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Geschlechterrollen: »Gender lässt sich nicht losgelöst von der Biologie betrachten«

Der weltberühmte Primatologe Frans de Waal reflektiert über Genderidentität und -diversität und erklärt, was wir von anderen Primaten über Toleranz lernen können.
Schimpansin hält Baby im Arm
Schimpansen sind wie auch Bonobos die biologisch engsten Verwandten des Menschen. Sie sind erst mit 16 erwachsen und lernen bis dahin viel von ihren Artgenossen. Studien zeigten, dass sich Primatenmädchen mehr von ihren Müttern abschauen und Jungen mehr von den männlichen Gruppenmitgliedern.

Am 14. März 2024 ist der Primatologe Frans de Waal mit 75 Jahren gestorben (unser Nachruf: »Abschied von einem großen Tier- und Menschenfreund«). 2023 sprach »Spektrum.de« mit ihm über sein letztes Buch und Genderrollen bei Primaten.

Der niederländisch-amerikanische Primatologe Frans de Waal hat ein neues Buch geschrieben. In »Der Unterschied: Was wir von Primaten über Gender lernen können« geht er der Frage nach, inwieweit sich das soziale Geschlecht (Gender) und das biologische voneinander unterscheiden. Er schaltet sich damit in die Gender-Debatte und das viel diskutierte Thema »nature« versus »nurture« ein: Sind die typischen Verhaltenszüge von Männern und Frauen angeboren oder anerzogen? Er zieht dabei Parallelen zwischen uns und unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen und Bonobos. Im Interview spricht er auch über Geschlechtsidentität sowie Genderdiversität und bricht mit gängigen Rollenklischees.

Herr de Waal, vor 40 Jahren erschien Ihr erstes Buch »Chimpanzee Politics«. Sie forschten jahrzehntelang über Sozialverhalten, Emotionen, Kultur und Moral bei Primaten. Nun wenden Sie sich in Ihrem neuesten Buch dem Thema Gender zu. Warum?

Die Menschen interessieren sich brennend dafür. Jedes Mal, wenn ich vor Publikum über Geschlechterunterschiede bei Primaten spreche, haben die Leute viele Fragen. Philosophen und Psychologen trauen sich oft nicht, offen darüber zu reden. Denn das Thema ist kontrovers, es provoziert Kritik. Wir Biologen sind da weniger gehemmt. Natürlich gibt es einen kulturellen Einfluss darauf, wie sich Männer und Frauen verhalten. Aber das erklärt halt nicht alles.

Frans de Waal | Der niederländisch-amerikanische Primatologe ist Professor emeritus für Psychologie an der Emory University in Atlanta, USA. Er ist durch zahlreiche Buchveröffentlichungen über das Verhalten von Menschenaffen weltweit bekannt geworden.

Haben Sie mit negativen Reaktionen auf das Erscheinen des Buchs gerechnet?

Ich befürchtete, einen Teil der Feministinnen aufzubringen, wenn ich Unterschiede zwischen den Geschlechtern postuliere. Manche von ihnen wollen nichts von Biologie hören. Doch ich glaube, das ist nicht die Mehrzahl. Am Ende regten sich eher diejenigen auf, die nicht an Diversität in der Natur glauben. Hierzu gehören Homosexualität, Bisexualität oder Tiere, die sich nicht gendertypisch verhalten. In den USA gibt es viele Menschen, die denken, Transgender sei eine bewusste Lebensentscheidung oder eine vorübergehende Phase. Diese Leute sind es eher, denen die Biologie ein Dorn im Auge ist.

Ich hörte einen Sozialwissenschaftler äußern: »Biologen können nichts über Gender sagen!« Was würden Sie antworten?

Ich denke, Gender lässt sich nicht losgelöst von der Biologie betrachten. Der Grund dafür, dass wir einen Gender-Dualismus haben, ist, dass es hauptsächlich zwei biologische Geschlechter gibt. Ich halte es für sehr sinnvoll, über Gender und den kulturellen Einfluss darauf zu sprechen. Trotzdem existiert eine Interaktion mit der Biologie. Wir sind nun einmal Tiere, die sich gegenseitig beeinflussen – wir nennen es Kultur. Also ja, ich denke, Biologen können etwas dazu sagen (lacht). Außerdem kann man bei anderen Primaten ebenfalls von Gender sprechen.

»Philosophen und Psychologen trauen sich oft nicht, offen darüber zu reden«

Inwiefern?

Schimpansen und Bonobos sind erst mit 16 erwachsen. Bis dahin müssen sie viel lernen. Auch Menschen sammeln über Jahre Erfahrungen, um kompetente Erwachsene zu werden. Primaten schauen sich Verhalten von ihren Artgenossen ab. Manches davon ist praktisch, wie etwa Nahrungsvorlieben oder wie man Feinden entkommt. Doch sie lernen ebenso, wie man sich als Affenfrau oder Affenmann verhält. Das heißt, sie stehen unter kulturellem Einfluss. Laut Untersuchungen schauen sich Primatenmädchen mehr von ihren Müttern ab und Jungen mehr von den männlichen Gruppenmitgliedern um sie herum. Ich nenne das »Selbstsozialisation«. Beispielsweise zeigte eine 2021 erschienene Studie, dass Orang-Utan-Mädchen im Dschungel exakt das Gleiche essen wie ihre Mütter. Die Söhne hingegen nehmen Dinge zu sich, die ihre Mutter niemals anrühren würde. Sie orientieren sich an dem, was den erwachsenen Männern schmeckt.

Müssen die Tiere dafür über eine angeborene Geschlechtsidentität verfügen?

Ja, das ist vermutlich notwendig. Damit sich Affenmädchen an den weiblichen Individuen orientieren und Affenjungen an den männlichen, müssen sie wissen, wer sie sind. Die US-amerikanische Biologin und Transfrau Joan Roughgarden übertrug die Idee auf Transgenderkinder. Wenn etwa ein Kind als Junge geboren wurde, sich aber als Mädchen identifiziert, dann orientiert es sich an den Frauen um sich herum. Jeder Mensch wird mit einer Genderidentität geboren, bis auf die wenigen, die intersexuell auf die Welt kommen. Diese Identität ermöglicht den Prozess der Selbstsozialisation. Ich glaube, dass viele kulturelle Effekte von Gender so übertragen werden – bei uns wie bei anderen Primaten.

Sie schreiben von Transgender bei Menschenaffen. Bitte erzählen Sie uns von Donna.

Donna | Die Schimpansin lebte im Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta und kam biologisch weiblich auf die Welt. Sie war jedoch nicht genderkonform und zeigte Verhaltensweisen, die typisch für Schimpansenmänner sind. Auch hatte sie ein eher männliches Erscheinungsbild. Sie war friedlich und gut integriert.

Ich bin nicht sicher, ob sie sich als transgender bezeichnen würde – ich kann sie nicht fragen. Donna lebte im Yerkes-Primatenzentrum in Atlanta. Sie wurde als Schimpansin geboren, liebte es aber, sich mit mir und erwachsenen Affenmännern zu prügeln. Das ist gendertypisches Verhalten, wie man es von männlichen Individuen erwartet. In jungen Jahren tragen sie ausgiebige Scheinkämpfe aus. Wenn sie älter werden, interessieren sie sich für Dominanz, Macht und Kämpfe. Als Donna älter wurde, ähnelte sie körperlich immer mehr den männlichen Schimpansen mit ihren breiten Schultern und verbrachte mehr Zeit mit ihnen als mit den Affenfrauen ihrer Gruppe. Vielleicht hat sie sich mit den Männern identifiziert. Es gibt bei anderen Primaten vermutlich eine ähnliche Genderdiversität wie bei Menschen.

Sie stellen Vergleiche zwischen uns und unseren nächsten Verwandten an, den Bonobos und den Schimpansen. Weshalb ist es so wichtig, beide Spezies zu betrachten?

Es gibt keine einfachen Antworten auf die Genderfragen. Gender resultiert aus einer Interaktion aus Genen und Umgebung. Und wir haben zwei nahe Verwandte, die sich auch noch sehr unterschiedlich verhalten. Menschen behaupten ständig so etwas wie »Natürlicherweise dominieren Männer die Frauen«. Aber bei Bonobos dominieren weibliche Individuen, bei Schimpansen ist es umgekehrt. Es ist also kompliziert.

Kann man sagen, ob wir mehr der einen oder der anderen Art gleichen?

Nein, genetisch sind sie uns gleichermaßen nah. Es gibt eine Genomstudie von Svante Pääbo, der für seine Neandertalerstudien gerade einen Nobelpreis bekommen hat. Seine Gruppe analysierte das Erbgut von Schimpansen und Bonobos und fand heraus, dass uns beide genetisch exakt gleich nah sind. Anatomisch sehen wir den Bonobos ähnlicher, aber ich weiß nicht, ob das eine Bedeutung hat.

»Wir sind nun einmal Tiere, die sich gegenseitig beeinflussen – wir nennen es Kultur«

Menschen, Schimpansen und Bonobos trennen sechs Millionen Jahre Evolution. Kann man unsere Verhaltensweisen dennoch miteinander vergleichen? Wir haben uns kognitiv immerhin weiterentwickelt.

Ich bin nicht sicher, ob das die größte Veränderung ist. Neben einem höheren Grad an Kooperationsfähigkeit ist es für mich die Tatsache, dass wir Kernfamilien entwickelten und dass Männer in die Familie einbezogen wurden. Das war ein riesiger Schritt. Die männlichen Schimpansen und Bonobos kümmern sich kaum um den Nachwuchs. Weitere Unterschiede finden wir auf kognitiver Ebene wie der Sprache oder Kultur. Also ja, wenn wir andere Primaten mit uns vergleichen, sollten wir im Kopf behalten, dass uns Millionen von Jahren der Evolution trennen. Trotzdem sind wir ihnen sehr nah, und menschliche Genderunterschiede weisen so viele Parallelen zu denen anderer Primaten auf, dass man von einem evolutionären Einfluss sprechen kann.

Kommen wir zu diesen Geschlechterunterschieden im Detail. Was verrät uns der Blick auf unsere nächsten Verwandten bezüglich Aggressionspotenzial?

Schauen Sie sich nur die Mordstatistiken an. Bei uns und fast allen anderen Primaten sind die männlichen Individuen gewaltbereiter. Das ist auch der Grund, wieso Mädchen und Jungen auf Spielplätzen oft getrennt spielen. Jungen gehen rauer miteinander um. Das Raufen ist wichtig, um zu lernen, wie man seine Kräfte zügelt und einsetzt. In den USA gibt es »No Touch«-Gesetze in den Schulen. Die Lehrer wollen damit Aggressionen und unerwünschten Körperkontakt eindämmen. Doch ich glaube, dass es für Jungen wichtig ist, diese Erfahrungen zu machen.

Einige Eltern erziehen ihre Kinder genderneutral. Was denken Sie darüber?

Zwei Dinge wissen wir mit Sicherheit: Jungen werden physisch stärker sein und körperlich gewaltbereiter. Wir müssen sie lehren, ihre Kraft konstruktiv zu nutzen und nicht missbräuchlich. Man kann nicht so tun, als ob es diese Unterschiede nicht gäbe. Außerdem entwickeln Jugendliche sexuelle Interessen, und die sind nie genderneutral, zumindest nicht für den allergrößten Teil der Menschen. Egal ob sie homo- oder heterosexuell sind – die Anziehung ist meist gendergebunden. Bei Kindern unter zehn Jahren macht eine solche Erziehung vermutlich nicht viel aus. Aber wir wissen noch sehr wenig darüber. Ganz davon abgesehen denke ich, dass Gender nicht das Problem in der Gesellschaft ist.

»Menschen müssen nicht gleich sein, um einander ebenbürtig zu sein«

Sondern?

Ich stimme zu, dass Ungleichberechtigung ein großes Problem ist und Frauen mehr darunter zu leiden haben als Männer. Das Traurige ist, dass sich für Frauen zwar viel zum Guten gewendet hat, konservative Gruppen und Parteien die Uhren jedoch wieder zurückdrehen wollen. Nehmen Sie nur die Abtreibungsgesetze in den USA. Trotzdem versteifen sich viele Menschen auf Gender als das Problem. Sie sagen, dass wir genderneutral sein müssen, oder bestehen darauf, Gender sei rein kulturell bedingt. Doch ich denke, das Problem ist die Ungleichbehandlung. Menschen müssen nicht gleich sein, um einander ebenbürtig zu sein.

Diese Denkweise, dass Geschlechterunterschiede ein rein soziales Konstrukt seien – was glauben Sie, woher kommt die?

In Psychologie und Philosophie gibt es die Tendenz, den menschlichen Geist als etwas ganz Besonderes zu betrachten, losgelöst vom Körper und der Evolution. Dieser Dualismus kam ursprünglich von Männern. Sie stellten sich als die großen Denker dar, im Kontrast zu den emotionalen Frauen und zu Tieren, die dumm oder wie Maschinen für sie waren. Und dann kam eine Welle von Feministinnen, die den Dualismus adaptierten. Sie waren ebenfalls sehr auf den Intellekt fokussiert. Sie lehnten die Vorstellung ab, dass unser Körper einen großen Einfluss auf unser Verhalten hat. Und jetzt gibt es Feministinnen, die anerkennen, dass der Körper eine wichtige Rolle spielt und sie damit etwas tun können, was Männern versagt bleibt. Die Bewegung spricht von Empowerment, vom Feiern des weiblichen Körpers, vom Reichtum der Erfahrungen, die er in einer Gesellschaft mit sich bringt.

Gender

Der Begriff Gender bezieht sich auf die kulturelle Ausprägung und die sozialen Normen für maskulines und feminines Verhalten und alles, was dazwischenliegt. Es beschreibt auch, ob sich eine Person als männlich, weiblich oder nichtbinär identifiziert. Die Genderidentifikation stimmt nicht automatisch mit dem biologischen Geschlecht überein.

Was erzählt uns das Spielverhalten kleiner Primaten und Kinder über Geschlechterunterschiede? Sie haben dem Thema das erste Kapitel gewidmet.

Die Gesellschaft ist sehr darauf fokussiert. Soll ich meinem Jungen oder Mädchen Puppen oder Lastwagen zum Spielen geben? Als ob Eltern die kindliche Faszination kontrollieren könnten! Sie erliegen der Illusion, dass sie der wichtigste Faktor in der Sozialisation ihrer Kinder seien. Ich glaube, dass sich Kinder zu einem großen Teil selbst sozialisieren. Kleine Mädchen haben ein starkes Interesse an Puppen – das ist natürlich nicht bei allen so, wir sprechen hier von Durchschnittswerten. Manche Jungen spielen auch gern mit Puppen. Aber man sieht ein wiederkehrendes Muster bei allen menschlichen Kulturen sowie bei 200 verschiedenen Primatenspezies: Weibliche Individuen fühlen sich stärker von Nachwuchs angezogen als männliche. Das ist ein typisch weibliches Interesse. Dennoch halte ich nichts von dem Begriff Mutterinstinkt.

Warum?

In der Natur sieht man häufig junge Primatinnen mit Steinen oder Stöcken auf dem Rücken herumlaufen, für die sie Nester bauen. Sie üben die Mutterrolle. Das müssen sie, denn sie haben noch keine Erfahrung damit. Sie wüssten nicht, wie sie mit einem Baby umgehen sollen. Daher passt der Begriff Mutterinstinkt nicht. Wenn eine Gorillafrau im Zoo schwanger ist und nie zuvor ein Baby bekommen oder gesehen hat, dann wird das schiefgehen. Sie weiß nicht, dass sie es stillen muss und wie das geht. Aber wenn sie andere Gorillafrauen oder auch Menschenmütter dabei beobachtet, kann sie es imitieren. Sie ist biologisch darauf geeicht, sich für Nachwuchs zu interessieren und sich mit dem entsprechenden Verhalten zu identifizieren.

Männliche Affen kümmern sich jedoch ebenfalls hin und wieder um Nachwuchs. Ganz zu schweigen von Menschen.

Die männlichen Primaten haben viel mehr Potenzial, als wir denken. Das gilt für Schimpansen wie für Bonobos. Wenn eine Affenmutter stirbt, kommt es vor, dass ein Mann aus der Gruppe ihren Nachwuchs adoptiert. Der Schweizer Verhaltensforscher Christophe Boesch hat zehn solcher Fälle in Westafrika dokumentiert. Selbst Alphamänner hatten verwaiste Babys angenommen – nicht nur für einige Tage, sondern manchmal für Jahre. In den 1990er Jahren gab es Experimente, die wir heute so nicht mehr machen würden: Man nahm Makakenmüttern ihre Kleinen weg und setzte sie in reine Männergruppen. Jahre später verglich man sie mit solchen, die normal aufgewachsen waren, und fand keine Unterschiede. Die männlichen Individuen hatten einen guten Job gemacht. Sie trugen das Potenzial in sich und konnten ihr Verhalten anpassen. Dieses Potenzial sehen wir erst recht beim Menschen.

Wie hat sich das entwickelt?

Als sich die Kernfamilien bildeten, übernahmen die Männer vermutlich erst einmal die Rolle des Beschützers und Ernährers. Später wurden sie mehr und mehr in die Familie integriert. Das ist der evolutionäre Sprung unserer Spezies. Es gibt Studien mit allein erziehenden Vätern aus Israel. Als diese zum Hauptversorger wurden, wies ihr Gehirn zunehmend mütterliche Eigenschaften auf, und ihr Oxytozinspiegel im Blut stieg an – etwas, was durch Neuroplastizität ermöglicht wird. Konservative diffamieren moderne Genderrollen oft als etwas Unnatürliches. Aber das ist offensichtlich Quatsch. Wir Biologen haben schlecht vermittelt, wie flexibel die Natur ist.

Weil häufig nur über Durchschnittswerte gesprochen wird?

Ja, genau. Auch wir Primatologen schauen gern auf die typischen Fälle: typisch männlich, typisch weiblich. Wir reden wenig über Variabilität. Homosexuelles Verhalten ist gängig bei allen möglichen Primaten, Bonobos sind sogar bisexuell. Was wir oft vergessen, ist, dass die Natur viel Raum für individuelle Varianz gibt. Ohne sie wäre Evolution nicht möglich. Die traditionelle Sicht ist, dass uns die Biologie Instinkte mitgibt und wir das tun, was sie uns vorschreiben. Ich halte das für falsch, und es ist schade, dass wir diesen Eindruck vermittelt haben. Zum Glück wird individuelle Variabilität wichtiger in der Biologie. Und auch Persönlichkeit bekommt einen größeren Stellenwert in der Verhaltensforschung.

Sie schreiben, dass sich durch den Zustrom weiblicher Primatologen viel auf dem Gebiet verändert hat.

Als ich in der Primatologie anfing, war das Gebiet noch männerdominiert. In den 1970er und 1980er Jahren kamen mehr Frauen dazu, jetzt stellen sie die Mehrheit. Die männlichen Forscher interessierten sich vornehmlich für Dominanz und Hierarchien, die Frauen mehr für familiäre Beziehungen und »female choice« bei Primaten. Die Perspektiven änderten sich. Das stereotype Bild von weiblicher Passivität verschwand allmählich.

Primaten

Die Ordnung der Primaten umfasst die Unterordnungen der Feuchtnasenprimaten (zum Beispiel Lemuren) und der Trockennasenprimaten. Zu Letzteren gehören unter anderem die Altweltaffen, die sich in die Meerkatzenartigen und die Menschenartigen (Hominoidea) unterteilen. Zu den Menschenartigen gehören auf der einen Seite die Gibbons, auf der anderen Seite die Menschenaffen inklusive der Menschen (Homo sapiens), Gorillas, Orang-Utans, Schimpansen und Bonobos.

Erzählen Sie uns davon.

»Die Männchen wollen Sex, die Weibchen akzeptieren ihn.« Diese Sichtweise hatte selbst Charles Darwin, es ist eine viktorianische. Sie begann zu bröckeln, als wir ab den 1970er Jahren Vaterschaftstests bei Vögeln durchführten. Wir hielten Singvögel immer für monogam und dachten, alle Eier im Nest müssen von einem Männchen stammen. Tatsächlich werden sie von verschiedenen Individuen befruchtet. Biologen vermuteten Vergewaltigung dahinter. Mittlerweile wissen wir jedoch: Weibchen suchen aktiv nach anderen Partnern. Bei Primaten haben wir sehr viele Belege dafür, wie abenteuerlustig die weiblichen Individuen sind.

Bei uns Menschen wird das stigmatisiert.

Es gibt spannende Studien an US-Universitäten dazu. Man fragte Studentinnen und Studenten nach der Anzahl ihrer Sexualpartner. Bei den Männern waren es immer deutlich mehr, vielleicht zehn, und bei den Frauen zwei. Wurden sie an einen vermeintlichen Lügendetektor angeschlossen, blieben die Männer bei ihren Angaben, die Frauen nannten plötzlich mehr. Religion und Gesellschaft dulden die weibliche Abenteuerlust nicht, das ist in vielen Teilen der Welt noch so. Zugleich zeigen solche Studien, wie unzuverlässig Befragungen sein können: Ich bin froh, dass ich mich damit nicht befassen muss.

»Es gibt sehr viel weibliche Macht«

Wenn wir über Primatenverhalten sprechen, tauchen häufig solche falschen Rollenzuschreibungen auf, etwa, dass Weibchen weniger hierarchisch seien und daher Gruppen nicht anführen könnten.

Die Leute haben all diese Stereotype in ihren Köpfen, doch wenn man sich Schimpansinnen und Bonobofrauen anschaut, bleibt wenig davon übrig. Ihre Führungsqualitäten sind sehr weit entwickelt, in allen Primatengruppen sieht man weibliche Hierarchien. Auch bei Hyänen, Löwen oder Elefanten – alles Gemeinschaften mit einem Weibchen an der Spitze. Außerdem muss man bei der Dominanzfrage zwischen körperlicher Dominanz und politischer Macht trennen. Und ja, physisch dominieren die Männchen, aber nicht im Sinne von Macht. Das gilt für Bonobos und andere Tiere, es gibt sehr viel weibliche Macht.

Gibt es neben Alphamännchen demnach immer starke Alphaweibchen?

Sie koexistieren. Keine Primatengruppe würde zwischen beiden eine Wahl treffen. Häufig bilden sie ein Team und haben ein gutes Verhältnis zueinander. Der Begriff Alphamann hat leider eine negative Konnotation. Menschen wachsen grundsätzlich mit der simplifizierten Sicht auf, dass Primaten diktatorische, aggressive Männer haben. Das kommt von alten Studien mit Pavianen, also einer Spezies, die evolutionär weit weg von uns steht. Dieses Bild findet sich auch in der Business-Literatur wieder. Ein bisschen bin ich dafür verantwortlich, denn der Begriff stammt unter anderem aus meinem Buch »Chimpanzee Politics«. Doch ich meinte damit nie einen bestimmten Persönlichkeitstyp. Ein Alphamann ist das Individuum an der Spitze. Er kann nett sein oder schrecklich. Ich habe sehr beliebte Anführer kennen gelernt, die Frieden wahrten. Ich kenne allerdings auch üble Diktatoren. Die Gruppe wird sich ihrer meist entledigen.

Mama | Die Schimpansin lebte im Burgers’ Zoo in Arnheim und war 40 Jahre lang die Alphafrau in der Kolonie.

Das heißt, Tyrannen sind weniger erfolgreich?

Ich denke, ja. Dazu gibt es jedoch wenig Daten. Meinen Beobachtungen zufolge werden sie häufig verbannt oder getötet.

Führen weibliche Alphatiere anders als männliche?

Die weibliche Hierarchie ist stabiler und weniger physisch, ältere Primatinnen sind im Vorteil. Das ist bei Alphamännern nicht so, sie werden irgendwann vom Thron gestoßen. Mama, die Alpha-Schimpansin aus dem Burgers’ Zoo (ich beschreibe sie in meinem Buch »Mama’s Last Hug«), war 59 Jahre alt, als sie starb – sie konnte kaum noch laufen und war fast blind. Trotzdem war sie zu dem Zeitpunkt seit 40 Jahren die Alphafrau gewesen. Ein männlicher Schimpanse hätte das niemals geschafft.

Herr de Waal, eine Frage zum Schluss: Was können wir von anderen Primaten über Toleranz lernen?

Ich habe nie beobachtet, dass Primaten intolerant gegenüber Individuen sind, die sich anders verhalten. Ausnahmen machen sie nur bei Unruhestiftern. Aber nicht bei Artgenossen wie Donna. Wir können von ihnen viel über Toleranz lernen. Menschen neigen dazu, Eigenschaften mit Etiketten zu versehen, und wollen, dass alle diesen entsprechen. Manchmal verwenden wir die Kategorien jedoch auf intolerante Weise. Das tun Tiere nicht, denn sie sind nicht linguistisch. Was können wir daraus lernen? Selbst wenn es typische Formen gibt: Wir haben nun mal diese Genderdiversität und sollten das akzeptieren.

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