalters Ende des vergangenen Jahrhunderts.

Ökologisch vorteilhaft

Der revolutionäre Ansatz dieser neuen Verfahren liegt in der nahezu vollständigen Entkopplung der Nahrungsmittelerzeugung von der landwirtschaftlichen Ackerfläche. Das Good Food Institute verweist auf eine Studie, laut der die Herstellung von Fleisch aus dem Labor verglichen mit herkömmlicher industrieller Fleischproduktion bis zu 93 Prozent weniger Treibhausgase erzeugt, 95 Prozent weniger Land benötigt und 78 Prozent weniger Wasser verbraucht. Die damit frei gewordene Landfläche ließe sich für Schutzgebiete oder regenerative Anbaumethoden nutzen. Zudem würde der Einsatz von Antibiotika drastisch reduziert.

Die alternative Fleischerzeugung ist zudem auch weitgehend unabhängig von Böden und Wetter – ein Umstand, der schneller relevant werden könnte, als den meisten Menschen lieb ist. Denn immer häufiger auftretende Hitzewellen, Dürren und Starkregenereignisse bedrohen die Lebensmittelversorgung der Weltbevölkerung viel mehr als bisher angenommen, wie aus einer Studie vom Juli 2023 hervorgeht.

Dennoch hat Fleisch aus dem Labor zumindest einen Wermutstropfen. Je nach kultivierten Zelltypen muss das Nährmedium in den Bioreaktoren auf einer konstanten Temperatur zwischen 25 und 37 Grad Celsius gehalten werden. Will man massenhaft tierisches Muskelgewebe züchten, ist die dafür nötige Energiemenge nicht zu unterschätzen und der gesamte Prozess folglich nur nachhaltig, wenn die Energie aus regenerativen Quellen stammt.

»Eine vermeintlich einfache technische Lösung, die von den wahren Problemen des Systems ablenkt«Phil Howard, Sozialwissenschaftler von der Michigan State University

Nur ein vorübergehender Hype?

Werden wir in Zukunft also keine Kühe, Schweine, Hühner oder Fische mehr töten müssen, um an die wertvollen Proteine zu kommen, sondern können Mikroben, Pflanzen, Pilze oder Zellkulturen für uns arbeiten lassen? Was manche als einzigen Weg hin zu einer umweltverträglichen Ernährungsweise sehen, betrachten andere mit großen Vorbehalten. So spricht das Expertengremium IPES-Food (International Panel of Experts on Sustainable Food Systems) um den Sozialwissenschaftler Phil Howard von der Michigan State University in einer 2022 erschienenen Analyse von einem vorübergehenden Hype. Es handle sich um eine vermeintlich einfache technische Lösung, die von den wahren Problemen des derzeitigen Systems ablenke. Laut dem Gremium rühren die momentanen Schwierigkeiten vor allem daher, dass sich die Nahrungsmittelproduktion auf einige wenige große Konzerne wie JBS, Tyson, Nestlé oder Cargill konzentriert. Diese seien zu Lasten von kleinbäuerlichen Produktionsweisen auf Gewinnmaximierung und Industrialisierung ausgelegt.

Solche Großkonzerne investierten nun zwar auch in alternative Proteine, um am stark wachsenden Markt teilzuhaben, schreiben die Experten. Damit würden aber westlich geprägte Ernährungsweisen globalisiert und regionale Unterschiede gingen verloren. Die Überbetonung der Proteinversorgung vernachlässige zudem den Kontext der Produktion. Denn Viehhaltung spiele in vielen landwirtschaftlichen Gemeinschaften eine große Rolle – weit über die Ernährung hinaus. Tiere liefern Fell, Leder, Wolle und dienen zum Ziehen oder Transportieren von Lasten. Sie düngen Böden, dienen als finanzielle Absicherung, haben einen kulturellen Wert und nutzen Flächen, die sich sonst landwirtschaftlich kaum gebrauchen lassen.

Kritiker zeigen sich zudem skeptisch, was die Skalierung der neuen Verfahren auf industrielle Maßstäbe angeht. Sie haben Bedenken wegen des zu erwartenden Energie- und Wasserverbrauchs, der Abwasserentsorgung oder der möglichen Zusatzstoffe in den Erzeugnissen. Bei einigen Verfahren kommen gentechnisch veränderte Organismen zum Einsatz, denen zumindest in Europa immer noch große Skepsis entgegenschlägt.

Innovation versus Tradition

Und dann sind da noch die, die ihren Beruf oder ihr Geschäftsmodell von den neuen Entwicklungen bedroht sehen, etwa Landwirte oder Beschäftigte in der Molkerei- und Fleischindustrie. Konflikte sind programmiert, denn der Markt ist nicht unendlich groß: Je mehr Ersatzprodukte für Milch, Fleisch und Eier verkauft werden, desto weniger bleibt für die traditionellen Tierprodukte. Manche Bauern und Unternehmer sind Veränderungen gegenüber offen und sehen sie als mögliches künftiges Betätigungsfeld; andere bekämpfen die neuen Entwicklungen.

So hat sich der Widerstand gegen tierfreies Fleisch und alternative Proteine bereits seit einiger Zeit formiert. In Italien etwa gab es im März 2023 eine Regierungsinitiative unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, derartige Lebensmittel ganz zu verbieten. Auch hier zu Lande spielen die von der Politik gesetzten Rahmenbedingungen – in weniger drastischer Form – eine Rolle: Während für Fleisch, Fisch und Milch nur 7 Prozent Umsatzsteuer anfallen, unterliegen vegetarische oder vegane Ersatzprodukte als verarbeitete Lebensmittel einem Steuersatz von 19 Prozent.

Mancher naturverbundene Mensch mag sich schwertun mit den Innovationen aus Biotechnologie und Lebensmittelchemie. Der britische Autor und »The Guardian«-Kolumnist George Monbiot jedoch fordert die Gesellschaft auf, die neuen Techniken willkommen zu heißen. Er hält die Präzisionsfermentation für die »vielleicht wichtigste Umwelttechnologie, die je entwickelt wurde« und sieht sie als möglicherweise letzte Chance, den drohenden ökologischen Kollaps noch abzuwenden. »Wir haben die Möglichkeit, zwei unserer größten existenzbedrohenden Krisen mit der gleichen Strategie zu lösen. Indem wir die Produktion von proteinreichen Lebensmitteln von der Landwirtschaft in die Fabrik verlagern, können wir sowohl den Hunger als auch das Artensterben beenden.«

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  • Quellen

Choi, B. et al.: High protein-containing new food by cell powder meat. npj Science of Food 7, 2023

Good Food Institute Europe: State of the Industry Report Germany. https://gfieurope.org/state-of-the-industry-germany-2023, 2023

Messmer T. et al.: A serum-free media formulation for cultured meat production supports bovine satellite cell differentiation in the absence of serum starvation. Nature Food 3, 2022

Sinke, P. et al.: Ex-ante life cycle assessment of commercial-scale cultivated meat production in 2030. The International Journal of Life Cycle Assessment 28, 2023

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