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Interview: »In der Welt herrscht immer weniger Gewalt«

Weniger Morde, weniger Vergewaltigungen, weniger Kriegstote: Der Psychologe Steven Pinker von der Harvard University erklärt im Interview, warum die Gewalt auf der Welt im Lauf der Jahrhunderte immer weiter abgenommen hat – und warum es uns so schwerfällt, das zu glauben.
Kampfhubschrauber mit Soldaten

»Wir leben in einer gewalttätigen Welt« – entspricht diese weit verbreitete Behauptung der Realität?

Viele Menschen gewinnen diesen Eindruck, wenn sie die Welt im Fernsehen oder im Internet betrachten. Terroranschläge, Kriege, Kindermorde, Massaker. Was für ein Horror! Doch wenn man sich die Zahlen näher ansieht, ändert sich das Bild.

Was sagen die Zahlen über die Gewalt aus?

Sie zeigen, dass die Gewalt stetig zurückgegangen ist, seit wir Messwerte haben. Wenn wir die Tötungsdelikte in verschiedenen Regionen der Welt und in verschiedenen Phasen der Geschichte zählen und wenn wir sie mit den Bevölkerungszahlen in Beziehung setzen, dann sehen wir Kurven, die einen deutlichen Rückgang zeigen. Wahrscheinlich leben wir in der am wenigsten gewalttätigen Zeit der gesamten Menschheitsgeschichte.

Würden Sie das auch den Syrern oder den Opfern von Terroranschlägen sagen?

Gewalt gibt es immer noch, und wo sie entfesselt wird, ist sie unerträglich. Im Hinblick auf die riesige Zahl von Morden, die die Geschichte der Menschheit geprägt hat – wir schätzen sie auf mehrere hundert Millionen –, muss man allerdings klar sagen, dass heute weltweit weniger Gewalt herrscht als in vergangenen Zeiten. Weil diese Entwicklung aber über die Jahrhunderte stattfindet, fällt es uns schwer, sie uns bewusst zu machen. Und wir reagieren empfindlich auf lokale und vorübergehende Erscheinungen von Aggression.

Steven Pinker | Der Professor für Psychologie an der Harvard University ist Autor von Werken über die Psychologie der Sprache, die Struktur und die Entwicklung der Psyche.

In Ihrem Buch »The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined« (auf Deutsch: »Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit«) dokumentieren Sie den Rückgang der Gewalt in der Geschichte der Menschheit. Wie kamen Sie auf diese Idee, und auf welche Anhaltspunkte stützen Sie sich?

Vor 20 Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel »How the Mind Works« (auf Deutsch: »Wie das Denken im Kopf entsteht«). Ich erklärte darin, wie unsere Emotionen uns die meiste Zeit über beherrschen – und vor allem unsere gewalttätigen Triebe. Dann sah ich eines Tages eine Grafik der beiden Psychologen Martin Daly und Margo Wilson, die verzeichnete, wie sich die Anzahl an Tötungen in England zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert entwickelt hat. Die Grafik überraschte mich, denn die Daten zeigten, dass die Rate im Lauf der Jahrhunderte zurückgegangen war. Da habe ich verstanden, dass wir Menschen zwar gewalttätige Triebe in uns tragen, dass wir aber auch die Fähigkeit besitzen, ihnen zu widerstehen. Ich begann, darüber nachzudenken, welche mentalen und zerebralen Systeme an der Ausübung von Gewalt beteiligt sind und welche anderen Systeme sie im Gegenzug eindämmen können. Das war für mich ein neuer Weg, die Funktionsweise der menschlichen Psyche zu erforschen. Ich musste die Existenz von Kräften eingestehen, die in jedem von uns wirken, ohne uns dabei die Freiheit zu nehmen. Viele Menschen denken, wenn wir von der menschlichen Natur sprechen, dass die Existenz von bösen Neigungen uns dazu verdammt, Böses zu tun. Doch in Wirklichkeit bedeutet die Existenz von antagonistischen Systemen und der Fähigkeit, aggressiven Neigungen zu widerstehen, eine Art von Freiheit.

Die menschliche Psyche besteht aus verschiedenen neuronalen Systemen, die gegeneinanderarbeiten, so dass es möglich ist, Aggressionen zu reduzieren. Ein Beispiel ist der Rückgang der Tötungen seit dem Mittelalter, aber auch der Umstand, dass moderne Gesellschaften viel friedlicher sind als die Stammesgesellschaften, die wir noch studieren können und die wahrscheinlich auf eine ähnliche Art funktionieren wie das Leben unserer Vorfahren vor den ersten Zivilisationen.

Auf welche anderen Quellen stützt sich Ihre Analyse?

Nachdem ich die Grafiken von Daly und Wilson gesehen hatte, fing ich an, Beiträge in meinem Blog zu veröffentlichen, worauf Forscher mit unterschiedlichstem Hintergrund begannen, mir ihre eigenen Informationen anzutragen. So erfuhr ich zum Beispiel, dass seit 1945 die Zahl der an allen Kriegsschauplätzen der Welt Gefallenen stetig zurückgegangen ist. Historiker haben mir mitgeteilt, dass dieses Phänomen nicht nur in England, sondern auch in Italien, Deutschland und Skandinavien zu beobachten ist. Von anderen erfuhr ich, dass die Fälle von häuslicher Gewalt und die Zahl der Vergewaltigungen ebenfalls zurückgehen. Ich sah mich schließlich mit einer Fülle von Beweisen konfrontiert, die darauf hindeuteten, dass das Phänomen der Gewalt insgesamt seit Jahrhunderten rückläufig ist. Diese Daten beziehen sich sowohl auf Morde als auch auf die bewaffneten Konflikte in der Welt, da die letzte kriegerische Auseinandersetzung zwischen demokratischen Staaten mit dem Koreakrieg auf das Jahr 1953 zurückgeht, was zeigt, dass die Beziehungen zwischen international anerkannten Staaten zu einer neuen Norm der Ablehnung von Gewalt geführt haben.

»Viele Menschen denken, dass die Existenz von bösen Neigungen uns dazu verdammt, Böses zu tun«

Natürlich ist auf diesem Planeten nach wie vor alles möglich, auch das Schlimmste. Aus statistischer Sicht jedoch wird es immer besser. Ich habe andere Indikatoren für Gewalt gleichsam berücksichtigt, wie etwa Menschenopfer, die allmählich aus allen Regionen der Welt verschwunden sind, genauso Sklaverei und die Tatsache, dass alle Länder sie im Lauf der Zeit abgeschafft haben, zuletzt 1981 Mauretanien. Schließlich nimmt auch die Zahl der Staaten, die die Todesstrafe praktizieren, stetig ab.

Aber das 20. Jahrhundert ist immer noch ein Jahrhundert voller Schrecken, Völkermorde und Weltkriege!

Das stimmt, allerdings nicht mehr als jedes andere Jahrhundert zuvor. Das Problem ist, dass wir dazu neigen, uns auf das zu konzentrieren, was uns nahe ist, sowohl zeitlich als auch räumlich. Die jüngsten Tragödien haben unsere Aufmerksamkeit erregt, und deshalb glauben wir, dass das 20. Jahrhundert das grausamste von allen war. Dies gilt in absoluten Zahlen, aber nicht, wenn man die Zahl der Opfer des Zweiten Weltkriegs auf die Gesamtbevölkerung (etwa drei Milliarden Menschen) hochrechnet. Der Aufstand in An Lushan, China, im 8. Jahrhundert zum Beispiel hätte 429 Millionen Menschen getötet, wenn man die Zahl der damaligen Opfer auf die Weltbevölkerung im Jahr 1945 hochrechnen würde. Zum Vergleich: Der Zweite Weltkrieg forderte rund 55 Millionen Todesopfer. Auch unsere Wahrnehmung von Völkermorden ist von einer gewissen Kurzsichtigkeit geprägt. Es ist ein Fehler zu behaupten, das 20. Jahrhundert sei das Jahrhundert der Völkermorde. Wenn wir die historischen Quellen vergangener Jahrhunderte betrachten, stellen wir fest, dass Völkermorde eine Konstante in der Geschichte der Menschheit sind und dass sie in der Vergangenheit wahrscheinlich hunderte Millionen von Todesfällen verursacht haben.

Diese Kurzsichtigkeit verzerrt auch unsere Wahrnehmung von Gewalt im Alltag. Viele Menschen widersprechen mir und sagen, dass die heutige Welt furchtbar gewalttätig ist. Tatsächlich ist sie etwa 50-mal weniger gewalttätig als im Mittelalter, wo die Wahrscheinlichkeit, von einem Mitmenschen erschlagen zu werden, etwa bei 1 : 1000 stand, während sie im heutigen Westeuropa etwa bei 1 : 50 000 liegt. Wir haben die Realität einer Zeit vergessen, in der Hinrichtungen und öffentliche Folter an der Tagesordnung standen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die meisten von uns einfach nicht wissen, dass die Gewalt in Jäger-und-Sammler-Gesellschaften sogar noch 10- oder 100-mal höher ist als im Mittelalter. Die Mordraten in Stammesgesellschaften erreichten und erreichen immer noch schreckliche Werte von fast einem Prozent, beziehungsweise 10 Prozent der gewaltsamen Todesfälle.

Tötungsdelikte in Westeuropa | Die Anzahl an Tötungsdelikten in Westeuropa geht seit dem 13. Jahrhundert stetig zurück. Französische, englische oder deutsche Bürger laufen statistisch gesehen 60-mal weniger Gefahr, von einem Mitmenschen erschlagen zu werden, als im Jahr 1300.

Wenn wir in der am wenigsten gewalttätigen Welt aller Zeiten leben, warum haben wir dann das Gefühl, in einer brutalen, gnadenlosen und gefährlichen Gesellschaft zu leben?

Dies ist eine psychologische Illusion, die insbesondere Daniel Kahneman in seinen Arbeiten auf den Punkt gebracht hat, in denen er gezeigt hat, dass wir die Wahrscheinlichkeit von Ereignissen danach beurteilen, wie leicht wir sie uns vorstellen können. Das bekannteste Beispiel ist das der Flugzeugabstürze: Wenn ein Flugzeug abstürzt, werden wir von Bildern überflutet, die unsere Vorstellung einer solchen Katastrophe speisen. Bei Verkehrsunfällen liefern die Medien kein derartiges Übermaß an Details, so dass unser Gehirn mehr mit Bildern von Flugzeugabstürzen als von Autokollisionen gefüllt ist. Deshalb überschätzen wir das Risiko des Ersteren und scheuen uns kaum, das Auto zu nehmen.

Es ist wichtig, sich von diesen kognitiven Vorurteilen zu befreien, indem wir zurücktreten und weiter in die Vergangenheit blicken. Dann sehen wir, dass unsere Welt viel sicherer ist als vor einigen Jahrhunderten. Und das sollte uns ermutigen, die Gründe zu verstehen, damit wir die Ansatzpunkte auf gesellschaftlicher und politischer Ebene identifizieren und dafür sorgen können, dass dieser Trend sich nicht umkehrt.

Auf welche Faktoren führen Sie den Rückgang der Gewalt zurück?

Der erste signifikante Rückgang der Gewalt erfolgte mit dem Auftreten der Kontrollorgane im Neolithikum, in den Volksstämmen, die den ersten Zivilisationen vorausgingen. Denken Sie an eine Stammesgesellschaft wie die der Inuit. Die Mordrate ist dort traditionell sehr hoch, fast 1000-mal höher als in westeuropäischen Gesellschaften. In solchen Gesellschaften sind Tötungsdelikte in der Notwendigkeit verwurzelt, sich die Ressourcen anderer Menschen anzueignen, in Form von Nahrung, Territorium oder der Möglichkeiten zur Fortpflanzung. Aber auch in der präventiven Aggression, die dich deinen Nächsten angreifen lässt, nur aus Angst, dass er angreifen könnte. Diese ungeregelte Gewalt dominierte wahrscheinlich in den paläolithischen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Als sich menschliche Gruppen zu größeren Gemeinschaften zusammenschlossen, vor allem im Neolithikum und dann im Zeitalter der ersten Zivilisationen, entstanden dabei Stammesführer und Oberhäupter. Stammesführer, die über riesige Gebiete oder Königreiche herrschten, bezogen ihren Reichtum aus den Völkern, über die sie Macht ausübten. In einer solchen Welt kann das Oberhaupt nicht reich werden, wenn seine Untertanen sich gegenseitig angreifen oder den Besitz stehlen. Als Folge fingen die Stammesführer an, Diebstahl und Mord zu sanktionieren, denn sie sahen ihre Untertanen lieber sich abrackern als sich gegenseitig abmurksen.

Also haben wir diesen ersten Rückgang der Gewalt in der Menschheit mächtigen Tyrannen zu verdanken?

Aber ja, das ist nichts anderes als eine Monopolisierung von Gewalt durch die Zentralgewalt, später durch die Staaten und generell durch das, was ich die Leviathane nennen würde, um den Begriff zu verwenden, mit dem der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) souveräne Staaten bezeichnete. Leviathane sind überindividuelle Einheiten, die Gewalt regulieren und sanktionieren. Sie haben die Mordrate um den Faktor 100 reduziert. Dies geschah natürlich durch tyrannische Gewalt, wie sie in einigen Diktaturen noch immer zu beobachten ist. Die der ursprünglichen Anarchie innewohnende Gewalt zu neutralisieren, ohne die Nachteile der tyrannischen Gewalt zu erleiden, ist die Herausforderung, der sich die liberalen Demokratien meiner Meinung nach stellen, indem sie sowohl die Kontrolle über die Leviathane durch den Einzelnen ausüben als auch eine Gewaltenteilung einführen, die verhindert, dass die Leviathane allmächtig werden.

Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass der Nutzen der Gewaltlosigkeit von Anfang an nicht allein dem Kontrollorgan zuzuschreiben ist. Ein weiteres Phänomen betrifft die Beziehungen zwischen den Menschen selbst. Wenn der Mensch weniger Angst hat, angegriffen, ausgeraubt oder getötet zu werden, kann er leichter auf präventive Aggressionen verzichten. Hobbes beschrieb diese psychologische Falle, die oft zu Zerstörungsbränden führt: Jeder, der Angst hat, getötet zu werden, zieht es vor, zuerst zu töten. Wenn diese Angst nachlässt, nimmt auch die Gewalt ab. Sobald die Menschen wissen, dass andere Menschen ihre eigenen Triebe regulieren, müssen sie sich nicht länger einen Ruf von Stärke und Rachsucht erkämpfen. Dann kann sich Frieden ausbreiten.

Aber dafür müssen die Menschen, wie Sie gerade sagten, ihre eigenen Impulse regulieren.

Ja, das ist ein Schlüsselfaktor. Psychologen nennen das Selbstbeherrschung. Dieser Begriff ist zentral, weil er erklärt, warum und wie wir unsere Gewaltbereitschaft eingedämmt haben. Untersuchungen zeigen, dass auch heutzutage die meisten Menschen noch Mordfantasien haben, diese jedoch nicht mehr ausleben. Etwas blockiert die aktive Verwirklichung des gewalttätigen Gedankens, und wir wissen heute, dass dies das Werk eines Areals ist, das sich an der Vorderseite unseres Gehirns befindet. Nun kann diese Funktion des Frontallappens unseres Gehirns durch eine Verinnerlichung der Verbote und insbesondere des Gesetzes trainiert werden. Wenn wir uns die Chroniken des Mittelalters in Westeuropa ansehen, sehen wir, dass die Selbstbeherrschung damals viel zu wünschen übrig ließ. Die Überlieferungen sind voll von Details, die zeigen, dass die Menschen wegen jeder Lappalie handgreiflich wurden, überall ihr Geschäft verrichteten, ohne sich um andere zu scheren, oder sich sogar mitten bei einer Mahlzeit gegenseitig niederstachen. Alles Anzeichen dafür, dass damals die Fähigkeit, das eigene Verhalten mit Hilfe der Vernunft zu überwachen, nicht sehr ausgeprägt war. So wurde in China die Verwendung von Essstäbchen durch den Kaiser verfügt, um dem tödlichen Ausgang von Streitigkeiten während der Mahlzeiten ein Ende zu setzen, die durch das Vorhandensein von Messern begünstigt worden waren.

Diese Erklärung klingt naheliegend, aber basiert sie auf greifbaren Daten?

Eine interessante Beobachtung wurde von Forschern gemacht, die die rückgängige Mordrate in England mit einem anderen Parameter verglichen haben, der als zuverlässiger Indikator für die Selbstkontrolle gilt: mit der Entwicklung der Zinssätze im Waren- und Finanzhandel im Lauf der Jahrhunderte. Der Zusammenhang mag nicht auf den ersten Blick einleuchten, doch er erschließt sich sofort durch einen Test, den Psychologen allgemein verwenden, um Selbstkontrolle zu untersuchen. Der Test läuft folgendermaßen ab: Stellen Sie sich vor, ich gebe Ihnen die Wahl zwischen 10 Euro jetzt sofort oder 15 Euro, die Sie in einem Jahr erhalten. Wenn Sie eine kluge Person sind, die weiß, wie man langfristig plant, können Sie warten und dem Impuls widerstehen, sofort die 10 Euro einzustecken, denn Sie wissen, dass Ihnen das in einem Jahr Vorteile bringen wird. Wenn Sie aber sehr empfänglich für sofortige Belohnungen sind und Schwierigkeiten haben, Ihre aktuellen Impulse zu kontrollieren, werden Sie die Gelegenheit ergreifen, den kleineren Betrag sofort zu erhalten. Je ausgeprägter Ihre Selbstbeherrschung ist, desto niedriger werden im Endeffekt Ihre Zinssätze sein. Betrachtet man die Entwicklung der Zinssätze in Westeuropa vom Mittelalter bis in die Gegenwart, so stellt man fest, dass sie parallel zum Rückgang der Gewalt fallen und diesen leicht vorwegnehmen. Wie es scheint, haben wir uns mit dieser Art von Selbstkontrolle ein Werkzeug zugelegt, das wesentlich zur Befriedung unserer Staaten beigetragen hat.

»Untersuchungen zeigen, dass auch heutzutage die meisten Menschen noch Mordfantasien haben, diese aber nicht mehr ausleben«

Was beweist, dass dieselbe Selbstkontrolle, die in Verbindung zu dem niedrigen Zinssatz steht, auch diejenige ist, die für den Rückgang der Gewalt sorgt?

Psychologische Studien zeigen, dass Menschen, die der Versuchung widerstehen, die kleine Summe sofort einzustecken, um stattdessen später die etwas größere Summe zu nehmen, statistisch betrachtet weniger Probleme mit der Polizei und Justiz haben. Sie werden auch seltener wegen eines Gewaltdelikts verurteilt.

Welche Faktoren haben Ihrer Ansicht nach in der Geschichte die Selbstbeherrschung des Einzelnen erhöht?

Der deutsche Philosoph Norbert Elias war seiner Zeit weit voraus, als er die Mechanismen beschrieb, die die Selbstkontrolle verstärkt haben. Neben der Bedrohung durch die Leviathane war es die bürokratische Infrastruktur, die unsere Gesellschaft nach und nach durchdrungen hat. In einer Welt, in der zunehmend Gerichte, Verwaltungen und Banken über den Erfolg eines Unternehmens oder eines persönlichen Vorhabens entschieden, mussten die Menschen, wenn sie etwas erreichen wollten, einen langen Atem haben und in der Lage sein, sich zu beherrschen. Man musste seine Fähigkeiten und Talente über mehrere Jahre hinweg entwickeln, in langen Studien oder langfristigen Investitionen. Als die Gesellschaften institutionalisiert wurden, waren die Menschen gezwungen, ihre Lebensstrategie zu verändern: vom Impuls zur Planung.

Sie machen einen ziemlichen Zeitsprung zwischen den Gewalt streng sanktionierenden Stammesführern einerseits und der Gesellschaft der Juristen und Institutionen andererseits. Hat die Gewalt in der Zwischenzeit stagniert?

Parallel dazu hat es weitere Entwicklungen gegeben. Ich beziehe mich auf zwei Phänomene, die auf die Feudalzeit zurückgehen: Handel und Buchdruck. Der Handel existierte ohne Zweifel seit Anbeginn der Zeit, denn in prähistorischen Ausgrabungsstätten fand man Obsidianköpfe, die von weit her kamen und nicht vor Ort hergestellt worden sein konnten – ein Hinweis auf dauerhafte Handelsbeziehungen. Der Handel erlebte in der Antike mit der Entwicklung von Straßen und des Binnenschiffsverkehrs einen neuen Aufschwung und später mit Finanzwerkzeugen wie Geld und schließlich mit Verträgen, deren Gültigkeit von den Leviathan-Staaten garantiert wurde, indem sie die Verbindlichkeit eines kodifizierten Gesetzes über weite Gebiete sicherstellten. Handel war die praktische Anwendung von Gewaltlosigkeit, die zu einem positiven Summenaustausch führt, bei dem beide Seiten gewinnen. Kaufmännische Beziehungen fördern das Verhandlungsgeschick und das Einfühlungsvermögen. Während des Handelns müssen Sie sich Zeit nehmen, um zu diskutieren, sich die Absichten und Gedanken Ihres Partners vorzustellen, zu erraten und zu antizipieren, was er erwartet und wünscht, auch um sein Vertrauen für zukünftige Geschäfte zu gewinnen. All diese Anforderungen schärfen die Fähigkeit der Mentalisierung, also die Fähigkeit, sich die mentalen Zustände anderer vorzustellen – ein wesentlicher Bestandteil der Empathie.

Tatsächlich sind die Vorteile des Handels unermesslich. Verbunden mit Selbstbeherrschung bringt er erstmals materielle Unbeschwertheit und damit ein angenehmes irdisches Leben mit sich. Die Menschen begreifen allmählich, dass sie sich in den Niederungen dieser Welt wohlfühlen können und durchaus etwas zu verlieren haben. Das reduziert die Attraktivität der Gewalt. Hier stehen wir vor einer Entwicklung, die die Menschen von einem Glücksversprechen im Jenseits (dem Geschäft der alten Religionen) zu einer Möglichkeit des Wohlbefindens hier auf Erden bewegt – was einen gewissen Frieden voraussetzt.

Sie erwähnten die Empathie. Ist sie nicht das beste Bollwerk gegen Gewalt?

Sie ist natürlich wichtig, erklärt aber nicht alles. Die Entwicklung der Empathie ist ein allmählicher Prozess in der Geschichte der Menschheit. Seit dem Ende des Mittelalters berichten die ersten Schriften sporadisch von aufgebrachten Reaktionen der Menge bei öffentlichen Folterungen. Aber mit der Erfindung des Druckwesens änderte sich alles. Die Verbreitung von Schriften förderte die Verbreitung von Ideen durch Bücher und Broschüren, die in Kaffeehäusern und Pubs in Paris, London oder Amsterdam Debatten anregten über die beste Art und Weise, das Land zu organisieren. Gleichzeitig stieg die Alphabetisierungsrate. Die Epoche der Aufklärung brach an, und Tausende von Menschen begannen, Romane zu lesen, in denen sie das Innenleben von Charakteren entdeckten, die ihnen fremd waren. Das Gedankenspiel beim Lesen von Belletristik erzeugt ein echtes Eintauchen in die Gefühlswelt anderer, und neuere Studien in der Psychologie haben gezeigt, dass das Lesen von Romanen die Fähigkeiten der Empathie wirklich fördert, vor allem, indem sie den Leser daran gewöhnen, die Welt mit den Augen anderer Menschen zu sehen. Von diesem Moment an begann ein Teil der Bevölkerung zu spüren, was andere erlebten. Danach ist es schwierig, gleichgültig gegenüber dem Schicksal eines Todestraktinsassen, eines Sklaven oder eines Henkers zu bleiben.

Sie erwähnen einen weiteren wesentlichen Faktor: die Frauen. Sind sie ein Antidot gegen Gewalt?

Es ist interessant festzustellen, dass Frauen in unseren Gesellschaften einen immer wichtigeren Platz einnehmen, während gleichzeitig die Gewalt abnimmt. Alles begann mit der Aufklärung. Die erste Feministin war wahrscheinlich Mary Astell im 18. Jahrhundert. In ihrem Kampf berief sich Astell zunächst auf Lockes Schriften, in denen er die Sklaverei anprangerte. Mit einer logischen Schlussfolgerung: Wenn ein schwarzer Mann nicht Eigentum oder Subjekt eines weißen Mannes sein kann, wie könnte eine Frau es dann sein? Und weiter: Wenn Tyrannei unmoralisch ist, wenn die willkürliche Herrschaft einer Person über eine andere inakzeptabel ist und wenn man Frauen als Personen mit Sensibilität und Intelligenz betrachtet, wie kann dann die Herrschaft eines Mannes über eine Frau eine moralisch vertretbare Angelegenheit sein?

Sklaverei | Vor dem 16. Jahrhundert war die Sklaverei weit verbreitet und allseits akzeptiert. Seit dem 18. Jahrhundert wurde sie in immer mehr Ländern abgeschafft.

Astells historische Einlassung, die auf rein intellektueller Argumentation beruhte, blieb jedoch über eineinhalb Jahrhunderte lang ungehört. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat der technologische Fortschritt die Stellung der Frau gestärkt. Vor allem die Elektrizität veränderte alles und befreite die Frauen nach und nach von den Bürden, denen sie in der Familie und im Haushalt ausgesetzt waren. Thomas Edison, der Erfinder der Glühbirne, prophezeite bereits 1920, dass Haushaltsgeräte Frauen von der Hausarbeit erlösen und eine weit reichende soziale Umwälzung auslösen würden. Er lag nicht falsch. Zweitens profitierte die Frauenbewegung immer mehr oder weniger von Gleichstellungsbewegungen in anderen Bereichen, wie der Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten. Der Begriff Sexismus ist eigentlich eine Adaption des Wortes Rassismus.

Welcher kausale Zusammenhang lässt sich zwischen der stärkeren Sichtbarkeit von Frauen in der Gesellschaft und dem Rückgang von Gewalt vermuten?

Gewaltstatistiken und die Mordraten im Besonderen zeigen immer wieder, dass Morde bis heute in der Regel von jungen unverheirateten Männern begangen werden. Die Notwendigkeit, zu dominieren und sich einen Platz in einer männlichen Hierarchie zu sichern, und die Notwendigkeit, dafür hohe Risiken einzugehen, tragen zu einem Klima von Aggression bei. Umkehrt lassen bei jungen Männern nach der Heirat die gewalttätigen Tendenzen nach. Biologische Messungen haben gezeigt, dass der Testosteronspiegel bei Männern zweimal sinkt: einmal bei der Gründung eines eigenen Haushalts und ein zweites Mal nach der Geburt der Kinder. Die Feminisierung der Gesellschaft hat also eine beruhigende Wirkung auf Männer, vorausgesetzt, dass nicht einige zurückgelassen werden. In polygamen Gesellschaften zum Beispiel (der Begriff polygyn wäre genauer) gibt es Lebenssituationen, in denen einige Männer mehrere Frauen haben, während andere keine haben, wodurch ein Klima des Wettbewerbs und der latenten Gewalt vermutlich aufrechterhalten wird.

Wie Sie in Ihrem Buch schreiben, legen unsere Gesellschaften immer mehr Wert auf das menschliche Leben. Werden wir empathischer?

Empathie ist nicht alles. In manchen Fällen kann sie sogar zur Ausgrenzung verwendet werden. Studien der Experimentalpsychologie haben gezeigt, dass eine Person, die sich in eine andere Person einfühlt, dennoch ungerecht mit einer Mehrheit von Individuen umgehen kann, die die gleichen Rechte und Bedürfnisse wie diese eine bemitleidete Person haben. Wir müssen daher ein gewisses Maß an Fairness und »kühlem« Verstand walten lassen. Ich glaube, dass die Vernunft der letzte Faktor ist, der zur Verringerung der Gewalt in unseren Gesellschaften beigetragen hat. Wir wissen heute, dass für viele von uns kein Mensch weniger wert ist als ein anderer; und dieses Bewusstsein ist vor allem ein Fortschritt der Vernunft. Das verwirklicht sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, Erbe der amerikanischen sowie später der französischen Erklärungen des 18. Jahrhunderts. Diese Formalisierung der Gleichstellung wäre ohne die anderen von uns genannten Faktoren wahrscheinlich nicht möglich gewesen, aber sie ist entscheidend, weil sie den Begriff der Austauschbarkeit von Individuen zum Ausdruck bringt. Austauschbarkeit bedeutet nicht, dass die Individuen ihre Einzigartigkeit verlieren, sondern dass es nicht legitim ist, die Interessen einer bestimmten Gruppe zum Nachteil einer anderen zu begünstigen.

»Die Feminisierung der Gesellschaft hat eine beruhigende Wirkung auf Männer, vorausgesetzt, dass nicht einige zurückgelassen werden«

Sie glauben also, dass die Gewalt weiter abnehmen wird?

Vorhersagen machen keinen Sinn. Die Reduzierung von Todesfällen durch Mord oder Krieg über Jahrhunderte hinweg ist ein allgemeiner Trend, trotzdem kann es zu schrecklichen Konflikten kommen. Was wir wissen, ist, dass die Gewalt zurückgegangen ist und dass diese Entwicklung nicht neu ist. Meiner Meinung nach muss dies die Art und Weise ändern, wie wir unser Leben heute betrachten. Zunächst einmal sollten wir uns weltweit glücklich schätzen, in der heutigen Welt zu leben. Wenn Sie im Mittelalter geboren wären, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass Sie noch leben und diese Zeilen lesen könnten, etwa 100-mal geringer, vorausgesetzt, Sie wären überhaupt in der Lage zu lesen. Sich dessen bewusst zu sein, ist eine Frage des geistigen Wohlbefindens, der Dankbarkeit und der Hoffnung.

Es sollte uns auch helfen, unsere gelegentliche Wahrnehmung einer »gewalttätigen Welt« zu relativieren. Und insbesondere unsere Reaktion auf das Phänomen des Terrorismus. Zu wissen, dass unsere Risikobewertung durch die eingangs erwähnte Verfügbarkeitsheuristik verzerrt ist, ist ein guter Weg, um übertriebene Reaktionen zu vermeiden, die in der Vergangenheit zu katastrophalen Folgen geführt haben, zum Beispiel zum Ausbruch des Zweiten Golfkriegs. Die Zahlen zeigen, dass Terrorismus die am wenigsten tödliche Form der Gewalt ist und in unseren Gesellschaften etwa 100-mal weniger Opfer fordert als bewaffnete Konflikte oder Todesfälle durch Schusswaffengebrauch (in der Größenordnung von eins zu einer Million in Europa).

Das Einzige, was uns an die verheerende Gewalt des Terrorismus glauben lässt, sind die ihm zuträgliche Medienpräsenz und der starke psychologische Effekt seiner Vorgehensweise. Denken wir daran, dass die historische und statistische Analyse von terroristischen Bewegungen zeigt, dass sie nach durchschnittlich fünf bis sechs Jahren allesamt aussterben.

Glauben Sie, dass die Gewalt irgendwann ganz verschwinden wird?

Ich würde sagen, dass wir uns auf einem guten Weg befinden. Wenn wir zurückblicken, sind wir heute in der Lage, Möglichkeiten zu finden, die Gewalt einzudämmen und niedrig zu halten. Ein starker demokratischer Staat mit unabhängiger Justiz, die Meinungs- und Gedankenfreiheit, die Rechte der Frauen, freier Warenverkehr und Freizügigkeit – all diese Faktoren tragen zum menschlichen Fortschritt bei und haben sich bei der Befriedung von Gesellschaften bewährt.

Darüber hinaus gibt es weitere ermutigende Indikatoren. Ich glaube zum Beispiel, dass wir auch in Zukunft weitere Maßnahmen entwickeln müssen, die dafür sorgen, dass wir menschliches und tierisches Leben mehr wertschätzen. Sobald wir uns einen Moment von den dramatischen Schlagzeilen der Fernsehnachrichten abwenden, stellen wir fest, dass wir in einer Welt leben, die mehr auf Sicherheit bedacht ist denn je. Autos sind sicherer als in der Vergangenheit, auch Flugzeuge, überall gelten immer strengere Normen für die Sicherheit beim Transport oder für Lebensmittel. Ich hoffe, dass Erkenntnisse und Wissen dazu beitragen, diese Sachverhalte möglichst vielen Menschen bekannt zu machen, damit sich die Tatsache verbreitet, dass eine weniger gewalttätige Welt möglich ist und dass wir die Mittel, um sie zu erreichen, immer besser kennen.

Das Interview führte Sébastien Bohler.

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