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Mathematische Unterhaltungen: Warum verhalten sich Menschen und Tiere manchmal irrational?

Es ist nicht einfach, die Entscheidungsprozesse großer Gruppen nachzuvollziehen – gerade wenn es um Irrationalität geht. Ein mathematisches Modell kann dabei helfen, indem es Gemeinsamkeiten bei Schleimpilzen, Ameisen und Nervenzellen untersucht.
Eine Menge jubelt Donald Trump zu
Das Verhalten eines Kollektivs wirkt manchmal irrational. Das trifft nicht nur auf Menschen zu.

Ein promovierter Philosoph namens Heinrich betritt ein Café und findet – neben anderen Genüssen, die für ihn nicht in Frage kommen – gedeckten Apfelkuchen und Buttercremetorte auf der Karte. Nach einigem Überlegen bestellt er einen Apfelkuchen, da sagt die Bedienung: »Es steht nicht auf der Karte, aber wir haben heute auch Schwarzwälder Kirschtorte.« Daraufhin denkt er noch einen Augenblick nach und erwidert: »Dann hätte ich gerne Buttercremetorte.«

Halt. Wie kommt er zu dieser Entscheidung? Nach der neu hinzugekommenen Möglichkeit steht ihm offensichtlich nicht der Sinn, sonst hätte er ja Schwarzwälder Kirschtorte bestellt. Aber wenn diese Alternative ohnehin in der Abwägung gegen die beiden anderen Optionen verliert, wieso verändert sie dann deren Reihenfolge? Immerhin hatte Heinrich soeben noch Apfelkuchen bevorzugt. Irgendwie wirkt sein Verhalten irrational.

Dieser Eindruck lässt sich wissenschaftlich präzisieren. Im Sinn der klassischen Wirtschaftstheorie verhält sich rational, wer seine Nutzenfunktion maximiert. Für Heinrichs Entscheidung sind mehrere Kriterien relevant, darunter das Geschmackserlebnis, der Nährwert – der Mann hat Appetit –, der Fettgehalt – er muss seine Leibesfülle in Grenzen halten – und der Preis. Der Philosoph bestimmt, in welchem Ausmaß eine Option eines der Kriterien erfüllt, multipliziert diese Zahl mit einem Gewichtungsfaktor, der ausdrückt, wie wichtig ihm das jeweilige Kriterium ist (für Fettgehalt und Preis ist der Gewichtungsfaktor negativ), addiert diese Produkte und erhält eine Zahl, die den Gesamtnutzen der Option angibt. Im Ergebnis hat er damit alles, was die Wahl dieses Kuchenstücks ihm gibt oder nimmt, in eine gemeinsame Einheit umgerechnet, typischerweise Euro. Daraufhin wählt er die Option mit dem höchsten Nutzen.

Demnach würde Apfelkuchen – diesmal – die höchste Punktzahl auf der Nutzenskala erzielen, Buttercremetorte etwas weniger. An dieser Bewertung würde sich auch nichts ändern, wenn Schwarzwälder Kirschtorte als Option hinzukommt und weniger Punkte macht. Konsequenterweise nennen die Theoretiker jedes Verhalten, welches das Kriterium »Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen« (independence of irrelevant alternatives, IIA) verletzt, irrational.

Morgenbesser, der Kuchen und der kategorische Imperativ

Menschen lassen sich manchmal in ihrer Entscheidung von irrelevanten Alternativen beeinflussen. Diese Form der Irrationalität ist weit verbreitet, und es lassen sich zahlreiche Beispiele aus dem Alltag dafür finden. Dass in der Literatur – und auch in diesem Artikel – regelmäßig das Beispiel mit den Kuchensorten angeführt wird, verdanken wir dem US-amerikanischen Philosophen Sidney Morgenbesser (1921–2004). Berühmt geworden ist er nicht so sehr durch seine wenigen Veröffentlichungen als vielmehr durch seine Schlagfertigkeit.

Einige seiner Aussprüche sind sprichwörtlich geworden, darunter der Dialog mit einem Polizisten, der ihn ermahnte, er solle sich am Ausgang der U-Bahn-Station nicht die Pfeife anstecken: »Wenn ich Ihnen das durchgehen lasse, muss ich es allen anderen auch durchgehen lassen.« Worauf Morgenbesser erwiderte: »Who do you think you are, Kant?« Der Polizist verstand »Kant« als das englischsprachige Schimpfwort »cunt« und nahm den Mann mit auf die Wache. Morgenbesser kam erst wieder frei, nachdem ein herbeigeeilter Philosophenkollege die Uniformierten über Kants kategorischen Imperativ aufgeklärt hatte.

Viele Seelen wohnen, ach, in seiner Brust

Wie kommt Heinrich dazu, sich so irrational zu verhalten? Na ja, es ist mühsam, den Wert der Nutzenfunktion zu finden, weil die Zahlen, die in die Berechnung eingehen, nur schwierig zu bestimmen sind. Wie viel – in Euro – ist mir der Genuss eines Stücks Buttercremetorte wert, und wie sehr wiegt dieses Erlebnis das unbekömmliche Übermaß an Milchfett auf, das ich gar nicht unmittelbar zu spüren bekomme? Die Illusion vom rationalen Nutzenmaximierer, dem »homo oeconomicus«, ist zwar beliebt, weil man so das Verhalten von Wirtschaftssubjekte modellieren kann – das hat aber mit Heinrichs Entscheidungsprozess allenfalls entfernte Ähnlichkeit.

Da ist es schon realistischer, Goethes viel zitierte Vorstellung vom Innenleben des Doktor Faustus etwas zu erweitern. Nicht nur zwei Seelen wohnen, ach, in Heinrichs Brust, sondern ziemlich viele: eine für jedes Kriterium. Jede von ihnen hat nur beschränkte Erkenntnismöglichkeiten; aber sie reichen aus, um die vorgelegten Optionen in eine Rangfolge zu bringen. Für die Preisseele ist naheliegenderweise die günstigste Torte die erste Wahl, die Appetitseele sortiert die Köstlichkeiten nach dem Nährwert, und so weiter. Die Entscheidung fällt durch Mehrheitsabstimmung unter den Seelen, wobei vielleicht nicht alle gleiches Stimmgewicht haben.

Es kann also sein, dass jedes Mitglied eines Kollektivs für sich genommen rational ist, aber das ganze Kollektiv irrational

Unter diesen Umständen kann es zu Abhängigkeiten von irrelevanten Alternativen kommen. Das wissen wir aus den Untersuchungen über Wahlsysteme: Wenn Wähler ihre Wunschkandidaten in eine Rangfolge bringen können – was in den wenigsten Wahlen der Fall ist –, dann können die paradoxesten Ergebnisse eintreten. Insbesondere kann ein Kandidat die Wahl dadurch verlieren, dass ein Teil seiner Anhänger für einen Konkurrenten stimmt, der vielleicht die Ziele des ersteren noch überzeugender vertritt, aber am Ende mangels ausreichender Stimmenzahl nicht zum Zug kommt.

Es kann also sein, dass jedes Mitglied eines Kollektivs – Seelen oder Wähler – für sich genommen rational ist, aber das ganze Kollektiv irrational. In diesem Kontext bedeutet rational nicht etwa vernünftig oder auch nur »an den eigenen Interessen ausgerichtet«, sondern nichts weiter als »konsistent in den eigenen Entscheidungen«. Einem rationalen Entscheider passiert es nicht, dass er A vor B bevorzugt und B vor C, aber sich in der Gegenüberstellung von A und C für C entscheidet. Oder eben, dass seine Präferenz für A vor B ins Gegenteil umkippt sowie die noch schlechtere Option C ins Spiel kommt. Entsprechend bedeutet irrational nichts anderes als nicht rational.

Warum sollte man sich auf eine derart reduzierte Definition einlassen? Weil es dadurch möglich ist, über die Rationalität oder Irrationalität von Kollektiven zu sprechen, deren Mitglieder nicht über übermäßige Denkfähigkeiten verfügen müssen, zum Beispiel Ameisen und Schleimpilze.

Wie fällen Ameisen Entscheidungen?

Eine Gruppe von Ameisen, bestehend aus einer Königin, zahlreichen Arbeiterinnen und etlichen Larven (eine Kolonie), kommt gelegentlich in die Verlegenheit, einen Platz für ein neues Nest zu suchen, zum Beispiel wenn das bisherige Nest zu klein oder aus anderen Gründen unbenutzbar geworden ist. In einem solchen Fall schwärmen Kundschafter-Ameisen in alle Richtungen aus. Sowie ein Kundschafter einen geeigneten Platz gefunden hat, legt er auf seinem Weg eine Duftspur, die wiederum andere Artgenossen veranlasst, dieser Spur zu folgen und sie möglicherweise durch eigene Duftabsonderungen zu verstärken. Wenn es in erreichbarer Nähe genau einen guten Platz gibt, wird die Duftspur auf die Dauer so intensiv, dass alle Ameisen, auch diejenigen, die sich nicht an der Erkundung beteiligt haben, ihr folgen, wodurch am Ende das ganze Nest umgezogen ist.

Stehen jedoch mehrere attraktive Alternativen zur Verfügung, dann muss sich das Kollektiv auf eine einigen. Es wäre für das weitere Überleben ungünstig, wenn jede Ameise ihrer persönlichen Präferenz oder gar dem Zufall folgen und dadurch die Kolonie in kleinere Teile zerfallen würde. Damit befindet sich die Kolonie in einem ähnlichen Dilemma wie der Philosoph Heinrich. Es gibt nämlich verschiedene Kriterien für die Qualität eines Nestes. Ameisen haben es lieber dunkel als hell, und sie bevorzugen kleine Einstiegslöcher: groß genug für sie selbst, aber zu eng für Fressfeinde.

Wenn also ein dunkler Platz mit weitem Einstiegsloch und ein heller mit engem Loch zur Auswahl stehen, dann ist für eine Ameise nicht von vornherein klar, welcher zu bevorzugen ist. Ein solches Angebot legte die Biologin Susan C. Edwards von der Princeton University etlichen zu diesem Zweck gesammelten Ameisenkolonien vor. Die Motivation zum Auszug aus dem bisherigen, schon im Labor befindlichen Nest stellte sie her, indem sie den Deckel abhob und die Insekten damit dem äußerst unbeliebten Licht aussetzte. Durch entsprechende Vorversuche stellte sie sicher, dass nicht eines der Kriterien gegenüber dem anderen völlig unbedeutend war.

In der Regel fanden sich sämtliche Ameisen der Kolonie an einem der beiden angebotenen Plätze wieder; nur in Ausnahmefällen spaltete sich die Gruppe auf. Wichtiger noch: Wenn Edwards den Ameisen unter ansonsten gleichen Umständen zusätzlich eine dritte, eindeutig schlechtere Alternative anbot, änderten sie ihre Präferenz für einen der beiden guten Plätze nicht. Anders als Heinrich verhielten sie sich also in diesem Fall rational.

Demnach müsste das Kollektiv in der Lage sein, den Wert seiner Nutzenfunktion für die vorliegenden Optionen zu berechnen und sich dann für diejenige mit dem höheren Wert zu entscheiden – in irgendeinem möglicherweise sehr abstrakten Sinn. Und das unter erschwerten Bedingungen: Unter den Kundschaftern besucht allenfalls eine Minderheit beide Plätze, hat also überhaupt die Möglichkeit zu einem direkten Vergleich. Darüber hinaus kennen die meisten Individuen die Verhältnisse nur aus zweiter Hand, weil sie selbst nicht unterwegs waren. Mit derart beschränkten Erkenntnismöglichkeiten kann man die Optionen vielleicht noch bezüglich einzelner Kriterien in eine Rangfolge bringen; aber für ein Abwägen reicht es eigentlich nicht mehr.

Wie haben es die Ameisen also gemacht? Darüber können auch Edwards und ihr Koautor Stephen C. Pratt von der Arizona State University in Tempe nur spekulieren. Ein Maß für die Qualität eines potenziellen Nestes kann die Intensität der Duftspur sein, welche die dorthin gewanderten Kundschafter hinterlassen haben. Je größer deren Begeisterung, desto stärker der Duft. Vielleicht gibt es sogar verschiedene Düfte für unterschiedliche Kriterien. In den Riechorganen der Daheimgebliebenen addieren sich die Düfte aus verschiedenen Expeditionen, woraufhin sich diese in Richtung der attraktiveren Duftfahne bewegen. Hinzu kommt ein Selbstverstärkungseffekt: Nicht nur die Kundschafter, sondern auch die Mitläufer sondern Duft ab, so dass der bevorzugte Platz noch attraktiver erscheint. Das wirkt auch den unvermeidlichen Zufalls- und Verdünnungseffekten entgegen – Düfte werden vom Wind verweht und lassen mit der Zeit nach.

Eine einzelne Ameise verfügt nur über eine sehr beschränkte Kapazität, Information zu bearbeiten. Aber irgendwie gelingt es einem Kollektiv, die Fähigkeiten seiner Mitglieder so zusammenzuschalten, dass eine rationale Entscheidung dabei herauskommt – rational in dem oben beschriebenen, eingeschränkten Sinn. Was aber, wenn von einzelnen Individuen, die sich zu einem Kollektiv zusammentun, gar nicht die Rede sein kann?

Dumm, dümmer, Schleimpilz?

Genau das gilt für den Schleimpilz Physarum polycephalum, zumindest wenn er gerade keine Sporen bildet. Dann besteht er nämlich aus einer einzigen Zelle mit zahlreichen Zellkernen, einem so genannten Plasmodium. Ihm fehlt jede Art von zentraler Informationsverarbeitung; es gibt nichts, was auch nur irgendwie die Funktionen eines Gehirns erfüllen würde. Aber auf äußere Reize kann er durchaus reagieren: Ein Häufchen Hafermehl veranlasst ihn, sich in dessen Richtung amöbenartig auszustülpen; und helles Licht mag er überhaupt nicht.

Tanya Latty und Madeleine Beekman von der University of Sydney (Australien) setzten solche Schleimpilze einem ähnlichen Dilemma aus wie die Fachkollegin aus Arizona ihren Ameisen: ein reichliches Nahrungsangebot im Hellen und ein knappes im Dunkeln. Wieder war nicht unmittelbar klar, welches von beiden Angeboten einem Plasmodium mehr zusagen würde. In der Tat gab es einige wenige Versuchsobjekte, die sich nach beiden Nahrungsquellen streckten und dafür einen erheblichen Aufwand für den Bau einer ausgedehnten Zellwand in Kauf nahmen. Vor allem aber konnte ein drittes, schlechteres Angebot – viel Licht, wenig Hafer – die bis dahin eindeutige Entscheidung für eine der Quellen in das Gegenteil kippen lassen. Damit waren die verformbaren Organismen aus Mangel an Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen für irrational zu erklären.

Immerhin haben auch die hirnlosen Plasmodien den evolutionären Kampf ums Überleben bis heute bestanden

Das wirkt auf den ersten Blick sogar plausibel. Da Schleimpilze nicht über etwas Gehirnartiges verfügen, sind sie einfach dümmer als Ameisen – kein Wunder, dass sie sich gelegentlich irrational verhalten. Auf den zweiten Blick ist eine derartige Erklärung unhaltbar. Immerhin haben auch die hirnlosen Plasmodien den evolutionären Kampf ums Überleben bis heute bestanden. Das spricht nicht gerade für Dummheit im Sinn von Unfähigkeit, die Umwelt wahrzunehmen und geeignet auf sie zu reagieren.

Um die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen diesen zwei sehr verschiedenen Organismentypen – und etlichen mehr, irrationales Verhalten ist im Tierreich weit verbreitet – herauszuarbeiten, erscheint es sinnvoll, ein mathematisches Modell aufzustellen. Dazu hat sich die Schleimpilzforscherin Latty mit den Mathematikern Stamatios C. Nicolis, Natalia Zabzina und David J. T. Sumpter von der schwedischen Universität Uppsala zusammengetan.

Mathematik soll Fragen beantworten

Angenommen, etliche Kundschafter aus dem Ameisenhaufen haben potenzielle Siedlungsplätze besichtigt, sind von ihrem jeweiligen Fund überzeugt und lassen diese Überzeugung durch Duftsignale erkennen. 50 Prozent stimmen für einen guten Nistplatz, während zwei andere Plätze nur 30 beziehungsweise 20 Prozent Befürworter finden. Den Daheimgebliebenen bleibt nichts anderes übrig, als sich einer der drei Parteien anzuschließen. Wenn sie sich dabei nur nach dem Duft orientieren, der ihnen in diesem Moment zufällig durch die Nase streicht, dann wird jede Partei proportional zu ihrer Größe Zulauf finden. Damit bleiben die Machtverhältnisse unverändert, und es kommt keine klare Entscheidung für eine der Optionen zu Stande; vielmehr droht die Aufspaltung der Kolonie.

Es muss also einen Mechanismus geben, der aus einer bloßen Mehrheit eine Einstimmigkeit macht oder zumindest die Herrschaft der Mehrheitspartei, wie nach demokratischen Wahlen unter Menschen. Diesen Mechanismus modellierten die Forschenden, indem sie eine »Attraktivitätsfunktion« einführten. Die Attraktivität einer Partei steigt nicht proportional zu ihrer Mitgliederzahl, sondern stärker. Große Parteien sind allein wegen ihrer Größe übermäßig attraktiv.

Diese Idee mitsamt einigen Zutaten verarbeiteten die Mathematikerin und Mathematiker aus Uppsala zu einem Gleichungssystem, das beschreibt, wie sich die Anteile jeder Partei über die Zeit verändern. Dabei ersetzten sie die Mitgliederzahlen, die eigentlich nur ganzzahlige Werte annehmen können, durch reelle Variablen. In dem Gleichungssystem können also Bruchteile von Ameisen vorkommen; aber dieser Fehler geht in der allgemeinen Ungenauigkeit des Modells unter. Der Vorteil dieser Maßnahme besteht darin, dass jetzt ein System von Differenzialgleichungen vorliegt; und für derartige Probleme steht ein umfangreicher theoretischer Apparat zur Verfügung. Insbesondere ist relativ einfach auszurechnen, wo die Gleichgewichtszustände des Systems liegen, welche Zustände sich also nach längerer Zeit einstellen können.

Mathematisches Modell der Mehrheitsfindung

Stamatios Nicolis und seine Kolleginnen und Kollegen beschreiben das Verhalten eines Kollektivs von Individuen, die vor der Auswahl aus n verschiedenen Optionen stehen. Unter den Mitgliedern des Kollektivs kann man sich Ameisen vorstellen; aber das Modell ist nicht darauf beschränkt.

Die Anzahl der Individuen, die der i-ten Option anhängen beziehungsweise für die i-te Partei stimmen, wird mit xi bezeichnet. Es gibt so etwas wie einen Herdeneffekt: Eine Partei findet umso mehr Zulauf, je mehr Mitglieder sie hat, und zwar überproportional. Das wird beschrieben durch die Attraktivitätsfunktion

\[ f_i = \frac{(1+x_i)^2}{\sum_{j=1}^n (1+x_j)^2}\]

Die Attraktivität von Partei i steigt abgesehen von dem Sockelbetrag 1 quadratisch mit ihrer Mitgliederzahl. Allerdings wird das Ganze geteilt durch die Summe aller Attraktivitäten. Damit ist der Zuwachs für Partei i proportional ihrer relativen Attraktivität. An die Stelle der Zwei können auch größere Exponenten treten, was den Herdeneffekt verschärft.

Die Mitgliederzahl von Partei i ändert sich gemäß folgender Gleichung:

\[ \frac{dx_i}{dt} = \varphi \ \epsilon_i \ f_i(x_1, ..., x_n) – \nu x_i \]

Dabei beschreibt der letzte Term −ν xi einen Schwund: Die Partei verliert pro Zeiteinheit den (kleinen) Anteil ν ihrer Mitglieder, zum Beispiel weil sie ihre Neigungen vergessen – der Duft lässt nach – oder gefressen werden.

Andererseits wächst jede Partei entsprechend ihrer relativen Attraktivität, mal einem gemeinsamen Faktor φ, den man als Intensität der Kommunikation auffassen kann, und einem optionsspezifischen Faktor εi, der ein Maß für die Qualität der Option darstellt. Je geeigneter der i-te Nistplatz, desto größer ist das zugehörige εi. Bei ihrer Entscheidung, einer Partei beizutreten, lässt sich eine Ameise also nicht nur von der Masse ihrer Anhänger beeindrucken, sondern auch von den Tatsachen. Wie sie diese Kenntnis erlangt, ist nicht Gegenstand des Modells.

Die erste Nachricht: Das Bessere setzt sich nicht zwangsläufig durch. Eine von Anfang an bestehende Mehrheit für eine zweitrangige Option kann auf Dauer überhandnehmen. Traditionen sind manchmal haltbar, auch wenn bessere Alternativen zur Verfügung stehen. Das beobachtet man nicht nur im Modell, sondern auch häufig bei echten Schleimpilzen und Ameisen. Genau in dieser Situation lässt die Einführung einer weiteren, irrelevanten Alternative die Entscheidung immer wieder umkippen.

Wenn die Intensität der Kommunikation ansteigt, beschleunigt sich, wenig erstaunlich, der Entscheidungsprozess. Was jedoch eher verwunderlich ist: Zugleich wächst auch die Qualität der Entscheidung, das heißt der Prozentsatz der Experimente, in denen das Kollektiv die richtige Wahl trifft. Die Sache langsam anzugehen, bringt also keine besseren Ergebnisse. Vielmehr gibt es ein optimales Niveau des Kommunikationsparameters φ, bei dem sowohl die Geschwindigkeit als auch die Genauigkeit der Entscheidung maximal sind. Das passt zu der Beobachtung, dass größere Fischschwärme rascher und präziser auf Bedrohungen reagieren als kleine; mehr Fische kommunizieren eben auch mehr. Leider ist das optimale φ für unterschiedliche Anzahlen von Optionen verschieden.

Beide Effekte geben reichlich Gelegenheit für das Auftreten der Abhängigkeit von irrelevanten Alternativen, also von Irrationalität in dem hier verwendeten engeren Sinn. Am Ende stellt sich nicht mehr die Frage, welche Organismen die dümmeren – sprich irrationaleren – sind, sondern wie stark ihre nicht linearen Mechanismen der positiven Rückkopplung sind. Und den Fachleuten aus der Biologie bleibt nicht nur zu verifizieren, dass das mathematische Modell das Verhalten ihrer Versuchsobjekte hinreichend genau beschreibt (was allem Anschein nach bei vielen Organismen der Fall ist), sondern im Einzelfall diesen Selbstverstärkungsmechanismus ausfindig zu machen.

Interessanterweise scheinen ganz ähnliche Mechanismen auch in Kollektiven von Neuronen in unserem Gehirn wirksam zu sein. Etwa wenn es darum geht, wie ein Bild auf der Netzhaut unseres Auges zu interpretieren ist. Die bekannten Vexierbilder – ist es ein Hase oder eine Ente? Eine Vase oder zwei Gesichter? – liefern Material für entsprechende Experimente.

Eigentlich hatte ich mich in das Thema »kollektive Irrationalität« eingearbeitet, weil ich gehofft hatte, die mathematische Modellierung könnte etwas zum Verständnis der aktuell zu beobachtenden kollektiven Irrationalitäten beitragen, allen voran zu der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Gerade die einfachen, gut durchschaubaren mathematischen Modelle stoßen bei solchen Fragen recht bald an ihre Grenzen.

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  • Quellen

Edwards, S. C., Pratt, S. C.: Rationality in collective decision-making by ant colonies. Proceedings of the Royal Society B 276, 2009

Latty, T., Beekman, M.: Irrational decision-making in an amoeboid organism: Transitivity and context-dependent preferences. Proceedings of the Royal Society B 278, 2011

Nicolis, S. C. et al.: Collective irrationality and positive Feedback. PLOS ONE 6, 2011

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