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Nahrung der Zukunft: Meer-Alternativen wagen!

Die Nahrung der Zukunft wächst vielleicht gar nicht auf dem Acker, sondern im Meer: gesund, nahrhaft, ressourcenschonend. Jetzt muss es nur noch lecker werden.
Seegurke kommt in vielen asiatischen Ländern auf den Tisch

Die Seegurke sieht aus wie eine nicht mehr ganz frische Gemüsegurke mit Noppen und kann bis zu zweieinhalb Meter lang werden. Die Tiere kriechen über den Meeresboden und nehmen das Sediment auf – Algen, winzige Tierchen, Mineralstoffe. Alles Nahrhafte wird verdaut, der Rest ausgeschieden. »Staubsauger der Meere«, sagen manche Leute zu ihnen.

»Ginseng der Meere«, sagen andere: In der südostasiatischen Küche gilt die Seegurke als Superfood. Der Stachelhäuter besteht zu 55 Prozent aus Eiweiß, ist damit eine regelrechte Proteinbombe und enthält unter anderem auch Chondroitinsulfat, das gegen Arthrose wirken soll. Eine gute Alternative, wenn man sich nicht von Fleisch ernähren möchte.

Im rohen Zustand sehen die Gurken aus dem Meer gewöhnungsbedürftig aus. Zubereitet oder verarbeitet – eingelegt, blanchiert, frittiert, getrocknet als Trepang oder pulverisiert – bilden sie aber eine durchaus genießbare Nahrungsquelle. Oder je nach Sichtweise sogar eine Delikatesse. In China und Japan stehen sie auf vielen Speisezetteln. Man serviert sie etwa als Einlage in Suppen und Eintöpfen. In Spanien wiederum werden die inneren Muskelstränge schmackhaft zubereitet und zum Beispiel mit Pasta kombiniert.

Auch der Meeresbiologe Holger Kühnhold hat Seegurke schon probiert. Derzeit erforscht er eine weitere Spezies, welche speziell Sommerurlauber ein bisschen eklig finden, die sich aber ebenso gut verwerten und konsumieren lässt: die Qualle. »Wir können uns dabei einiges von der asiatischen Küche abschauen«, sagt Kühnhold. Der Wissenschaftler will den genauen Nährwert verschiedener Quallenarten herausfinden und befasst sich mit den technischen Herausforderungen ihrer Zucht in Aquakultur. Aktuell studiert er vor allem die Mangrovenqualle. Dieses ungewöhnliche Tier steht sozusagen kopf: Die Qualle heftet sich an einen festen Untergrund und reckt ihre Tentakeln in die Höhe. Darin leben Mikroalgen, die Fotosynthese betreiben und ihren Gastgebern von den mit Sonnenlicht produzierten Nährstoffen abgeben.

Trepang, getrocknete Seegurken | Die Meeresfrüchte in der Auslage eines Markts in Chinatown, Manhattan.

Vom Nährwert her können Quallen mithalten

»Eine Qualle besteht zu rund 97 Prozent aus Wasser, kann aber, was zum Beispiel Proteine und ungesättigte Fettsäuren anbelangt, mit anderen Meeresfrüchten mithalten«, sagt Kühnhold. Auch sei sie wie die Seegurke reich an Kohlenhydraten, Karotinoiden, Mineralien und Antioxidantien. Was ebenfalls für die Qualle als Nahrung oder zumindest Nahrungsergänzung spricht: »Sie ist in sehr großen Mengen vorhanden, und negative Umwelteinflüsse, die den Meeresökosystemen zu schaffen machen, scheinen den Quallen nicht zu schaden.«

Zubereiten lassen sich die widerstandsfähigen Lebewesen offenbar recht einfach: Sie werden getrocknet und mit verschiedenen Salzen bearbeitet, um sie haltbar zu machen. Anschließend werden sie wieder entsalzt und können dann als Zutat verwendet werden, in Salaten und Suppen oder auch als geschmacklich neutrales Pulver und Beigabe zu anderen Lebensmitteln wie Proteinshakes. Als Quallenchips hätten sie sogar das Potenzial zum hippen Lifestylefood, vermutet Kühnhold.

Er forscht am Leibniz Zentrum für Marine Tropenökologie (ZMT) in Bremen. Sein Projekt gehört zu dem mit Bundesmitteln finanzierten Großprojekt »Foods4Future – Nahrungsmittel für die Zukunft«: An verschiedenen deutschen Forschungseinrichtungen werden Ernährungsszenarien untersucht, die nachhaltig, auf kleinem Raum und ohne Ressourcenverschwendung umgesetzt werden können. Dabei wird auch die Annahme »No Land, no Trade« – kein Land, kein Handel – zu Grunde gelegt.

Was findet sich unten in der Nahrungskette im Meer?

Was, wenn der Weltbevölkerung, die laut Prognosen der Vereinten Nationen (UN) bis 2050 auf zehn Milliarden wachsen wird, durch Dürren und Überschwemmungen nicht mehr ausreichend landwirtschaftliche Nutzfläche zur Verfügung steht, kein Handel mehr getrieben wird und jedes Land sich selbst versorgen muss? Wie ist dann die Weltbevölkerung satt zu bekommen? Meeresbiologe Kühnhold sagt: »Gut 70 Prozent der Erdoberfläche sind mit Wasser bedeckt. Da ist es naheliegend, zu schauen, welche anderen Nahrungsquellen außer Fisch und Meeresfrüchten sich auf nachhaltige Art in diesem riesigen Reservoir noch auftun lassen.«

Europäische Konsumentinnen und Konsumenten blicken heute vor allem begehrlich auf die großen Raubfische wie Tun oder Lachs. Doch die natürlichen Bestände sind häufig überfischt, und riesige Zuchtanlagen überdüngen oft die Gewässer und belasten sie mit Antibiotika und anderen Chemikalien. Darum sind sie selten nachhaltig. »Es lohnt sich aber, in der Nahrungskette ebenso die unteren Etagen als potenzielle Nährstoffquellen zu ergründen. Auch deshalb, weil sich aus Quallen, Seegurken oder Makro- und Mikroalgen mit ihrem zum Teil hohen Protein- und Omega-3-Fettsäuregehalt nicht nur Nahrung für Menschen, sondern auch hochwertiges Fischfutter herstellen lässt.« Das wiederum trägt dazu bei, die Bestände von Kleinstfischen, die für gewöhnlich als Fischfutter herhalten müssen, zu schonen.

Qualle mit Frühlingszwiebelöl | Auch Quallen kommen in Asien schon seit Längerem auf den Tisch, zum Beispiel mit heißem Öl übergossen.

»Der Weltbevölkerung steht immer weniger fruchtbares Land und im Durchschnitt immer weniger Frischwasser zur Verfügung. Zudem verschlingt die Herstellung von Mineraldünger eine Menge Energie und setzt CO2 frei«, sagt der Soziologe Oliver Stengel, der an der Hochschule Bochum nachhaltige Entwicklung lehrt. Schon jetzt nach Alternativen Ausschau zu halten, sei deshalb eine wichtige Aufgabe. Das gilt besonders für den übermäßigen Konsum von Fleisch und Milch: Denn jedes Rind stößt bei der Verdauung täglich mehrere hundert Liter klimaschädliches Methan aus. »Außerdem werden beispielsweise in Südamerika für Weideland, aber auch für den Anbau der Futterpflanze Soja riesige Flächen des für die globale Ökobalance so wichtigen Regenwaldes abgeholzt«, sagt Stengel.

Algen, Quallen, Seeigel oder Seegurken dagegen verbrauchen weder große Landflächen noch Süßwasser. »Im Prinzip«, sagt Stengel, »benötigen wir nicht zwingend Fleisch oder Milch als Nahrungsmittel. Menschen sind beispielsweise die einzige Spezies, die auch als Erwachsene noch Milch konsumieren.« Die darin enthaltenen Nährstoffe, speziell die Fettsäuren, ließen sich durchaus mit Alternativen aus dem Meer ersetzen.

Mikroalgen lassen sich auch in der Küche anbauen

Um die Schätze aus dem Wasser geht es auch einige hundert Kilometer weiter südlich, am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Hier beschäftigt sich die Agrarbiologin Christine Rösch am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) mit der Frage, wie man Mikro- und Makroalgen so kultivieren kann, dass sie als Energieträger nutzbar werden und einen Beitrag zur Ernährung leisten. Algen sind in Deutschland in jedem gut sortierten Supermarkt im Asienregal zu bekommen. Wer regelmäßig Sushi isst, kennt die grünbraunen Blätter, die man etwa für Salate verwenden kann. Das sind so genannte Makroalgen. Die winzig kleinen Mikroalgen jedoch – in nährstoffreichen Gewässern oft als grüner »Teppich« auf der Wasseroberfläche zu erkennen – sind bislang eher in Kosmetika und Nahrungsergänzungsmitteln enthalten.

»Vor allem einige Mikroalgen haben einen recht hohen Proteingehalt von rund 70 Prozent. Damit könnten Sojaimporte verringert werden. Und auch, was den Aufwand bei der Kultivierung anbelangt, schneidet die Mikroalge besser ab«, sagt Rösch. Makroalgen würden viel Fläche in Küstengewässern brauchen, wo sie an Seilen kultiviert und regelmäßig abgeerntet werden. Mikroalgen dagegen seien äußerst genügsam: »Sie gedeihen und vermehren sich auch indoor rasant, zum Beispiel in Industriehallen in so genannten Bioreaktoren und mit Hilfe von LED-Licht«, sagt die Forscherin.

Algenfelder, so weit das Auge reicht | Um Algen für die asiatische Küche anzubauen, braucht es ausgedehnte Farmen im Meer – so wie hier in der Nähe der chinesischen Stadt Lianyungang.

Bezogen auf die für den Anbau benötigte Fläche haben die Minialgen damit einen bis zu fünfmal höheren Ertrag als herkömmliche landwirtschaftliche Kulturen. Alle drei Tage kann frisch geerntet werden. Theoretisch könne man auch für den Privatgebrauch Mikroalgen in einer Art Platten- oder Röhrensystem züchten, zum Beispiel auf Hausdächern, in der Küche mit LED-Licht, auf dem Balkon oder an Fassaden. Sie seien sehr genügsam und bräuchten vor allem CO2, Nährstoffe, Wasser und Licht, sagt Rösch.

Mikroalgenarten wie Spirulina (Arthrospira platensis) – biologisch gesehen ein Bakterium – können Riegel, Smoothies oder Nudeln verfeinern und sind vor allem in den Regalen von Biomärkten zu finden. Auch mit Algen gefüllte Pasta wurde schon getestet: In einer Onlinebefragung, die Agrarwissenschaftler der Universität Göttingen 2020 in drei Ländern mit 420 Verbrauchern durchführten, kam die gefüllte Pasta am besten an. Zur Wahl standen außerdem Spirulina-Sushi und ein proteinreicher Snack.

Eiweiß isst ja auch kaum jemand roh

Letztlich entscheiden Textur und Geschmack über die Akzeptanz, schlussfolgerten die Göttinger Forscherinnen und Forscher. Das ist an sich keine überraschende Erkenntnis. Doch die Verarbeitung von Quallen oder Seegurken, vor denen sich, ähnlich wie vor Insekten, viele (westliche) Menschen ekeln, stellt Wissenschaftler und Fooddesigner in den kommenden Jahren sicherlich vor spannende Aufgaben.

Spirulina-Anbau in Deutschland | Die Mikroalgen lassen sich in Gewächshäusern im großen Maßstab anbauen, hier im niedersächsischen Rockstedt. Theoretisch kann der Mikroorganismus aber auch zu Hause gezüchtet werden.

Der moderne Mensch konsumiere genussorientiert, nach dem »hedonischen Prinzip«, sagt der Verfahrensingenieur und Lebensmitteltechnologe Peter Eisner, Professor an der Steinbeis-Hochschule in Berlin und stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer-Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung in Freising. »Es ist aus evolutionärer Sicht sinnvoll, dass wir Ekel vor bestimmten Dingen empfinden, die uns nicht guttun würden, und diese dann meiden.« Wenn es aber langfristig überlebenswichtig werden könne, Insekten oder Quallen in die tägliche Ernährung zu integrieren, komme es einfach auf die richtige Verarbeitung an.

»Die wenigsten Menschen verzehren zum Beispiel rohe Eier. Die meisten finden sie vermutlich widerlich. Tiramisu besteht aber zum Teil aus rohen Eiern – doch in der Kombination stören sie uns nicht, weil wir nicht direkt mit der schleimigen Konsistenz konfrontiert sind und andere Komponenten diese verändern«, sagt Eisner. »Auch Gelatine wird von vielen Menschen als eher eklig wahrgenommen, vor allem, wenn man die Ausgangsstoffe kennt. Doch in süßen Puddings stört sie uns nicht.«

Komme dann noch ein nachgewiesener gesundheitlicher Nutzen hinzu, werde dieses Prinzip auch in nicht allzu ferner Zukunft für Produkte wie Quallenmehl oder Seegurkenpulver funktionieren. »Letztlich ist alles eine Frage der Gewöhnung – und der Tradition«, sagt Eisner. »Während wir uns gerne an den leckeren Apfelkuchen von der Oma erinnern, lieben Japanerinnen und Japaner vielleicht besonders den Algensalat, den sie bei ihren Großeltern immer zu essen bekamen.«

Womöglich schwärmen in ein oder zwei Generation auch europäische Kinder von Pfannkuchen aus Quallenmehl. Die klimaschutzbewegte »Fridays for Future«-Generation ist sicherlich schon jetzt bereit dafür.

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