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Krieg in Nahost: Die Drahtzieher und Diplomaten

Den Nahostkonflikt trugen Israelis und Palästinenser noch nie allein aus. Ein komplexes Interessensgeflecht treibt ihn an und bietet zugleich die beste Chance auf Lösung.
Panzer der israelischen Armee bei der Vorbereitung einer Bodenoffensive
Ein Panzer der israelischen Armee beim Aufmarsch für die offenbar bevorstehende Bodenoffensive in den Gasastreifen. Lösen kann man den Konflikt auf diese Weise nicht, sagen Fachleute: Doch die Interessenlage der Staaten um Israel ist komplexer, als sie zunächst scheint.

Als »unser 11. September« beschrieb der Sprecher der israelischen Streitkräfte Major Nir Dinar den Angriff der Hamas auf Israel am Morgen des 7. Oktober 2023. Aus dem Gasastreifen heraus haben die Kämpfer der palästinensischen Widerstandsbewegung mit tausenden Raketen und Hunderten von Angreifern den Süden Israels überfallen. Die Terroristen richteten in mehreren Orten ein Blutbad an und töteten binnen weniger Stunden mehr als 1200 Personen, darunter zahlreiche Babys. Zudem verschleppten sie 199 Personen als Geiseln in den Gasastreifen. Die israelische Armee reagierte vielerorts gar nicht oder viel zu spät auf den Angriff. »Sie haben uns kalt erwischt«, sagt Dinar dazu.

Seither wird unter Politikern und Medienbeobachtern ein neuer, großflächiger Nahostkonflikt befürchtet, der weitere arabische Staaten sowie den Iran einbeziehen könnte. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj etwa warnt sogar eindringlich vor dem Ausbruch eines Weltkriegs: »Wir haben Daten, die klar beweisen, dass Russland daran interessiert ist, im Nahen Osten einen Krieg loszutreten«, teilte Selenskyj am 10. Oktober bei X, vormals Twitter, mit. Alle Weltkriege hätten mit »lokalen Aggressionen begonnen«, sagte Selenskyj in Hinblick auf den derzeitigen Krieg zwischen der Hamas und Israel.

Das Hauptziel der Hamas ist die Beseitigung des 1948 gegründeten Staates Israel. Danach soll in »Palästina« ein islamischer Staat entstehen. Der Name hat zwei Bedeutungen: Als Akronym steht der Begriff für Ḥarakat al-muqāwama al-islāmiyya, das heißt »Islamische Widerstandsbewegung«. Zugleich bedeutet Hamas auf Arabisch so viel wie »Begeisterung«. Die Gruppierung wurde 1987 während der Ersten Intifada, dem ersten großen Palästinenseraufstand gegen Israel, gegründet. (Mehr zur Geschichte des Nahostkonflikts auf Spektrum.de: »Ein Jahrhundert der Feindschaft« ).

Auf Grund ihrer radikal-islamischen Ausprägung sowie der zahlreichen Attentate und Raketenangriffe auf die israelische Zivilbevölkerung wird die Hamas von den USA, der EU und Israel als Terrororganisation eingestuft. Unterstützung erhält sie schon seit Jahren vom Iran. Das Regime in Teheran ist zwar der Hauptvertreter des schiitischen Islam, während die Hamas der sunnitischen Strömung angehört. Beide verbindet jedoch die gemeinsame Feindschaft mit Israel. Auch die schiitische Hisbollah im Libanon unterstützt die Hamas. Unmittelbar nach dem jüngsten Angriff erklärte sie der Palästinenserorganisation ihre Solidarität und bot Waffenhilfe an.

Als der Frieden einmal zum Greifen nah war

Die Hamas selbst stellt seit 2007 die Autonomieregierung im Gasastreifen. Zuvor hatte sie sich bei demokratischen Wahlen im Jahr 2006 sowie im Zuge eines gewaltsamen Machtkampfs gegen die eher sozialistische palästinensische Fatah-Bewegung durchgesetzt. Deren Anführer Mahmoud Abbas ist in Ramallah (Westjordanland) ansässig und international als Palästinenserpräsident anerkannt. Er übernahm zudem die Führung der ältesten Palästinenserorganisation PLO von seinem berühmten Vorgänger Jassir Arafat nach dessen Tod im Jahr 2004.

Palästinenserchef Arafat wiederum hatte gut zehn Jahre zuvor in einem geschichtsträchtigen Moment in Washington mit dem israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin das Friedensabkommen von Oslo unterzeichnet. Damals, im September 1993, schien eine Einigung greifbar nah. Doch Rabin wurde 1995 von einem fanatischen israelischen Gegner seiner Friedenspolitik ermordet. Und auf Seiten der Palästinenser begannen radikale Gruppen wie die Hamas, gewaltsam gegen das Abkommen zu opponieren.

Friedensnobelpreisträger | Der Friedensprozess führt lange Zeit zu unvorstellbaren Szenen der Einigkeit zwischen Israel und Palästina. Jassir Arafat, Schimon Peres und Jitzchak Rabin (von links nach rechts) präsentieren ihre Urkunden.

Seither hat sich einigen halbherzigen Versuchen zum Trotz die Situation zwischen beiden Lagern nicht weiter entspannt. Insbesondere seitdem die Hamas im Gasastreifen die Herrschaft erlangte, sitzen die Ansprechpartner Israels nur noch im Westjordanland. Ihr Kanal zur Fatah beziehungsweise zu PLO-Vertretern reicht offensichtlich nicht aus, um mit den Hardlinern im gegnerischen Lagern ins Gespräch zu kommen. Insofern wirkt der Appell des ehemaligen Mitverfassers des Osloer Friedensabkommens Jossi Beilin, Israel sollte wieder »mit der PLO verhandeln«, hilflos.

Die Hamas erhalte auch weiterhin Zulauf, »weil die Lage in den Palästinensergebieten so hoffnungslos ist, wie sie ist, und weil Friedensanläufe immer wieder gescheitert sind«, fasst Ulrike Freitag vom Zentrum Moderner Orient (ZMO) und Institut für Islamwissenschaften der Freien Universität Berlin im Gespräch mit »Spektrum der Wissenschaft« zusammen. Verhandelt werden müsse also mit der Hamas. Doch diese Chance scheint nach den jüngsten Massakern vertan, möglicherweise für immer. Zumindest wenn es nach dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu geht. Er will die Hamas »vom Antlitz der Erde fegen«. Das »Ding Hamas« sei »schlimmer als der IS« und werde aufhören zu existieren.

Arabische Staaten warnen vor Gegenschlag

Die Freunde der Hamas schweigen zu den Gräueltaten der Gruppierung, warnen aber eindringlich die israelischen Streitkräfte vor Vergeltungsangriffen. Von den 22 arabischen Nationen wird einhellig die Meinung vorgetragen: Wer wie Israel die Palästinenser so schlecht behandle, sei im Grunde selbst schuld daran. Die Palästinenser hätten sich lediglich gegen einen übermächtigen Feind gewehrt. Dies brachte zum Beispiel der irakische Premierminister Mohammed Schia As-Sudani unmittelbar zum Ausdruck. Die Angriffe der Hamas seien eine »natürliche Folge der systematischen Unterdrückung«, der sich das palästinensische Volk ausgesetzt sehe, ließ er als Botschaft verbreiten. Ähnlich äußerten sich Vertreter von Katar, dem Gastgeberland der Fußball-WM von 2022.

Deutlicher wurde die schiitische Hisbollah im Libanon, die von einer »heldenhaften Aktion« sprach, während das Mullah-Regime in Teheran gar offiziell zum »Erfolg« gratulierte.

Die radikal-schiitische Regierung Irans hatte nach dem Sturz des Shahs 1979 und ihrer Machtübernahme Israel zum zweiten »Erzfeind« neben den USA erklärt. Insofern decken sich Irans Ziele mit denen der Hamas. Bekannt ist, dass vor allem Geld, aber auch militärisches Knowhow über Jahre aus Teheran an den winzigen Küstenstreifen am Mittelmeer flossen. Die USA und auch die deutsche Regierung beschuldigen Teheran darum, die Hamas überhaupt erst dazu befähigt zu haben, den Angriff auf Israel ausführen. Das Mullah-Regime sei der »Drahtzieher« hinter der Attacke, heißt es in Washington und Berlin. Eine aktive Beteiligung am Großangriff streitet die Regierung des Iran allerdings ab.

Die andere Großmacht der Region ist Saudi-Arabien. Der Golfstaat verhielt sich seit Längerem schon nicht mehr als Hardliner gegen Israel, nun aber sehen die Machthaber in Riad die Notwendigkeit, sich an die Seite der »gemeinsamen arabischen Sache« zu stellen, schlimmer noch, sich mit dem größten ideologischen Feind, dem Iran, auf eine Seite zu schlagen. Wie die staatliche saudische Nachrichtenagentur SPA am 11. Oktober berichtete, habe es Gespräche zwischen Kronprinz Mohamed bin Salman und Irans Präsident Ebrahim Raisi über die Lage gegeben.

Botschaft nach Teheran | Das saudische Königshaus und Iran bemühten sich zuletzt um gute Beziehungen, beide hätten sie kein Interesse an einer Eskalation des Kriegs, sagen Experten. Hier begrüßt der iranische Außenminister Hossein Amir-Abdollahian den neuen saudischen Botschafter Abdullah bin Saud al-Anazi (links).

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der sich schon lange als Fürsprecher der islamischen Welt geriert, unterstützt die Hamas seit Jahren. Sein Vize-Bildungsminister Nazif Yilmazize übertraf alles bisher zwischen Ankara und Jerusalem Gesagte, indem er am 11. Oktober Netanjahu auf X den Tod wünschte. Der Post wurde etwa 30 Minuten nach Veröffentlichung wieder gelöscht, war jedoch bereits von tausenden Lesern geteilt worden. Die Türkei will Hilfsgüter nach Gasa liefern und ruft Israel zur Mäßigung auf. Eine Verurteilung der Gräueltaten der Hamas war aus Ankara nicht zu vernehmen.

Russland profitiert von der abgelenkten Weltöffentlichkeit

Vermutlich am meisten profitiere Russland von der aktuellen Lage, sagt die Nahostexpertin Freitag, da nun die Aufmerksamkeit des Westens von einem weiteren Krieg in der Nachbarschaft in Anspruch genommen werde. Zahlreiche deutsche Medien berichteten übereinstimmend, dass nach Angaben des russischen Außenministeriums die russische Regierung Kontakte zur Hamas unterhält. Demzufolge soll der Nahostbeauftragte des Kreml Vizeaußenminister Michail Bogdanow mehrfach im Lauf dieses Jahres Telefonate und persönliche Gespräche mit Hamas-Vertretern geführt haben, offenbar aber nicht, um zu vermitteln.

Die Auswirkungen auf den Iran sind der Berliner Forscherin zufolge bedeutend unklarer: »Einerseits besteht kein Zweifel an der grundsätzlichen Ablehnung von Israels Existenzrecht durch die aktuelle iranische Führung, andererseits hatte sich das Land gerade Saudi-Arabien angenähert.« Saudi-Arabien wiederum führte unter Vermittlung der Vereinigten Staaten Friedensverhandlungen mit Israel, die fast spruchreif waren. Einem Abkommen rechtzeitig zuvorzukommen, mag für die Hamas einer der Gründe für die Wahl des Angriffszeitpunkts gewesen sein, meint Ulrike Freitag. Daneben spielte wohl auch der 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Kriegs von 1973 eine Rolle, damals war Israel ebenfalls von einem Überraschungsangriff seiner Nachbarstaaten überrumpelt worden.

Die saudisch-iranischen Verhandlungen auf der einen Seite und die saudisch-israelischen auf der anderen hätten nach Meinung der Forscherin dem Regime in Teheran »neue Gesprächskanäle in die USA« eröffnet – Gesprächskanäle, die nun verschlossen zu bleiben drohen. »Insofern ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass der Iran zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein wirkliches Interesse an einem neuen gewaltsamen Großkonflikt hat«, sagt Freitag.

Auch als »Drahtzieher« will sie den Iran nicht verstanden wissen. Genau so wenig habe Saudi-Arabien Interesse an dem aktuellen Konflikt. Zumal die Hamas mit ihrer Nähe zur radikalen Muslimbruderschaft beim saudischen Königshaus ausgesprochen unbeliebt ist.

Wird Israel den Gasastreifen besetzen?

Wie sich die Situation in den kommenden Tagen weiterentwickeln wird, ist Beobachtern zufolge noch völlig offen. Im US-Fernsehsender CBS äußerte der Nationale Sicherheitsberater des Weißen Hauses Jake Sullivan am 15. Oktober die Befürchtung, dass die von Iran finanzierte und ausgebildete Hisbollah im Südlibanon eine »zweite Front« gegen Israel eröffnen werde und fügte hinzu: »Wir können nicht ausschließen, dass der Iran sich in irgendeiner Form direkt einmischen wird. Man müsse auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.«

In der Online-Ausgabe des renommierten US-Politmagazins »Foreign Affairs« beschäftigten sich am 14. Oktober 2023 die Nahost- und Sicherheitsexperten Daniel Byman und Seth G. Jones vom Center for Strategic and International Studies in Washington, D.C. mit dem möglichen Vorgehen Israels in naher Zukunft. Israel werde »versuchen, die politische und militärische Führung der Hamas zu töten, zu fangen oder in den Untergrund zu treiben«. Dies erfordere eine zumindest vorübergehende erneute »Besetzung des gesamten Gasastreifens«.

In solch einem Fall stünde Israel vor der Frage, »wer in Gasa für Recht und Ordnung sorgen soll«. Die Palästinensische Autonomiebehörde, die 2007 von der Hamas aus Gasa vertrieben wurde, verfüge dort »über wenig Legitimität und hat als Regierungsbehörde im Westjordanland wenig Kompetenz bewiesen«. Israels einzige Lösung könnte darin bestehen, »Gasa auf absehbare Zeit zu besetzen, indem es Kontrollpunkte zur Überwachung der Bevölkerungsbewegungen einrichtet, gelegentlich Razzien durchführt und eine robustere und stark verminte Grenze zwischen Gasa und Israel baut.« Die beste Option für Israel sehen beide Experten darin, »die Hamas hart anzugreifen, sich aber schließlich zurückzuziehen, um einer unbefristeten und zermürbenden Besetzung zu entgehen«.

Wer kann vermitteln?

Angesichts der Horrorbilder vom Terrorüberfall der Hamas auf israelische Zivilisten fällt es schwer, Ratschläge zu erteilen. Aus Beobachtersicht bleibt jedoch festzuhalten: Um sich selbst und der Welt einen politischen Flächenbrand zu ersparen, wird Israel nicht umhinkönnen, einen neuen Anlauf in der Friedenspolitik mit allen palästinensischen Vertretern zu unternehmen. Als Ideal gilt vielen Fachleuten eine endgültige Lösung auf staatlicher Ebene, also entweder die Bildung eines gemeinsamen Staats, der die Interessen aller berücksichtigt, oder eine echte Zwei-Staaten-Lösung, die den Namen auch verdient.

Bei den aktuellen Zuständen im US-Repräsentantenhaus, in dem die Republikaner zwar die Stimmenmehrheit halten, sich aber wegen interner Streitigkeiten selbst blockieren, scheint es, als würde die Bewältigung dieser Krise weitgehend von Europa allein gestemmt werden müssen. Für Deutschland heißt das: Wenn »die Sicherheit Israels« tatsächlich »deutsche Staatsräson« ist, wie es erstmals Bundeskanzlerin Angela Merkel formulierte, dann könnte die Aufgabe der deutschen Regierung darin liegen, Gespräche mit den Gegnern Israels aufzunehmen, um diese von Eskalationsschritten abzuhalten, angefangen beim notorisch sperrigen Nato-Partner Türkei über Katar, das sich laut Nahostexpertin Freitag wiederholt, aber vergeblich um Mediation zwischen Israel und den palästinensischen Parteien bemüht hat, bis hin zum Iran selbst.

Im Interesse Israels dort als Vermittler aufzutreten, würde dem jüdischen Staat einen Zugang zu Ländern eröffnen, zu denen er selbst kaum oder gar keinen Kontakt aufnehmen kann. Allerdings hieße ein solcher Schritt für die Bundesregierung, über ihren eigenen Schatten zu springen, denn zu all diesen Ländern hat Deutschland selbst teils höchst angespannte Beziehungen. Unterbleiben solche diplomatischen Annäherungsversuche, könnte das die Feinde Israels jedoch selbst dazu ermutigen, bei ihrer unnachgiebigen Haltung zu bleiben.

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