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Mengenlehre: Ordnung in den Unendlichkeiten

Dass unendlich manchmal nicht gleich unendlich ist, sondern sogar noch größer, wissen Forscher schon lange. Jahrzehntelang rätselten sie aber, wie groß acht bestimmte Unendlichkeiten wirklich sind. Nun haben drei Mathematiker gezeigt, dass sie sich alle unterscheiden - und man sie der Größe nach ordnen kann.
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Unendlichkeiten faszinieren Menschen schon seit Ewigkeiten. Schließlich handelt es sich dabei um Größen, die unseren Geist übersteigen – und es gibt einen ganzen Zoo davon. Nun ist es drei Forschern gelungen, unter den Unendlichkeiten weiter aufzuräumen. Im August 2019 veröffentlichten sie ihre Arbeit im renommierten Fachjournal »Annals of mathematics«, in der sie ein jahrzehntealtes Rätsel um acht Unendlichkeiten lösen. Sie belegen, dass sie sich alle voneinander unterscheiden können.

Erst in den letzten 150 Jahren konnten Mathematiker die zuvor sperrig und bedrohlich scheinende Unendlichkeit in ihre Modelle einbetten. Dabei zeigten sie, dass es mehrere Arten davon gibt, die oft auch unterschiedlich groß sind: Manchmal ist unendlich eben nicht gleich unendlich, sondern sogar noch größer.

Dass eine Unendlichkeit größer sein kann als eine andere, folgt aus der Art, wie solche Größen in das heutige Grundgerüst der Mathematik passen. Das entwickelten Wissenschaftler Ende des 19. Jahrhunderts, als sie nach Axiomen suchten – einer Sammlung von grundlegenden, unbeweisbaren Annahmen, aus denen die gesamte mathematische Theorie folgt. Dafür gab es gleich mehrere Kandidaten, die viel versprechend erschienen. Inzwischen greift man auf das Axiomensystem der so genannten Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre mit dem Auswahlaxiom (abgekürzt: ZFC, wobei das C für »choice« steht) zurück.

Eine der darin enthaltenen Annahmen besagt, dass es Mengen mit unendlich vielen Elementen gibt. Das bereitete einigen Mathematikern anfangs Kopfzerbrechen, denn sie wussten nicht, ob man mit Unendlichkeiten genauso rechnet wie mit gewöhnlichen Zahlen: Ist zwei mal unendlich wieder unendlich oder tatsächlich doppelt so groß? Der deutsche Mathematiker Georg Cantor brachte kurz darauf Licht ins Dunkel.

Zwei mal unendlich gleich unendlich

In seinen Arbeiten zeigt er beispielsweise, dass die natürlichen und die geraden Zahlen gleich viele Elemente enthalten. Dabei erscheint es eigentlich offensichtlich, dass es doppelt so viele natürliche Zahlen geben muss wie gerade Zahlen. Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man genauer betrachtet, wie man Unendlichkeiten überhaupt zählt. Dazu nutzen Mathematiker nämlich einen Trick: Möchte man die Größe zweier Mengen vergleichen, beispielsweise die Menge aller Fahrräder und aller Radfahrer, dann ordnet man jedem Rad eine Person zu. Findet für jedes Fahrrad genau einen Radler, dann sind beide Mengen gleich groß.

Als Cantor die Größen der natürlichen und der geraden Zahlen verglich, ging er genauso vor. Er bildete Paare, in denen er jeder natürlichen eine gerade Zahl zuordnete: (1,2), (2,4), (3,6), (4,8), … Das kann man ewig weitertreiben; es wird niemals eine natürliche Zahl übrig bleiben, die kein Paar mit einer geraden bildet. Daher ist die Menge der natürlichen Zahlen genauso groß wie die der geraden. Gleiches gilt für die Menge der Primzahlen, der ganzen Zahlen, der rationalen Zahlen und so weiter.

Bijektive Abbildung | Eine Eins-zu-eins-Abbildung zwischen den natürlichen und den geraden Zahlen. Beide Mengen sind abzählbar und enthalten gleich viele Elemente.

1874 dann fand Cantor heraus, dass dieses Unendlich erst der Anfang ist – es gibt Mengen, die noch größer sind. Es ist beispielsweise unmöglich, jeder reellen Zahl eine natürliche zuzuweisen. Versucht man, eine Liste mit allen reellen Zahlen anzufertigen, kann man aus diesen eine weitere reelle Zahl konstruieren, die nicht darin vorkommt. Eine solche Liste wird also niemals vollständig sein, weshalb man sagt, dass es »überabzählbar unendlich« viele reelle Zahlen gibt.

Reelle Zahlen

In den folgenden Jahren begannen Mathematiker, verschiedene Unendlichkeiten miteinander zu vergleichen. Es war recht einfach, extrem große Mengen zu konstruieren. Die Unendlichkeiten wurden immer größer und schienen kein Ende zu finden.

Manchmal ist unendlich nicht gleich unendlich

Doch eine Frage blieb unbeantwortet: Gibt es eine Menge, die weniger Elemente enthält als die reellen Zahlen, aber größer ist als die natürlichen? Anders ausgedrückt: Gibt es eine (oder mehrere) Unendlichkeit zwischen der Anzahl der natürlichen Zahlen und der Anzahl der reellen Zahlen? Wieder war es Cantor, der 1878 die berühmte Kontinuumshypothese formulierte, wonach es keine solche Unendlichkeit gibt. Das heißt, die nächstgrößere Zahl ℵ1 nach der Anzahl aller natürlichen Zahlen ℵ0 ist die Anzahl der reellen Zahlen 2 ℵ0, also: ℵ1 = 2 ℵ0. Doch es gelang ihm nicht, seinen Verdacht zu beweisen.

Kontinuumshypothese

In den nächsten Jahrzehnten versuchten sich etliche Mathematiker daran, Cantor zu bestätigen oder zu widerlegen, doch alle scheiterten. 1900 nannte David Hilbert in seiner berühmten Jahrhundertrede am Internationalen Mathematikerkongress in Paris die Kontinuumshypothese als erstes von zehn der bedeutendsten mathematischen Probleme, denen man sich im kommenden Jahrhundert zuwenden müsse.

Kurt Gödel brachte 1940 das erste ernüchternde Ergebnis vor: Die Negation der Kontinuumshypothese – also die Aussage, dass es Mengen gibt, deren Größe zwischen der der natürlichen und der der reellen Zahlen liegt – ist mit den Mitteln der ZFC unbeweisbar. Der letzte Funke Hoffnung, die Kontinuumshypothese doch noch beweisen zu können, erlosch 1963 mit einer Veröffentlichung des US-amerikanischen Mathematikers Paul Cohen. In dieser brachte er eine neue mathematische Methode namens Forcing hervor, aus der folgt, dass sich auch die Aussage ℵ1 = 2 ℵ0 nicht mit den Mitteln der ZFC beweisen lässt.

Die Ergebnisse der beiden Forscher zeigen: Wenn die gewöhnliche ZFC-Mengenlehre nicht zu Widersprüchen führt (was ebenfalls unbeweisbar ist mit den Mitteln der ZFC), dann ist auch ZFC mit der Kontinuumshypothese konsistent; und genauso ZFC mit der Negation der Kontinuumshypothese. Man kann also ein mathematisches Grundgerüst aufbauen, das zulässt, dass es Unendlichkeiten zwischen ℵ1 und 2 ℵ0 gibt, oder eines, das es verbietet – keiner der beiden Fälle wird Probleme bereiten.

Aufräumen in den Unendlichkeiten

Unter der Annahme, dass die Kontinuumshypothese falsch ist, gelang es Mathematikern in den kommenden Jahren tatsächlich, zehn Unendlichkeiten zu definieren, die mindestens ℵ1 und höchstens 2 ℵ0 sind. Die Definitionen dieser Unendlichkeiten sind ziemlich kompliziert. Beispielsweise ist eine von ihnen, cov(N), die kleinste benötigte Anzahl an so genannten Nullmengen, welche die reellen Zahlen überdecken. Nullmengen sind dabei nicht mit der leeren Menge zu verwechseln, zum Beispiel sind alle abzählbaren Teilmengen der reellen Zahlen Nullmengen, das heißt unter anderem die natürlichen oder die rationalen Zahlen.

Allerdings konnten die Wissenschaftler nicht herausfinden, ob sich die zehn Unendlichkeiten wirklich voneinander unterscheiden oder ob beispielsweise sechs von ihnen notwendigerweise gleich groß sind. Man wusste nur, dass sie größer gleich oder kleiner gleich manch anderer Unendlichkeit sind. Die Beziehungen der unendlichen Größen fassten Mathematiker in einem so genannten Cichoń-Diagramm zusammen.

Cichon-Diagramm | Ordnung der Unendlichkeiten. Die Pfeile stehen für Kleiner-gleich-Relationen.

Nun haben Martin Goldstern und Jakob Kellner von der Technischen Universität Wien zusammen mit ihrem Kollegen Saharon Shelah von der Universität Jerusalem bewiesen, dass acht der zehn Unendlichkeiten tatsächlich unterschiedlich groß sein können – die zwei übrigen Größen entsprechen je zwei anderen, was man bereits wusste.

Ordnung der Unendlichkeiten | Die Ergebnisse der drei Mathematiker ermöglichen es, die Unendlichkeiten aus dem Cichon-Diagramm zu ordnen.

Tatsächlich mussten aber auch Goldstern, Kellner und Shelah das Gerüst der ZFC erweitern, um ihren Beweis führen zu können. Sie bedienten sich vierer »großer Kardinalzahlen«, deren Existenz sich nicht mit der ZFC-Mengenlehre beweisen lässt. Nimmt man solche Zahlen zur üblichen Mengenlehre hinzu, ergibt sich daraus eine stärkere Theorie, mit der man mehr beweisen kann. Die Mathematiker gehen aber davon aus, dass ihre Ergebnisse auch ohne die vier großen Kardinalzahlen richtig sind – sie sind dadurch nur wahrscheinlich viel schwerer zu berechnen. Inzwischen haben andere Forscher gezeigt, dass das Resultat auch mit bloß drei großen Kardinalzahlen erhältlich ist.

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