Direkt zum Inhalt

Interview: Influenza: »Die Grippewelle in diesem Winter war außergewöhnlich«

In diesem Winter haben sich besonders viele Menschen mit Grippe infiziert. Warum die Grippesaison so stark war und früher als gewohnt startete, erklärt die Epidemiologin Silke Buda vom RKI im Interview.
Eine Frau hält sich den Ellenbogen vors Gesicht und hat gerade Fieber gemessen
Die Grippewelle ging in diesem Winter bereits im Oktober 2022 los. Bis zum 12. Februar 2023 sind 265 000 bestätigte Influenzafälle an das RKI übermittelt worden. In der Saison 2018/2019 gab es bis zu diesem Zeitpunkt lediglich rund 35 000 Fälle.

Bereits im Sommer wurde über eine Rückkehr der Influenza spekuliert: Würde die Grippe, nachdem sie zwei Jahre lang bedingt durch die Coronapandemie und Maßnahmen wie Lockdown, Abstandhalten und Maskenpflicht nur eine untergeordnete Rolle im Infektionsgeschehen gespielt hatte, besonders stark zurückkommen? Die Vermutung erwies sich als richtig. Im Winter wurden in manchen Wochen acht von zehn Schülerinnen und Schülern mit Atemwegsbeschwerden positiv auf das Grippevirus getestet. Die Epidemiologin Silke Buda vom Robert Koch-Institut zieht für »Spektrum.de« eine vorläufige Bilanz des Grippewinters 2022/2023.

»Spektrum.de«: Frau Doktor Buda, der Frühling steht vor der Tür. Die Grippewelle, über die im Vorhinein so viel diskutiert und spekuliert wurde, ebbt langsam ab. Sie haben den Verlauf genau beobachtet. Welche Erkenntnisse haben Sie gewonnen?

Silke Buda: Die Grippewelle in diesem Winter war außergewöhnlich. Denn durch die mit der Coronapandemie verbundenen Vorsichtsmaßnahmen wie Abstand halten und Mundschutz tragen gab es in der Saison 2020/2021 praktisch keine und in der Saison 2021/2022 nur sehr wenige Infektionen. Es ist – auch für die Zukunft – hochinteressant zu beobachten, was geschieht, wenn Influenza nach einer solchen Pause zurückkommt.

Dr. Silke Buda | Die Epidemiologin leitet am Berliner Robert Koch-Institut (RKI) die Arbeitsgemeinschaft Influenza. Silke Buda beobachtet mit ihrem Team ganzjährig nicht nur die Grippe, sondern auch andere akute Atemwegsinfektionen.

Kann man sagen, dass sich durch die wenigen Infektionen das Immunsystem vieler Menschen ein Stück weit »entwöhnt« hat vom Influenzavirus?

Ja, und welche deutlich spürbaren Folgen das hatte, haben wir bereits im Sommer 2022 gemerkt. Wir haben in Deutschland schon seit Längerem ein so genanntes Sentinelprogramm mit einem Netzwerk von Arztpraxen, um die Grippeaktivität und auch andere Atemwegserkrankungen das ganze Jahr zu überwachen: Bei einem kleinen Anteil der Patienten mit Atemwegsbeschwerden wird in ausgewählten Arztpraxen auch im Sommer eine Atemwegsprobe entnommen und im RKI, genauer im Nationalen Referenzzentrum für Influenzaviren, auf verschiedene Atemwegserreger getestet. Normalerweise gibt es da fast kein positives Ergebnis für Influenzaviren im Sommer. In diesem Jahr aber fielen schon im Frühsommer und den ganzen Sommer hindurch vermehrt positive Tests auf Influenzaviren auf.

»Bei den Schulkindern waren teilweise acht von zehn der auf Influenza getesteten Kinder positiv«

Dann fing die Grippewelle also schon im Sommer an?

Wir haben bestimmte Kriterien, ab denen wir von einer Welle sprechen. Die waren im Sommer noch nicht erfüllt. Aber tatsächlich fing die Welle im Herbst deutlich früher an als sonst, und zwar in der 43. Kalenderwoche, also schon im Oktober. Am Anfang waren vor allem Jugendliche betroffen, und das in ungewöhnlich großer Zahl. Bei den Schulkindern waren teilweise acht von zehn der auf Influenza getesteten Kinder positiv. Wir erklären uns das so, dass das Immunsystem vieler Kinder wegen der zwei vorangegangenen Jahre keinen Kontakt mit Influenzaviren hatte. Deshalb haben sich mehr Kinder als sonst das erste Mal mit Influenzaviren angesteckt und eine Erstinfektion geht in dieser Altersgruppe vermutlich häufiger mit den typischen Beschwerden einher. Von den Kindern wiederum ist das Virus dann auch auf andere Altersgruppen übergegangen. Und das wurde ziemlich rasch zum Problem. Denn die Influenzaviren, die bis vor Kurzem kursierten, waren Influenza Typ  A vom Untertyp oder Subtyp H3N2. Dieser Subtyp ist erst vor rund 55 Jahren als neuer Subtyp der Influenzapandemie 1968/69 aufgetaucht.

Warum ist gerade dieser Subtyp problematisch?

Es gibt ein Prinzip namens Imprinting. Demnach spielt die erste Grippeerkrankung im Leben, die man in der Kindheit hat, eine entscheidende Rolle: Gegen die Variante, mit der man sich zuerst infiziert hat, bleibt der Immunschutz ein Leben lang besonders breit. Und da A(H3N2) erst ungefähr vor 55 Jahren aufgetaucht ist, gibt es im Alter von mehr als 65 Jahren fast niemanden mehr, dessen erster Kontakt mit dem Grippevirus eine Infektion mit A(H3N2) war. Deshalb ist der Immunschutz, der ja ohnehin im Alter abnimmt, bei den älteren Menschen gegen A(H3N2) besonders gering. Entsprechend sind ältere Menschen besonders gefährdet, wenn in einer Saison Viren dieses Subtyps zirkulieren. Besonders, wenn sie nicht gegen Grippe geimpft sind.

»Mit Ausnahme der Influenzapandemie 2009 … haben wir in den ganzen Vorjahren keine so frühe Grippewelle erlebt«

Kann man schon sagen, wie viele Menschen diesen Winter mindestens an der Grippe erkrankt sind und wie stark die Grippewelle im Vergleich zu vorangegangenen Jahren ausfiel?

Bis zum 12. Februar sind rund 265 000 bestätigte Influenzafälle in der aktuellen Saison an das RKI übermittelt worden. Zum Vergleich: In der Saison 2018/2019 gab es bis zu diesem Zeitpunkt gerade einmal ungefähr 35 000 Fälle, insgesamt waren es bis zum Ende der Grippewelle dann rund 180 000 Erkrankungsfälle. Auch bei der schweren Grippewelle im Winter 2017/2018 hatten wir bis Mitte Februar ungefähr 57 000 bestätigte Fälle, am Ende waren es dann mehr als 300 000 Fälle. Mit Ausnahme der Influenzapandemie 2009, als die Grippewelle ihren Höhepunkt ebenfalls vor dem Jahreswechsel erreichte, haben wir in den ganzen Vorjahren keine so frühe Grippewelle erlebt. Und obwohl im Meldewesen längst nicht alle Grippeerkrankungen erfasst werden, zeigt sich schon an diesen Zahlen, dass vergleichsweise viele Menschen erkrankt sind.

Es kursierten in diesem Winter ja zudem andere Viren vermehrt, neben Influenzaviren etwa RSV und natürlich noch das Coronavirus Sars-CoV-2. Beeinflussen sich die Viren gegenseitig?

Ja, man spricht dabei von viraler Interferenz. Mit den RS-Viren hatten in diesem Winter vor allem die kleineren Kinder im Alter von zwei Jahren und jünger zu kämpfen. Aber auch bei älteren Kindern kursiert das Virus in der Regel noch: Die Infektionen verlaufen jedoch bei dieser Altersgruppe meist viel milder, weil das Immunsystem RSV aus früheren Infektionen schon kennt und im Griff hat. Das Coronavirus kursierte eher unter Erwachsenen. Aber unabhängig vom Alter stehen alle drei Viren in mancherlei Hinsicht in Konkurrenz zueinander. Leider kennen wir von diesen Interaktionen der Viren untereinander bislang noch keine Details.

Sie meinen, die Viren konkurrieren miteinander?

Wir wissen immerhin, dass es verschiedene Mechanismen auf zellulärer Ebene und im angeborenen unspezifischen Immunsystem gibt, bei dem nach einer Infektion mit einem Atemwegsvirus eine weitere Infektion mit einem anderen Atemwegsvirus eine Zeit lang erschwert wird. In epidemiologischen Studien wurde zum Beispiel gezeigt, dass sich RSV und Influenzaviren eher negativ beeinflussen. Auch bei Sars-CoV-2 und Influenzaviren scheint das der Fall zu sein. Zu Beginn der Covid-19-Pandemie im Vereinigten Königreich kam es zu einer stärkeren parallelen Zirkulation beider Erreger. Doch die Wahrscheinlichkeit, sich nacheinander mit beiden Viren zu infizieren, war deutlich geringer, als es auf Grund der Häufigkeit der beiden Viren statistisch hätte passieren müssen. Eine vorausgehende Influenzainfektion kann aber andererseits auch dazu führen, dass man nachfolgend eher an einer Streptokokkeninfektion erkrankt; diesen umgekehrten Effekt konnte man vor dem Jahreswechsel ebenfalls beobachten.

»Es ist davon auszugehen, dass die Influenza einen spürbaren Anteil an dieser Übersterblichkeit hatte«

Im Dezember gab es in Deutschland eine deutliche Übersterblichkeit: Die Zahl der Todesfälle lag rund 19 Prozent über dem Vergleichswert. In der Woche vom 19. bis 25. Dezember starben sogar 32 Prozent mehr Menschen. Zur gleichen Zeit hatte die Grippewelle ihren Höhepunkt mit mehr als 50 000 neu diagnostizierten Fällen pro Woche. Sind die vermehrten Todesfälle auf die Grippeinfektionen zurückzuführen?

Es ist davon auszugehen, dass die Influenza einen spürbaren Anteil an dieser Übersterblichkeit hatte. Da aber die anderen Viren und insbesondere das pandemische Coronavirus, also Sars-CoV-2, auch zirkulierten, wird es schwierig werden, den genauen Anteil der Influenza herauszurechnen.

Dann, Anfang des Jahres, ebbte die Grippewelle ebenso wie die Übersterblichkeit sehr schnell ab.

Die Grippewelle hat normalerweise im Februar ihren Höhepunkt, manchmal sogar erst im März. Durch den frühen Start hat sich alles ein Stück weit nach vorn verschoben. Dass die Zahl der Influenzafälle Anfang Januar so abstürzte, lag sicherlich auch an den bundesweiten Schulferien: Die Grippewelle wurde sozusagen schneller abgebremst und endete nach unseren Kriterien mit der 1. Kalenderwoche 2023.

In den vergangenen Wochen ist die Zahl der Influenzafälle aber noch einmal angestiegen.

Ja, es haben sich jetzt die Influenza-B-Viren vermehrt durchgesetzt, ihr Anteil an allen Influenzaviren ist in den vergangenen Wochen stark gestiegen. Dass nach der Hauptwelle noch eine kleinere Welle folgt, ist durchaus üblich. Meist folgen Influenza-B-Viren zeitlich den Influenza-A-Viren nach, allerdings ging das in den Vorjahren fließend ineinander über, so dass die Grippewelle zwar dann länger dauerte, aber nicht zwischendurch unterbrochen war. Influenza-B-Viren kommen während saisonaler Grippewellen seit vielen Jahrzehnten vor, ältere Menschen kommen häufig besser damit klar als mit A(H3N2). Ich hoffe, dass sich hier keine zweite Welle mehr aufbaut und die diesjährige Grippesaison in ein paar Wochen hinter uns liegt. Wir beobachten die Situation aber weiterhin sehr genau.

»Der Nutzen von Abstand und Hygienemaßnahmen ist auch bei Influenza enorm hoch, sonst wäre die Grippewelle in den vergangenen beiden Jahren nicht so unterdrückt worden«

Wie geht es im Sommer und im Winter weiter? Was lässt sich aus der letzten Zeit für die nächsten Winter ableiten?

Der Verlauf von Grippewellen lässt sich nicht vorhersagen, daran wird sich auch in absehbarer Zeit nichts ändern. Mit dem Hinzukommen von neuen Viren wie Sars-CoV-2 wird die Einschätzung noch schwerer: Es gibt Überlagerungs- und Interferenzeffekte. Wie sich Sars-CoV-2 zukünftig in das saisonale Geschehen im Winter einordnet, muss sich erst noch zeigen. Aber auch in den Sentinelsystemen haben sich durch die Covid-19-Pandemie Veränderungen ergeben: Der Anteil der positiven Tests kann sich zum Beispiel allein dadurch verändern, dass mehr Patienten mit milderen Atemwegsbeschwerden in die Praxen kommen, die dann getestet werden. Das macht es schwieriger, die Influenzawellen genau einzuschätzen. Trotzdem brachte die letzte Zeit eine Reihe von Erkenntnissen, die auch in Zukunft von Nutzen sein können. Erstens: Der Nutzen von Abstand und Hygienemaßnahmen ist auch bei Influenza enorm hoch, sonst wäre die Grippewelle in den vergangenen beiden Jahren nicht so unterdrückt worden.

Und zweitens?

Rücksichtsvolles Handeln kann sich lohnen! Viele haben bei Covid-19 gelernt, dass Erkrankte zu Hause bleiben sollen. Das Wissen, wie man Ansteckungen vermeidet, ist in der Bevölkerung jetzt sehr viel präsenter. Und gerade bei Influenza kann schnelles Handeln eine gewisse Eindämmung bringen. Denn Influenza hat im Vergleich zu Covid-19 eine sehr kurze Inkubationszeit, das heißt, die Zeit, die zwischen der Ansteckung und den ersten Symptomen vergeht, ist sehr kurz. Wenn also alle Menschen mit typischen Symptomen einer akuten Atemwegsinfektion zu Hause bleiben und den Kontakt zu vulnerablen Personen möglichst vermeiden, könnten viele Influenzaerkrankungen vermieden werden.

Und wir haben noch ein gewisses Risiko gesehen: Obwohl das RKI immer wieder und mit Nachdruck auf die Gefahr der Grippewelle hingewiesen hat, machten sich viele Menschen vor allem Sorgen wegen Covid-19. Es braucht weiterhin ständige Hinweise und Erinnerungen, dass die Influenza eine ansteckende Atemwegsinfektion ist, die zu schweren Krankheitsverläufen führen kann. In diesem Zusammenhang kann man auch in Zukunft wohl nicht oft genug betonen, dass es eine Impfung gegen Influenza gibt, insbesondere für ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen, Mitarbeiter im Gesundheitswesen und weitere Personengruppen. Wenn es um Ansteckung, Verbreitung und Erkrankung geht, kommt es vor allem auf das Verhalten jedes einzelnen Menschen an.

Die »echte« Grippe (Influenza)

Die »echte« Grippe, auch Influenza genannt, wird durch das Grippevirus oder Influenzavirus ausgelöst. Typisch bei der Grippe ist ein plötzlicher, rascher Krankheitsbeginn mit schwerem Krankheitsgefühl, Kopf- und Gliederschmerzen, hohem Fieber und trockenem Husten. Besonders kleine Kinder und chronisch kranke Menschen können schwer erkranken. Manche Menschen werden durch das Influenzavirus aber nur leicht krank, dann ist die Grippe von einer Erkältung kaum zu unterscheiden.

Erkältungen

Die meisten Atemwegsinfekte sind Erkältungen und müssen von der echten Grippe unterschieden werden. Erkältungen kommen besonders in den kalten Herbst- und Wintermonaten vor. Sie beginnen meist schleichend, die Körpertemperatur steigt eher mäßig an und häufig steht ein Schnupfen im Vordergrund. Erkältungen werden durch verschiedene Atemwegserreger verursacht wie etwa Rhinoviren, Parainfluenzaviren, Adenoviren, humane Metapneumoviren, oder respiratorische Synzytialviren (RSV).

Covid-19

Coronaviren sind unter Säugetieren und Vögeln weit verbreitet. Zu den so genannten Beta-Coronaviren gehören unter anderem Mers-CoV (Middle East respiratory syndrome coronavirus), die als »Erkältungsviren« zirkulierenden humanen Coronaviren (HCoV) HKU1 und OC43 sowie Sars-CoV-2 (severe acute respiratory syndrome coronavirus type 2), das Anfang 2020 als Auslöser von Covid-19 identifiziert wurde. Zu den häufigsten Symptomen von Covid-19 zählen Husten, Fieber, Schnupfen sowie Geruchs- und Geschmacksverlust. Der Krankheitsverlauf variiert jedoch stark in Symptomatik und Schwere: Es können symptomlose Infektionen bis hin zu schweren Pneumonien mit Lungenversagen und Tod auftreten.

Quelle: Robert Koch-Institut (RKI)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.