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Gesundheitswesen: Stellen Sie sich mal nicht so an

Viele Frauen fühlen sich von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen, zum Teil berichteten sie unter dem Hashtag #frauenbeimarzt auch von Diskriminierungen. In der Ärzteschaft fehlt dafür oft das Bewusstsein.
Frau stützt während eines Arztgesprächs verzeifelt den Kopf in die Hände
Leider mangelt es im Gesundheitswesen mitunter an Gleichberechtigung: So fühlen sich Frauen häufig von ihren Ärztinnen und Ärzten nicht ernst genommen, ihre Beschwerden würden bagatellisiert. Internationale Studien bestätigen diesen Eindruck, in Deutschland muss die Forschung dazu noch aufholen. (Symbolbild)

Erst zwei Tage nach ihrem Fahrradunfall erfuhr Valerie Hofmeister*, dass ein Knochen in ihrem Gesicht gebrochen war. Im Sommer 2020 war die Studentin mit ihren Freunden unterwegs, als sie mit dem Fahrrad stürzte. »Ich war total benommen«, erinnert sich die heute 28-Jährige. »Ich konnte mich stundenlang nicht daran erinnern, warum mein Gesicht so geschwollen ist.« Zeichen für eine Gehirnerschütterung. Hinzu kamen starke Schmerzen.

Als Hofmeister ihrem Hausarzt am nächsten Tag von ihrem Unfall erzählte, habe er sie nur mitleidig angesehen. »Dann hat er mich mit einer seltsamen Babystimme gefragt, ob ich denn arg geweint habe und dass es natürlich ganz schlimm ist, wenn man hinfällt«, erzählt die junge Frau. »Er hat mit mir geredet wie mit einem kleinen Kind.« Sein Rat: nach Hause gehen, das Gesicht kühlen und die Schürfwunden einsalben. Nach wenigen Minuten verließ die Studentin perplex die Praxis, ohne untersucht worden zu sein und ohne Aussicht auf eine Bildgebung ihres Kopfes, die bei derlei Verletzungen eigentlich Standard ist. »Ich habe an mir selbst gezweifelt und dachte, er wird schon wissen, was er tut«, sagt sie.

Erst ein Mediziner in der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses stellte am Folgetag fest: Ihr Jochbein war gebrochen. Jochbeinbrüche zählen zu den häufigsten Verletzungen des Gesichtsschädels, meist müssen sie chirurgisch behandelt werden. Hofmeister hatte Glück: »Wäre der Bruch etwas mittiger gewesen, hätte man mich operieren müssen.« Sie erhielt die Empfehlung, sich mehrere Wochen lang körperlich zu schonen, die Stelle zu kühlen und Schmerzmittel einzunehmen. Folgeprobleme hat sie erfreulicherweise nicht entwickelt. Die Geschichte hätte allerdings auch anders ausgehen können: Weil sich das Jochbein am seitlichen Rand der Augenhöhle befindet, können unbehandelte Verletzungen zu dauerhaften Sehstörungen führen.

Valerie Hofmeister denkt, dass sie auf Grund ihres Geschlechts anders behandelt worden ist. Auch Alice Burkhart* erlebte Ähnliches: Als sie sich 2021 zum zweiten Mal zur Vorbeugung gegen Gebärmutterhalskrebs gegen humane Papillomaviren impfen lassen wollte, habe sie vom Arzt zu hören bekommen: »So hübsch, wie Sie sind, können Sie mit Mitte 20 ja wohl keine Jungfrau mehr sein.« Idealerweise erfolgen die notwendigen Impfungen vor dem ersten Sexualkontakt, da die Erreger vor allem durch ungeschützten Geschlechtsverkehr übertragen werden.

Wie vielen Frauen es ähnlich ergeht, hat ein populärer Post in den sozialen Medien im Januar 2022 verdeutlicht: Unter dem Hashtag #frauenbeimarzt erzählten zahlreiche Betroffene auf der Plattform X, ehemals Twitter, von Erniedrigung, Verharmlosung oder sogar sexualisierter Gewalt im Kontakt mit Ärztinnen und Ärzten. Die Tweets generierten viel Aufmerksamkeit, mehrere Medien berichteten. Was hat sich seitdem getan?

Offiziell kein Problem

Bei den Beschwerdestellen der Landesärztekammern scheint die Problematik bisher nicht angekommen zu sein. Auf Anfrage von »Spektrum.de« teilte die Ärztekammer Nordrhein mit, dass Beschwerden von Frauen, die sich in der Arztpraxis medizinisch schlechter behandelt fühlten, unbekannt seien. Die Ärztekammer Berlin gab an, dass die von ihr geführte Statistik nicht ausreichend differenziere. Und auch der Sächsischen Landesärztekammer liegen keine Beschwerden von Frauen vor, die sich diskriminiert fühlten; sie verzeichne allerdings pro Jahr ein bis zwei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung.

Dabei hat die Forschung in den letzten Jahrzehnten immer wieder Hinweise darauf gefunden, dass Frauen – insbesondere solche mit Migrationshintergrund oder nicht weißer Hautfarbe – in der medizinischen Versorgung benachteiligt werden. US-Patientinnen (nicht schwanger), die sich wegen Bauchschmerzen in der Notaufnahme vorstellten, bekamen seltener opioidhaltige Schmerzmittel als Männer. Sie warteten im Schnitt auch 16 Minuten länger auf die Medikamente, selbst wenn sie gleich starke Schmerzintensitäten angaben, wie ein Team um Esther Chen von der University of Pennsylvania 2008 nachwies.

In einer Übersichtsarbeit von 2018 fassten Fachleute der schwedischen Universität Göteborg zusammen, dass Schmerzpatientinnen häufig als hysterisch, emotional und jammernd beschrieben werden oder dass sie sich ihre Beschwerden nur einbildeten. Außerdem erhielten Frauen mit chronischen Schmerzen eher eine psychische Diagnose statt einer körperlichen – obwohl Frauen häufiger an chronischen Schmerzsyndromen leiden als Männer.

Das Problem besteht auch bei anderen Erkrankungen: Frauen mit einer Herzrhythmusstörung litten im Schnitt mehr als sechs Jahre länger unter den Symptomen als Männer, bis sie operativ behandelt wurden. Außerdem berichteten sie häufiger davon, sich von ihren Ärzten und Ärztinnen nicht ernst genommen zu fühlen, etwa, weil diese die Symptome leichtfertig auf Stress zurückführten. Zu diesem Schluss kam 2017 ein Team des Karolinska-Instituts in Stockholm in einer Studie mit mehr als 200 Versuchspersonen. Und heute noch warten Betroffene von Endometriose hier zu Lande und in Österreich meist mehrere Jahre, bis die Diagnose gestellt wird – unter anderem, weil ihre Beschwerden sowohl von ihnen selbst als auch von ihren Hausärzten als normal abgetan werden.

Möglicherweise werden Frauen deswegen weniger ernst genommen, weil ihre Symptome je nach Krankheitsbild von denen der Männer abweichen. »Bis vor Kurzem wusste man nicht, dass sich ein Herzinfarkt bei Frauen anders äußert. Deshalb hat man oft psychosomatische Probleme vermutet«, sagt Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes e. V., der sich für die Belange von Frauen im ärztlichen Beruf und für geschlechtersensible Medizin einsetzt. Mittlerweile lege man im Medizinstudium und in der ärztlichen Weiterbildung Wert auf gendersensible Medizin. »Das heißt nicht, dass das Wissen darum grundsätzlich überall umgesetzt wird«, gibt Groß zu bedenken.

Was Frauen in Deutschland beim Arzt erleben, ist kaum untersucht

Dass Frauen auch hier zu Lande beim Arztbesuch auf Grund ihres Geschlechts weniger ernst genommen werden, ist also stark anzunehmen. Es fehlen bloß die entsprechenden Zahlen: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes teilte schriftlich mit, dass sie nur sehr vereinzelt Anfragen zum Thema erreichten. Die Diskriminierung im Gesundheitswesen werde allerdings nicht regelmäßig in großen Befragungen untersucht. Daher sei mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen. Derzeit laufe aber ein Forschungsprojekt zu Anlauf- und Beschwerdemöglichkeiten bei Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitswesen; die Resultate würden voraussichtlich im Januar 2024 veröffentlicht. Und auch in einer Studie von 2021, die im Auftrag der Behörde durchgeführt wurde, heißt es, dass Deutschland im internationalen Vergleich kaum dazu forscht.

Hilfe für Betroffene

Eine erste Anlaufstelle für betroffene Frauen sowie allgemein bei gesundheitlichen und rechtlichen Fragen bietet die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD).

Beschwerden können Patientinnen und Patienten bei einer der insgesamt 17 Landesärztekammern einreichen, darunter die Ärztekammer Berlin, die Sächsische Landesärztekammer oder die Ärztekammer Schleswig-Holstein. Für das Bundesland Nordrhein-Westfalen sind die Ärztekammer Nordrhein und die Ärztekammer Westfalen-Lippe zuständig.

Bei Diskriminierungserfahrungen berät und informiert zudem die Antidiskriminierungsstelle des Bundes.

Zu den fehlenden Daten kommt, dass die betroffenen Frauen selbst oft unsicher sind, wie ihre Erfahrungen einzuordnen sind, und gar nicht wissen, wohin sie sich wenden können. Eine erste Anlaufstelle bietet die Unabhängige Patientenberatung Deutschland (UPD). Die gemeinnützige Vereinigung berät rechtlich sowie medizinisch und verweist dann an die zuständigen Stellen. Meist sind das die Landesärztekammern, die weitere Schritte einleiten. »Wenn eine Patientin sich diskriminiert fühlt, könnte das ein Verstoß gegen die ärztliche Berufsordnung sein«, sagt Anja Lehmann, juristische Beraterin bei der UPD. »Dann erklären wir den Frauen, wie ein Beschwerdeprozess abläuft.« Selbst wenn man nicht viel machen kann oder die Patientinnen nicht weitergehen wollen: »Vielen hilft schon, in einem geschützten Rahmen darüber reden zu können und das Gefühl zu haben, nicht allein zu sein«, sagt Lehmann. »Das ist nicht immer nur eine strikte Rechtsberatung.«

Ob eine Beschwerde erfolgreich ist, erfahren sie und ihre Kolleginnen meist nicht. Allerdings ist es häufig schwierig zu beweisen, was passiert ist. Oft sind die Patientinnen allein im Behandlungszimmer, so dass Aussage gegen Aussage steht und das Verfahren im Zweifelsfall eingestellt wird. Das macht wenig Hoffnung. »Die Betroffenen denken, sie hätten sowieso keine Chance«, sagt Lehmann. »Ich sage dann: Vielleicht gab es schon andere, die sich beschwert haben.« Eine Beschwerde kann dafür sorgen, dass sich der Arzt zumindest mit der Ärztekammer auseinandersetzen muss und sein Verhalten überdenkt, selbst wenn keine Sanktionen folgen.

Mehr Zeit, Sensibilisierung und Mut sind gefragt

Beratungsangebote allein reichen aber nicht. Es sind strukturelle Änderungen nötig. Die Antidiskriminierungsstelle fordert in ihrem aktuellen vierten Bericht eine stärkere Sensibilisierung des medizinischen Personals gegenüber Diskriminierung. Außerdem fordert sie einen umfassenden rechtlichen Diskriminierungsschutz. Laut Christiane Groß würde es zudem helfen, wenn Patientinnen sich darüber bewusst würden, dass sie manchmal andere Beschwerden zeigen als Männer, und dieses Bewusstsein auch von ihrem behandelnden Arzt einforderten. »Die Betroffenen dürfen nicht vor lauter Angst ruhig bleiben«, sagt Groß.

zudem fehle im Klinikalltag oft die Zeit für längere Gespräche, was die Kommunikation zwischen dem ärztlichen Personal und der Patientenseite weiter beeinträchtigt – ein Problem, das nur auf höherer Ebene angegangen werden kann. »In den Kliniken braucht es eine andere Personalpolitik«, sagt sie. Politisches Engagement wäre ebenfalls notwendig, um Hilfsangebote bekannter zu machen. Auch würden Patientinnen von einem regelmäßigen Austausch zwischen den Ärztekammern und der UPD profitieren – den gibt es bisher nicht. »Das wäre aber schön«, sagt Anja Lehmann.

Valerie Hofmeister hat gelernt, selbst Initiative zu ergreifen. Die Erlebnisse haben sie darin bestärkt, direkt auf ihre Intuition zu hören: »Wenn ich ein Problem habe, poche ich nun darauf, dass ich einen Termin und eine Behandlung bekomme.«

* Der Name wurde geändert. Er ist der Redaktion bekannt.

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