Bronzezeitliches Schlachtfeld: Fernhändler im Pfeilhagel
Dem Pfeilhagel, der unversehens über sie hereinbrach, waren die Männer wohl schutzlos ausgesetzt. Nur wenige trugen Waffen, und sie befanden sich in einer von Sumpfwiesen bewachsenen, baum- und strauchlosen Flussniederung. Die Schützen saßen gut getarnt auf dem bewaldeten Steilhang über dem Tal. In kurzer Zeit war das Gelände von Leichen bedeckt. Überlebende, die zu entkommen versuchten, machten die Angreifer mit Knüppeln nieder. Zu Dutzenden stürzten die Attackierten in den Fluss, den sie an dieser Stelle hatten überqueren wollen.
Auch heute noch – mehr als 3000 Jahre später – schlängelt sich ein Flüsschen durch die Ebene, die Tollense. Sie entspringt im gleichnamigen See bei Neubrandenburg, fließt knapp 70 Kilometer durch die Wiesen und Auen von Mecklenburg-Vorpommern, um sich schließlich bei Demmin in die Peene zu ergießen. Dass die Ufer der Tollense einst Zeuge einer blutigen Gewalttat wurden, wissen Archäologen schon seit den 1980er Jahren. Bei Erdarbeiten unweit der Ortschaft Weltzin kamen immer wieder menschliche Gebeine zu Tage. Im Jahr 1996 tauchte schließlich ein skelettierter Oberarm auf, der erstmals ahnen ließ, wie lange er schon im Uferbereich gesteckt hatte: Eine Pfeilspitze aus Feuerstein ragte aus dem Knochen.
Zwischen 2009 und 2016 suchten Archäologen aus Schwerin, Greifswald und Göttingen das Gelände systematisch ab. Sie bargen die sterblichen Überreste von mindestens 140 Männern im Alter von etwa 20 bis 40 Jahren, viele mit Spuren schwerer Verletzungen durch Pfeile und Knüppelhiebe. Außerdem fanden sich Knochen von fünf oder mehr Pferden. Dazu Waffen, ein aus einem Stück geschmiedetes Bronzeschwert, Keulen, ein Beil, Pfeil- und Lanzenspitzen aus Bronze. Nicht zuletzt Ringe aus Gold sowie – ein äußerst seltener Fund – reinem Zinn. Datieren ließen sich Gebeine und Artefakte in die Zeit um 1250 v. Chr. Fraglos mussten hier Menschen mit äußerster Brutalität aufeinander losgegangen sein.
Laboranalysen im Anschluss machten einen merkwürdigen Befund offenbar: Viele der Toten waren aus weit entfernten Gegenden ins Tal der Tollense gekommen, manche aus Skandinavien, manche aus dem Alpenraum. Ganz offensichtlich hatte man es nicht mit einem Scharmützel verfeindeter Nachbarn zu tun. Bald schon drängte sich eine Schlussfolgerung förmlich auf: dass Archäologen hier die Spuren einer bewaffneten Auseinandersetzung überregional agierender Mächte gefunden hatten. Es wäre die erste archäologisch belegte Schlacht der europäischen Geschichte.
Europas älteste Schlacht – oder doch etwas anderes?
Kalkuliert man, wie viele Tote in den noch nicht ausgegrabenen Flächen liegen dürften und wie viele Teilnehmer bei einer Schlacht gemeinhin erschlagen werden, könnten zwischen 2000 und 5000 Kämpfer an der Auseinandersetzung beteiligt gewesen sein. Was auch immer an der Tollense vorgefallen war, es scheint eine Ähnlichkeit zu haben mit den ersten großen Kriegszügen aus der Bronzezeit. Vergleiche wurden laut mit der Schlacht bei Kadesch im Westen des heutigen Syrien. Dort hatten im Jahr 1274 v. Chr. etwa 20 000 Ägypter und 37 000 Hethiter einander gegenübergestanden.
Von einer »Schlachtfeldeuphorie« rund um das prähistorische Geschehen im idyllischen Vorfeld der Ostsee spricht Detlef Jantzen. Der Chefarchäologe des Landes Mecklenburg-Vorpommern hat die Ausgrabungen im Tollensetal wie auch die noch nicht restlos abgeschlossene Auswertung der Befunde von Anfang an federführend begleitet. »In dieser Zeit ist das Bild immer differenzierter geworden«, sagt er. Vor allem: Es sei einer etwas skeptischeren Betrachtung gewichen. Die Frage sei ja, »was können wir gesichert belegen?«
Dem ist Jantzen mit seiner Kollegin Gundula Lidke in einem 2022 erschienen Beitrag nachgegangen. »Bloody warriors?« ist er übertitelt: Waren die Toten vom Tollensetal wirklich »blutige Krieger«?
Detlef Jantzen und die Vor- und Frühgeschichtlerin vom Leibniz-Zentrum für Archäologie in Schleswig stützen sich darin auf Ergebnisse, nur insoweit sie unstrittig sind – und finden die Vorstellung eines epischen Schlachtszenarios eher nicht bestätigt.
So hat die anatomische Untersuchung der menschlichen Überreste gezeigt, dass die Toten zu Lebzeiten regelmäßig schwere Lasten über weite Strecken schleppen mussten. Erkennbar ist das am charakteristischen Verschleiß von Gelenken und Wirbelsäule, an typischen Veränderungen der Schulterblätter, Verformungen der Muskelansatzstellen an Langknochen. Das ist nicht das Erscheinungsbild, das an Überresten von Verstorbenen zu beobachten wäre, die ihr Leben mit Kämpfen und Waffenübungen verbracht hätten.
Wem gehörten die Waffen?
Ein Weiteres kommt hinzu: »Es gibt«, sagt Jantzen, »keine Belege dafür, dass die Leute bewaffnet waren.« Zwar wurden Waffen im Tollensetal gefunden, aber nicht in der Nähe der Toten: »Es gab eine Fläche, auf der die Toten waren, viele mit Pfeilspitzen im Körper, und eine andere Stelle im Tal, wo die Waffen lagen.« Dass in geringerer Entfernung vom Leichenfeld auch Keulen lagen, ändere am Gesamtbild nichts: »Es gibt nichts, was uns sagt, dass diese Keulen von den Getöteten verwendet wurden. Es können auch Keulen sein, mit denen sie angegriffen wurden.« Fazit: »Wir können nicht belegen, dass diese Menschen, die da getötet wurden, Waffen hatten.«
Eine Schlacht, in der nur eine Seite bewaffnet war? Gefallene, die keine geübten Kämpfer waren, sondern stattdessen zeitlebens schwere Lasten zu schleppen hatten? Wie kamen sie ins Tollensetal und was wollten sie da? Eine alternative Lesart bietet sich an: dass hier eine Handelskarawane überfallen wurde, die Güter zwischen Ostseeraum und Alpen transportierte. Dann wäre auch der Ort des Geschehens nicht zufällig gewesen. Bereits seit Jahrhunderten befand sich hier eine von Menschen geschaffene Flussquerung.
Archäologisch belegt ist ein aus Pfählen, Steinen und aufgeschütteter Erde errichteter Damm, der über die Talsohle auf das Ufer zuführte. Die Konstruktion bestand zwischen etwa 1900 und 1200 v. Chr. Ob der Damm sich in einer Brücke fortsetzte oder am Ufer endete, ist nicht bekannt. Recht sicher aber ist, dass man sich auf dem relativ offenen Talgrund wie auf dem Präsentierteller befand. Die umgebenden Hänge dürften dagegen bewaldet gewesen sein.
In der Gegend um das Tollensetal lebten, in Einzelgehöften über die Landschaft verstreut, im 13. Jahrhundert v. Chr. Angehörige der von Prähistorikern so genannten Mecklenburger Gruppe. Gemeinsam war ihnen ein spezifisches Dekor, mit dem sie Metallapplikationen an ihrer Kleidung wie Gürtelschnallen oder Fibeln zu verzieren pflegten, leiterförmige Bänder oder schraffierte Muster. Wie sie ihr Zusammenleben organisierten, liegt für uns im Dunkeln. Man weiß aber, dass sie in überregionale Handelsnetze eingebunden waren, die bis nach Skandinavien sowie in den Süden und Südosten Europas reichten.
Es muss unter ihnen Wohlhabende gegeben habe, die sich importierten Luxus leisten konnten, Glasperlen ägyptischer oder mesopotamischer Herkunft, Seide, Gold. Auch das Metall, das der Epoche den Namen gab, Bronze, wurde nicht an Ort und Stelle gewonnen. Es musste aus dem östlichen Alpenraum eingeführt werden. Wie solche Transporte organisiert wurden, auf welchen Wegen und von welchen Akteuren, darüber diskutieren Bronzezeitfachleute seit Jahrzehnten intensiv, sagt Jantzen.
Die Tollense könnte in ein überregionales Wegenetz eingebunden gewesen sein. Sie kann für damalige Verhältnisse als brauchbare Wasserstraße gegolten haben. Außerdem bot sie über die Peene einen Zugang zur Ostsee. Wer sie aus südlicher Richtung erreichen wollte, konnte dies aus dem Fluss- und Seensystem der Havel tun, das nicht mehr als 13 Kilometer Luftlinie vom Tollensesee entfernt ist. Fernhändler konnten freilich auch auf ein Netz von Landverbindungen zurückgreifen, über das die Forschung allerdings kaum etwas weiß. Die Entdeckung der Flussquerung an der Tollense war einer der seltenen konkreten Hinweise auf ein solches Netz. Hier scheinen sich ein Land- und ein Wasserweg gekreuzt zu haben. Die topografischen Gegebenheiten an dieser Stelle boten zudem günstige Voraussetzungen, um einer mit wertvollen Waren beladenen Karawane aufzulauern.
Ein lukratives Ziel
Könnte es so gewesen sein? Dass die Toten aus dem Tollensetal ausweislich der Isotopenanalyse ihrer Gebeine nicht allesamt im Ostseeraum beheimatet waren, sondern viele auch in weiter südlich gelegenen Gegenden Europas, müsse der Karawanen-Hypothese nicht widersprechen, schreiben Jantzen und Lidke in ihrer Abhandlung, im Gegenteil: »Neu Hinzukommende können sich der Karawane unterwegs angeschlossen haben, und es ist kein Nachteil, Leute aus unterschiedlichen Regionen dabei zu haben, die die Routen kennen und verschiedene Sprachen sprechen.« Die Zinnringe, die mit einem Durchmesser von drei Zentimetern auf keinen Finger passen und als Schmuckstücke somit kaum in Betracht kommen, könnten als transportables Rohmetall auf die Reise geschickt worden sein. Aus der Untersuchung der Pferdeknochen ergab sich, dass die Tiere zu Lebzeiten weder zum Lastentransport noch als Streitrösser genutzt wurden. Möglicherweise wurden auch die Pferde als Handelsware mitgeführt.
Was besagt es über die Gesellschaftsstruktur der Bronzezeit, dass die Toten aus dem Tollensetal offenbar die meiste Zeit ihres Lebens mit dem Transport gewichtiger Güter befasst, also auf diese Tätigkeit spezialisiert waren? Gab es damals bereits so etwas wie einen überregional vernetzten Berufsstand der Fernspediteure? So weit in spekulative Gefilde mag sich Jantzen auf keinen Fall begeben. Er verweist allerdings auf die vielen tausend Tonnen Bronze aus jener Epoche, die im Ostseeraum mittlerweile gefunden wurden: »Eine so ungeheure Menge Metall aus den Abbaugebieten nach Norden über lange Strecken zu transportieren, setzt Organisation voraus. Man braucht eine Menge Wissen, um solche Strecken zurücklegen zu können.«
Das alles »kann man gut begründet vermuten«, meint Jantzen. Will sagen: Auch für ihr Szenario einer überfallenen Handelskarawane können Jantzen und Lidke keine Gewissheit beanspruchen, ebenso wenig wie die Verfechter der Schlachthypothese. Letzteren zufolge ist ein aus dem südlichen Mitteleuropa stammendes Heer in Richtung Norden gezogen, bis es an der Tollense in einen Hinterhalt geriet. Erst Ende September 2024 erschien dazu eine Studie im Fachmagazin »Antiquity«, die diese Deutung stützt. Das Team um Leif Inselmann von der FU Berlin analysierte die Pfeilspitzen, die von den Ausgräbern an der Tollense gefunden wurden, und kam zu dem Ergebnis, dass viele davon ebenfalls »fremdländisch« zu sein scheinen. Vergleichsexemplare kennt die Forschung beispielsweise aus Süddeutschland. Sie könnten damit zur Bewaffnung eines Heers gehört haben, das nicht aus der Ostseeregion stammte.
Zwingend gegen die Karawanenhypothese spricht aber auch dieser Befund nicht. Vielleicht führten die Fernhändler eine bewaffnete Eskorte mit sich, vielleicht waren die vermeintlich fremden Pfeilspitzen in der Tollensegegend doch weiter verbreitet, als Ausgrabungen bisher nahelegten.
Für Jantzen und Lidke bietet das Überfallszenario nach wie vor die überzeugendere Deutung für dieses Gewaltereignis vor gut 3300 Jahren. Es sei im Übrigen nicht weniger faszinierend als das Schlachtszenario: »Es zeigt, wie die Ereignisse im Tollensetal mit dem bronzezeitlichen Fernhandel zusammenhängen, und vermittelt uns zugleich eine Vorstellung, wie dieser Fernhandel organisiert gewesen sein könnte.«
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