Direkt zum Inhalt

Topologie: Mehrdimensionale Kugeln sind noch komplizierter als gedacht

Die Teleskop-Vermutung erlaubt es, eine Kugel auf eine andere abzubilden. Doch nun wurde sie widerlegt – was eine ganze Vielfalt an exotischen Sphären ermöglicht.
Viele Kugeln, die willkürlich angeordnet sind
Auf den ersten Blick scheinen Kugeln wie extrem simple geometrische Objekte. Doch in hohen Dimensionen ist das anders.

Die Aufregung war groß, als Anfang Juni 2023 mehrere Mathematikerinnen und Mathematiker am Londoner Flughafen Heathrow landeten. Ihr Ziel war die University of Oxford, wo eine Konferenz zu Ehren des 65. Geburtstags von Michael Hopkins stattfand, der vielen der Teilnehmenden als Mentor gedient hatte.

Hopkins machte sich in den späten 1980er Jahren einen Namen durch seine Arbeit an sieben Vermutungen, die Douglas Ravenel von der University of Rochester zehn Jahre zuvor formuliert hatte. Dabei ging es um Methoden, mit denen sich feststellen lässt, ob zwei auf den ersten Blick unterschiedlich wirkende Formen in Wirklichkeit übereinstimmen. Hopkins und seine Mitarbeiter bewiesen alle Vermutungen von Ravenel – bis auf eine, die als Teleskop-Vermutung bekannt ist.

Damals legte Hopkins seine Arbeit an Ravenels Vermutungen ad acta. Jahrzehntelang schien die Teleskop-Vermutung unlösbar zu sein. »Von so einem Theorem ließ man lieber die Finger«, sagt Hopkins heute.

Doch als die Forscherinnen und Forscher 2023 in London eintrafen, machten Gerüchte die Runde. Angeblich hätten vier Mathematiker (von denen drei bei Hopkins promoviert hatten) das Geheimnis um die Teleskop-Vermutung gelöst. Der jüngste von ihnen, ein Doktorand namens Ishan Levy, sollte am zweiten Tag der Konferenz einen Vortrag halten. Das schien der Zeitpunkt zu sein, an dem ein Beweis verkündet würde. »Ich hatte Gerüchte darüber gehört, dass das bevorstand. Ich wusste nicht genau, was mich erwartet«, sagt die Mathematikerin Vesna Stojanoska von der University of Illinois, Urbana-Champaign, die an der Konferenz teilnahm.

Es war bald klar, dass die Gerüchte wahr waren. Während seines Vortrags und an den folgenden drei Tagen erklärten Levy und seine Koautoren – Robert Burklund, Jeremy Hahn und Tomer Schlank – den rund 200 Teilnehmern, wie sie die Teleskop-Vermutung widerlegt hatten. Damit ist sie die einzige von Ravenels ursprünglichen Vermutungen, die nicht zutraf.

Die Widerlegung der Teleskop-Vermutung hat weit reichende Auswirkungen. Doch die wohl tiefgreifendste ist, dass sich die Welt in sehr hohen Dimensionen viel komplizierter darstellt als erwartet.

Eine Karte von einer Kugel zur nächsten

Um Formen oder topologische Räume zu klassifizieren, unterscheiden Mathematiker zwischen Eigenschaften, die von Bedeutung sind, und solchen, die keine Rolle spielen. Die Homotopietheorie ist eine Perspektive, die solche Unterscheidungen trifft. Unter der Homotopielinse sehen ein Ball und ein Ei gleich aus, weil man sie ineinander verformen kann, ohne sie zu zerreißen. In gleicher Weise sind laut Homotopie ein Ball und ein Schlauch grundsätzlich verschieden, weil man ein Loch in den Ball reißen müsste, um ihn in Schlauchform zu bringen.

Homotopie ist nützlich, um topologische Räume (zu denen etwa Kugeln zählen) zu klassifizieren. Sie ist auch wichtig, um etwas anderes zu verstehen, was Mathematiker interessiert: die Abbildungen zwischen diesen Räumen, so genannte Karten. Eine Möglichkeit, die Eigenschaften zweier topologischer Räume zu untersuchen, besteht darin, nach Funktionen zu suchen, die Punkte des einen Raums auf Punkte des anderen abbilden. Übergeben Sie der Funktion einen Punkt in Raum A, dann erhalten Sie einen Punkt in Raum B als Ausgabe.

Um zu verstehen, wie diese Karten funktionieren und warum sie interessant sind, kann man mit einem einfachen Beispiel beginnen: Angenommen, man wollte einen Kreis auf die zweidimensionale Oberfläche einer Kugel, auch Sphäre genannt, abbilden. Dafür kann man sich vorstellen, man wollte ein dünnes Gummiband auf eine Kugel legen. Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, das zu tun. Aus der Sicht der Homotopietheorie sind sie alle äquivalent (»homotop«), weil sie sich alle zu einem Punkt zusammenziehen lassen.

Torus | Auf einem Torus gibt es zwei geschlossene Schleifen, die sich nicht zusammenziehen lassen.

Wenn man hingegen einen Kreis auf die zweidimensionale Oberfläche eines Torus (die Oberfläche eines Donuts) abbildet, ergibt sich ein anderes Bild. Zwar gibt es auch hier unendlich viele Möglichkeiten, das zu tun, und die meisten sind ebenfalls homotop – aber nicht alle. Man könnte einen Kreis horizontal oder vertikal um den Torus legen, und keiner von beiden lässt sich reibungslos in den anderen verformen. Es gibt also zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, einen Kreis auf den Torus abzubilden, während es bei der Kugel nur eine gibt. Das spiegelt einen grundlegenden Unterschied zwischen den beiden Räumen wider: Der Torus hat ein Loch, die Kugel nicht.

Es ist einfach, die unterschiedlichen Abbildungen eines Kreises auf eine zweidimensionale Kugeloberfläche oder einen Torus zu zählen. Schließlich handelt es sich um vertraute Räume, die leicht zu visualisieren sind. Aber das Zählen von Abbildungen wird deutlich schwieriger, wenn man es mit hochdimensionalen Räumen zu tun hat.

Hoch hinaus in Schwindel erregende Dimensionen

Wenn zwei Kugeloberflächen die gleiche Dimension haben, gibt es immer unendlich viele Abbildungen zwischen ihnen. Und wenn der Raum, von dem man abbildet, eine niedrigere Dimension hat als der Raum, auf den man abbildet (wie in unserem Beispiel des eindimensionalen Kreises und der zweidimensionalen Kugel), gibt es immer nur eine Abbildung.

»Die Abbildungen zwischen Sphären sind im Allgemeinen interessanter, wenn die Quelle eine größere Dimension hat«, sagt Jeremy Hahn. Das heißt, dass der Raum, von dem man abbildet, eine höhere Dimension hat, als der Raum, auf den man abbildet. Ein Beispiel wäre, eine siebendimensionale Kugel auf eine dreidimensionale zu übertragen. In solchen Fällen beträgt die Anzahl der möglichen Abbildungen immer eine endliche Zahl, aber nicht zwangsweise eins.

Die genaue Zahl hängt nur von der Differenz in der Dimensionalität ab (sobald die Dimensionen im Vergleich zur Differenz groß genug sind). Das heißt, die Anzahl der Abbildungen von einer 73-dimensionalen Kugeloberfläche auf eine 53-dimensionale ist die gleiche wie die Anzahl der Karten von einer 225-dimensionalen Sphäre zu einer 205-dimensionalen, da in beiden Fällen der Unterschied in der Dimension 20 beträgt.

»Ich erwarte nicht, dass noch zu Lebzeiten meiner Enkelkinder eine vollständige Lösung für diese Frage gefunden wird«Douglas Ravenel, Mathematiker

Mathematiker würden gerne die Anzahl der Abbildungen für jeden beliebigen Dimensionsunterschied kennen. Bislang ist es ihnen nur gelungen, die Anzahl der Karten für fast alle Differenzen zwischen 0 und 100 zu berechnen: Zum Beispiel gibt es 24 Abbildungen zwischen Kugeln, wenn der Unterschied 20 ist, und 3 144 960 verschiedene Karten, wenn der Dimensionsunterschied 23 beträgt.

Jenseits eines Unterschieds von 100 Dimensionen stößt man jedoch auf die Grenzen der Rechenleistung. Gleichzeitig haben Fachleute noch nicht genügend Muster in den Zahlen entdeckt, um weitere Extrapolationen vorzunehmen. Ziel ist es, eine Tabelle zu erstellen, die die Anzahl der Karten für jeden Dimensionsunterschied angibt. Dieses Ziel scheint noch sehr weit entfernt zu sein. »Ich erwarte nicht, dass noch zu Lebzeiten meiner Enkelkinder eine vollständige Lösung für diese Frage gefunden wird«, sagt der 1947 geborene Ravenel.

Die Teleskop-Vermutung sagt voraus, wie die Anzahl der Abbildungen mit zunehmendem Dimensionsunterschied wächst. Tatsächlich besagt sie, dass die Anzahl langsam wächst. Wäre sie wahr, ließe sich die Tabelle etwas einfacher ausfüllen.

Aus Zweifel wird Unglaube

In sehr hohen Dimensionen bricht unsere geometrische Intuition, die in niedrigeren Dimensionen entwickelt wurde, oft zusammen. Es ist zudem extrem schwierig, Abbildungen zwischen Kugeln zu zählen. Ravenel erkannte jedoch, dass das gar nicht nötig ist. Man kann stattdessen Abbildungen zwischen Kugeln und anderen Objekten, so genannte Teleskope, zählen.

Teleskope sind mehrere Kopien einer geschlossenen höherdimensionalen Kurve, von denen jede eine verkleinerte Version der vorhergehenden ist. Die Reihe von Kurven ähnelt den ineinandergreifenden Röhren eines zusammenklappbaren Teleskops. »So bizarr dieses Teleskop auch klingt, wenn man es beschreibt, ist es ein einfacheres Objekt als die Kugel«, sagt Ravenel.

Dennoch lassen sich Kugeln auf viele verschiedene Arten auf Teleskope abbilden. Die Herausforderung besteht darin, zu wissen, wann sich diese Abbildungen wirklich unterscheiden.

Um festzustellen, ob zwei Räume homotop sind, braucht man einen mathematischen Test. Dieser wird meist mit Hilfe einer so genannten Invarianten durchgeführt: Sie beruht auf den grundlegenden Eigenschaften der Räume (etwa der Anzahl ihrer Löcher). Wenn die Berechnung der Invariante für jeden Raum einen anderen Wert ergibt, weiß man, dass sie sich aus homotopischer Sicht unterscheiden.

Es gibt viele Arten von Invarianten. Einige können Unterschiede wahrnehmen, für die andere Invarianten blind sind. Die Teleskop-Vermutung besagt, dass eine Invariante namens »Morava-E-Theorie« alle Abbildungen zwischen Kugeloberflächen und Teleskopen perfekt unterscheiden kann. Das heißt: Wenn zwei Abbildungen laut Morava-E-Theorie unterschiedlich sind, dann ist das auch aus Sicht der Homotopie so – und umgekehrt.

Doch 1989 begann Ravenel, daran zu zweifeln. Seine Skepsis ergab sich aus einigen Berechnungen, die nicht mit der Vermutung übereinzustimmen schienen. Aber erst im Oktober desselben Jahres, als die kalifornische Bay Area während seines Aufenthalts in Berkeley von einem schweren Erdbeben erschüttert wurde, verdichteten sich diese Zweifel zu echtem Unglauben.

Um die Teleskop-Vermutung zu widerlegen, müsste man jedoch eine stärkere Invariante finden, die Eigenschaften wahrnimmt, die der Morava-E-Theorie entgehen. Jahrzehntelang schien es keine solche Invariante zu geben, so dass die Vermutung außer Reichweite blieb. Doch die Fortschritte der letzten Jahre haben das geändert – und Burklund, Hahn, Levy und Schlank haben das genutzt.

Unglaublich viele exotische Sphären

Ihr Beweis stützt sich auf die so genannte algebraische K-Theorie, die in den 1950er Jahren von Alexander Grothendieck begründet wurde und sich im letzten Jahrzehnt rasant weiterentwickelt hat. Sie findet in der gesamten Mathematik Anwendung, auch in der Geometrie, wo sie die Möglichkeit bietet, neue Invarianten zu finden.

Die vier Autoren nutzten die algebraische K-Theorie als Werkzeug: Sie gaben die Morava-E-Theorie ein und erhielten als Ergebnis eine neue Invariante, die sie als »algebraische K-Theorie der Fixpunkte der Morava-E-Theorie« bezeichnen. Dann untersuchten sie mit dieser neuen Invariante die Abbildungen von Kugeln auf Teleskope und fanden Beispiele für Abbildungen, die der Morava-E-Theorie entgehen.

Es ist nicht nur so, dass diese neue Invariante ein paar mehr Abbildungen sieht. Sie nimmt viel mehr wahr, sogar unendlich viel mehr. So viel, dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Morava-E-Theorie kaum an der Oberfläche des tatsächlichen Geschehens kratzte.

Unendlich viele Abbildungen von Kugeln auf Teleskope haben zur Folge, dass es unendlich viel mehr Abbildungen zwischen den Kugeln selbst gibt. Die Anzahl der Abbildungen ist für einen festen Dimensionsunterschied zwar immer noch endlich, aber der neue Beweis zeigt, dass die Anzahl der Abbildungen schnell und unaufhaltsam zunimmt.

Dass es so viele Abbildungen gibt, weist auf eine beunruhigende geometrische Tatsache hin: Es gibt extrem viele ungewöhnliche Kugeloberflächen.

1956 identifizierte John Milnor die ersten Beispiele für so genannte exotische Sphären. Dabei handelt es sich um Räume, die sich aus der Perspektive der Homotopie zu einer Kugeloberfläche verformen lassen – die Umformung aber nicht »sanft« vonstattengeht. Wenn man eine exotische Sphäre zu einer Kugel verändert, tauchen während des Prozesses plötzlich spitze Ecken und Kanten auf. Es gibt keine Möglichkeit, sie wie beim Kneten eines Teigs auf glatte Weise ineinander zu überführen. In einer, zwei oder drei Dimensionen kann es keine solchen Gebilde geben. Bisher tauchen exotische Sphären ab der siebten Dimension auf, wo Milnor sie erstmals fand. Je höher die Dimension, desto mehr exotische Sphären scheinen möglich. Im 15-Dimensionalen gibt es 16 256 und im 19-Dimensionionalen ganze 523 264 exotische Sphären.

»Jeder größere Fortschritt in diesem Bereich scheint uns zu sagen, dass die Antwort viel komplizierter ist, als wir bisher dachten«Douglas Ravenel, Mathematiker

Die Zahlen mögen jetzt schon riesig erscheinen. Doch die Widerlegung der Teleskop-Vermutung bedeutet, dass es noch viel, viel mehr exotische Sphären gibt, als man bisher angenommen hatte. Denn es gibt mehr Abbildungen zwischen den Kugeln und die einzige Möglichkeit, mehr Abbildungen zu erhalten, besteht darin, eine größere Vielfalt an Kugeloberflächen zu haben.

Es gibt zwei Arten des Fortschritts in Mathematik und Wissenschaft. Die eine bringt Ordnung ins Chaos. Eine andere aber verstärkt das Chaos, indem sie hoffnungsvolle Annahmen widerlegt. Zu dieser Kategorie zählt die Widerlegung der Teleskop-Vermutung. »Jeder größere Fortschritt in diesem Bereich scheint uns zu sagen, dass die Antwort viel komplizierter ist, als wir bisher dachten«, sagt Ravenel.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.