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Russland: Mord als Mittel der Macht

Oppositionelle, Journalisten und Regimegegner sind die Opfer, zuletzt wohl auch Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. In Russland hat der politische Mord System – und das seit der Zarenzeit.
Die Basilius-Kathedrale und der Kreml auf dem Roten Platz in Moskau, aufgenommen am Abend.
Die Basilius-Kathedrale und der Kreml auf dem Roten Platz in Moskau, aufgenommen am Abend. Der Kreml dient als Amtssitz des russischen Präsidenten.

Politische Morde haben viele scheußliche Gesichter. Kaum ein Land kennt den schaurigen Facettenreichtum so gut wie Russland, das immer wieder Schlagzeilen mit den mysteriösen Todesfällen seiner Regimegegner macht.

Als am 23. August 2023 in der russischen Region Twer ein Privatjet abstürzt, scheint die lange Liste politischer Morde um einen weiteren Fall ergänzt worden zu sein. An Bord der Maschine waren Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnergruppe Wagner, sein Stellvertreter Dmitri Utkin und acht weitere Personen. Auch wenn die Umstände des Unglücks noch unklar sind, liegt die Vermutung nahe, dass der aufständische Wagner-Chef, der wenige Wochen zuvor seine Söldner in Richtung Moskau marschieren ließ, ermordet wurde.

Seit der Antike nutzen Befehlshaber weltweit Gewalt und politischen Mord als Machtmittel. Der Zweck: Einzelne oder ganze Gruppen zu ermorden, soll erzwingen, dass die staatliche Ordnung sich ändert oder erhalten bleibt. Oft trifft es Personen, die politischen Einfluss haben oder die Stellung der Herrschenden gefährden.

Wie sich Russland seiner Gegner entledigt

Wer in Russland das Regime herausfordert oder nur kritisiert, lebte schon immer gefährlich: Im Jahr 2006 wurde die russische Journalistin Anna Stepanowna Politkowskaja im Aufzug ihres Wohnhauses erschossen. Wenige Wochen später trank der frühere Geheimagent Alexander Litwinenko in London einen mit Polonium vergifteten Tee und starb. Der bekannte russische Politiker Boris Nemzow wurde 2015 durch Schüsse auf der Großen Moskwa-Brücke ermordet, nur wenige Schritte vom Kreml entfernt. Und vermutlich eine mit dem Nervengift Nowitschok eingeriebene Türklinke vergiftete 2018 den Ex-Geheimagenten Sergei Skripal und seine Tochter in Salisbury – beide überlebten den Anschlag.

Ein Schlaglicht auf die Geschichte zeigt, dass die russischen Machthaber bereits früh Menschen ermorden ließen, um ihre Herrschaft zu sichern: Iwan der Schreckliche (1530–1584) setzte eine beispiellose Terrorwelle in Gang, der vermeintliche und tatsächliche politische Gegner reihenweise zum Opfer fielen. Mit der Einführung der Opritschniki 1565, einer speziellen Leibgarde, die mit ihrer Brutalität Angst und Schrecken verbreitete, legte der Zar nicht nur seinen Verfolgungswahn offen. Die Opritschniki waren laut der Historikerin Hélène Carrère d'Encausse (1929–2023) auch Teil eines politischen Plans. Komplett in Schwarz gekleidet und mit Hundeköpfen an den Satteln ihrer schwarzen Pferde, sollten sie den Adel einschüchtern und jegliche politischen Ambitionen zerschmettern.

Nicht nur die »schrecklichen« Machthaber der russischen Geschichte griffen auf Mord als Instrument zur Konfliktlösung und Herrschaftssicherung zurück, sondern auch die »Großen«: Zar Peter der Große (1672–1725) ließ seinen eigenen Sohn töten, weil er in ihm einen Verräter und eine potenzielle Gefahr für seine Position sah. Katharina die Große (1729–1796) wiederum ließ vermutlich ihren Ehemann ermorden, um an die Macht zu kommen. Nur: Mit diesen blutigen Methoden des Machterhalts war Russland nicht allein. Dennoch hat der politische Mord in Russland eine spezifische Geschichte.

Mord, um den politischen Kurs zu ändern oder zu erhalten

Der Schlüssel zum Verständnis des heutigen Russlands und seiner Tradition politischer Morde, so erklärt es Jan Behrends vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, liege im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert – als das Land unter enormen gesellschaftlichen Erschütterungen in die Moderne überging. »In Russland hat der moderne politische Mord seine Wurzeln in der revolutionären Bewegung, bei den Gegnern des Zarenreichs. Mit ihm wurden Machtfragen entschieden oder Kurswechsel vollzogen«, sagt Behrends.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Russland ein Diskurs mit weit reichenden Folgen: Unzufrieden mit der Rückständigkeit des Landes, der repressiven Herrschaft des Zaren und inspiriert von französischen Ideen begannen revolutionäre Kreise über den Nutzen von Terror und Mord zu diskutieren. »Die Frage nach dem Einsatz von politischem Mord wurde in Russland bis dahin nie gestellt, nicht einmal abstrakt«, schrieb die Historikerin Hélène Carrère d'Encausse in ihrem Buch »The Russian Syndrome: One Thousand Years of Political Murder«.

Das änderte sich Ende der 1860er Jahre. Mord wurde zum legitimen Mittel im Kampf um gesellschaftlichen Fortschritt erklärt. Und die Revolutionäre schritten bald von der Theorie zur Praxis. Hatte bis dahin der Zar die Macht über Leben und Tod, so begannen laut Carrère d'Encausse nun die Gegner des Herrschers, mit Hilfe von Gewalt politisch zu agieren. Anders als die Zaren nutzten sie die Gewalt aber nicht, um das System zu bewahren, sondern, um es zu verändern.

Russland, die Wiege des modernen Terrorismus

Einer dieser blutigen Kurswechsel wurde am Mittag des 13. März 1881 eingeleitet, als ein Attentäter der linksterroristischen Organisation Narodnaja Wolja (Volkswille) den Zaren Alexander II. während einer Militärparade in St. Petersburg ermordete. Alexander hatte während seiner Herrschaft die Leibeigenschaft der Bauern beendet und mit seinen »Großen Reformen« drastische gesellschaftliche Veränderungen eingeleitet – aus Sicht der Narodnaja Wolja gingen sie aber nicht weit genug. Mit dem Zaren wurde auch die Reformzeit beerdigt.

Russland ist die Wiege des modernen Terrorismus. Die Liste der strategisch ausgewählten Opfer ist lang und sollte die eisernen Machtstrukturen aufbrechen: 1901 starb der Bildungsminister Nikolai Bogolepow bei einem Attentat. Innenminister Dmitri Sipjagin wurde 1902 in St. Petersburg ermordet, seinen Nachfolger Wjatscheslaw von Plehwe ereilte 1904 dasselbe Schicksal.

Der russische Geheimdienst sieht »Mord als legitimes Mittel politischer Einflussname«Jan Behrends, Historiker, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Um die Jahrhundertwende war das Zarenreich Schauplatz rasanter industrieller und gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse. Staatliche Institutionen wie die Polizei und die Justiz waren schwach und schlecht angesehen, die Gesellschaft war gespalten. In Massen strömten verarmte Bauern auf der Suche nach Lohn und Brot in die Städte, wo sie die ohnehin schon prekären Verhältnisse der Arbeiter verschärften. Soziale Spannungen entluden sich in Massenstreiks und Unruhen. Zar Nikolai II. (1868–1918) stand den Entwicklungen ideenlos gegenüber, reagierte zunächst mit Härte und Gewalt. Auch die Gegenseite radikalisierte sich.

Die Serie politischer Morde setzte sich fort

Als im September 1911 Premierminister Pjotr Arkadjewitsch Stolypin von einem Revolutionär mit Verbindungen zum russischen Geheimdienst erschossen wurde, endete der letzte Versuch, das Zarenreich durch Reformen zu stabilisieren. Was folgt, sind Revolution, Gewalt und Bürgerkrieg. Sieben Jahre nach dem Mord an Stolypin schockierte die Ermordung der Zarenfamilie die Weltöffentlichkeit.

Die Bolschewiki, die sich im russischen Bürgerkrieg (1917–1922) schließlich durchsetzen sollten, verließen sich von Anfang an auf die Arbeit von Geheimdiensten, die nicht vor Mord zurückschreckten. Mit der Gründung der TscheKa im Jahr 1917, der Geheimpolizei namens Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung von Konterrevolution, Spekulation und Sabotage, aus der auch der heutige russische Geheimdienst FSB hervorgegangen ist, sollten mehrere Zwecke erfüllt werden: Die Machtstrukturen sollten gefestigt, die wachsende Anarchie unterbunden und potenzielle Gegner des kommunistischen Systems gnadenlos verfolgt werden – egal, ob sie tatsächlich oder nur vermutet Gegner waren. Die Zeit des Roten Terrors begann, die später von Stalins Großem Terror (1936 bis 1938) noch übertroffen wurde, dem Schätzungen zufolge 700 000 Menschen zum Opfer fielen.

»Unter den Bolschewiki begann etwas Neues«, erklärt Jan Behrends. »Sie setzten politische Morde als einen Teil ihrer außenpolitischen Strategie ein.« Vor allem unter Stalin erlebt der Geheimdienst – später bekannt unter dem Namen NKWD und KGB – einen Aufschwung. Die Behörde verbreitet nicht nur in Russland durch Überwachung sowie grausame Mord- und Foltermethoden Angst und Terror. Auch außerhalb der Sowjetunion sind politische Gegner nicht mehr sicher, wie Enrico Seewald von der FU Berlin aufzeigt: Durch eine als Konfektschachtel getarnte Bombe wurde 1938 der Chef der Organisation Ukrainischer Nationalisten, Jewhen Konowalez, in Rotterdam getötet. Den Revolutionshelden und Rivalen Stalins, Leo Trotzki, ließ Stalin bis nach Mexiko verfolgen, wo ihn der NKWD-Agent Ramón Mercader 1940 mit einem Eispickel erschlug. Der ukrainische Politiker und Aktivist Lew Rebet wurde am 12. Oktober 1953 in München mit einer speziell angefertigten Blausäurepistole von KGB-Agent Bogdan Staschinski ermordet. Auf die gleiche Weise tötete Staschinski den ukrainischen Widerstandskämpfer und Nationalisten Stepan Bandera 1959 in München. Und im Jahr 1978 wurde der bulgarische Dissident Georgi Markow in London vergiftet.

Die russischen Geheimdienste durchliefen nie eine Reform

Pistolen, Eispickel, radioaktives Material, chemische Kampfstoffe und Nervengift: »Die angewandten Methoden ändern sich im Lauf der Geschichte zwar, die Tradition des politischen Mords bleibt in ihrer Kontinuität aber bestehen«, erklärt Osteuropa-Experte Behrends. »Sie wird in die postkommunistische Zeit weitergetragen – auch deshalb, weil der KGB zu jenen Institutionen gehört, die nie wirklich reformiert wurden.« Er spricht von der konstitutionellen Kontinuität eines Geheimdienstes, der »Mord als legitimes Mittel politischer Einflussname« ansehe.

Die ungebrochene Tradition des politischen Mords wird heute in Russland ganz unverhohlen fortgeführt: So feierte die Regierung das 100-jährige Bestehen der Auslandsgeheimdienste 2020 mit einem offiziellen Festakt. Selbst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 distanziere sich das Land noch immer nicht von den Methoden der Geheimdienste, so Jan Behrends. Im Gegenteil: In Russland seien viele stolz auf die Geschichte der Geheimdienste und ihrer Attentate. Die Institutionen würden in der Popkultur, in Filmen und TV-Serien, in den Medien und bei Staatsfesten glorifiziert.

Diese Art von Gewaltverherrlichung tritt auch in anderen Bereichen zu Tage: So findet an russischen Schulen seit Neustem wieder Militärunterricht statt. Kriegsverbrecher, Gewalttäter und Massenmörder wie Stalin werden öffentlich bewundert. Für das systematische Schikanieren und Quälen junger Soldaten durch Dienstältere gibt es sogar ein Wort: »dedowschtschina«, was bis in die Zarenzeit zurückreicht.

Was bedeutet Gewalt in Russland?

Kann man in Russland von einer besonderen Mentalität für Gewalt sprechen? »Die russische Gesellschaft ist in meinen Augen eine sehr gewalttätige. Ihre besondere Gewaltkultur muss aber getrennt von den politischen Morden betrachtet werden«, betont Historiker Behrends. »Letztere finden innerhalb der Elite und den Geheimdienstkreisen statt, während Gewalt im sozialen Kontext ein viel größeres Thema ist, das die gesamte Gesellschaft betrifft. Das sind zwei unterschiedliche Phänomene.«

»Politik gilt in Russland als ›dirty business‹«Jan Behrends

Politische Opponenten zu ermorden, ist und war ein Mittel zum Machterhalt – und ein Zeichen schwacher Staatlichkeit. Behrends weist darauf hin, dass Russland weder starke Institutionen noch eine ausgeprägte Rechtstradition habe, wie der Historiker auch in den »WZB-Mitteilungen« schreibt. »Ein Problem des russischen politischen Systems ist es, dass es nicht gelungen ist, Mechanismen für einen friedlichen Machtwechsel aufzubauen«, sagt Behrends. Das unterscheide das Land fundamental von westlichen Systemen. »Wenn Gesetzlichkeit nicht funktioniert, wird im Alltag häufiger Gewalt angewendet.« Das begünstige auch politische Morde: Diese seien eben kein Tabu, sondern als ein Mittel der politischen Auseinandersetzung akzeptiert.

Das liegt auch an der Schwäche der liberalen und gemäßigten Kräfte. Sie verloren den blutigen Machtkampf der Russischen Revolution und wurden anschließend im Roten Terror und unter Stalin zerrieben. Die nächste große Chance auf ein liberales Russland, das Ende des Kalten Kriegs, verstrich ebenfalls ungenutzt: Erneut konnten sich die liberalen Kräfte im Land nicht durchsetzen. Bis heute nicht. »Politik gilt in Russland als ›dirty business‹. Die russische Intelligenzija [Intellektuelle] sitzt lieber an der Seitenlinie und verteilt Noten, statt sich aktiv in der Politik zu engagieren. Das war schon bei Tolstoi im Zarenreich so und fällt Russland in den 1990ern schließlich auf die Füße«, sagt Behrends.

So gelangten nach dem Kalten Krieg jene gewaltbereiten Personen in Russland an die Macht, deren Biografien und Mentalität von der Geheimdienstkultur geprägt waren. Putin ist ein Produkt dieser Entwicklung, nicht ihr Anfang.

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