Neue Atomkraftwerke: Was am Nuklear-Aufschwung wirklich dran ist

Die Kernkraft bekommt weltweit wieder Schwung, zumindest legen das in letzter Zeit immer mehr Meldungen nahe. So verkündete Ende September 2024 in den USA das IT-Unternehmen Microsoft, den erst fünf Jahre zuvor stillgelegten Reaktor von Three Mile Island bis 2028 wieder zu ertüchtigen, um vor allem die energiehungrigen Datenzentren für künstliche Intelligenz zu versorgen. In Frankreich ging Ende 2024 am Ärmelkanal mit »Flamanville 3« der erste Reaktor des Landes in einem Vierteljahrhundert neu ans Netz. Der neue Trend zur Atomenergie soll dem Klima ebenso nutzen wie einer stabilen Energieversorgung. Als großer Vorteil der Kernkraft gilt, dass Reaktoren unabhängig vom Wetter rund um die Uhr laufen können wie Kohlekraftwerke, aber dabei kein CO2 freisetzen. Doch ist die globale Renaissance der Kernkraft überhaupt real – oder bloß ein Medienphänomen?
Neben Microsoft gaben jedenfalls weitere große IT-Unternehmen ihren Einstieg in die Atomkraft bekannt. So bestellte zum Beispiel Google bei dem Start-up Kairos Power mehrere so genannte Small Modular Reactors (SMR), also kleine, technisch neu konzipierte Kernkraftwerke, von denen der erste schon 2030 den Betrieb aufnehmen soll (siehe »Kleine Modulare Reaktoren«). Im Gegensatz dazu ist der französische Neubau Flamanville 3 ein Gigant. Wenn er im Sommer seinen vollen Lastbetrieb erreicht, wird er mit 1600 Megawatt Leistung das wichtigste Kraftwerk des Landes sein. Der französische Präsident Emmanuel Macron sprach von einem »großen Moment für das Land« und von einer »Reindustrialisierung, um kohlenstoffarme Energie zu erzeugen«. Dies sei »Ökologie auf französische Art«.
Auch zum deutschen Bundestagswahlkampf gehören nun wieder Bekenntnisse zur Kernkraft – nachdem 2011 der Atomausstieg im Konsens von Union und FDP gesetzlich beschlossen worden war. Die »Option«, sie zu nutzen, habe »gerade auch mit Blick auf die Klimaziele und die Versorgungssicherheit eine bedeutende Rolle«, heißt es etwa im Wahlprogramm der Union, die in Umfragen stärkste Partei ist.
Dass Deutschland 2024 im ersten vollständigen Jahr, in dem es keinen eigenen Atomstrom mehr produzierte, den Import aus Frankreich mit seinem Atomstromanteil von gut zwei Dritteln hochschraubte, sehen die Kernkraftbefürworter hier zu Lande als Bestätigung. Im Bundestag beschäftigte sich sogar ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss mit der Frage, ob die Abschaltung der letzten drei Anlagen im April 2023 voreilig oder gar fahrlässig gewesen sein könnte.
Die Internationale Energieagentur stellt sich hinter die Kernkraft
Wie um diese Debatte zu befeuern, meldete sich im Januar 2025 Fatih Birol, der Chef der Internationalen Energieagentur (IEA), mit einem Plädoyer zu Wort. Er stellte einen Bericht seiner Organisation mit dem Titel »Der Weg in eine neue Ära der Kernenergie« vor und erklärte dazu: »Die Kernenergie erlebt ein starkes Comeback, mit steigenden Investitionen, technologischen Fortschritten und Rückenwind aus der Politik in über 40 Ländern.«
Der Bericht zeichnet auf seinen ersten Seiten ein rosiges Bild der nuklearen Zukunft: Kernenergie sei nach der Wasserkraft und noch vor Wind- oder Solarenergie die zweitwichtigste Stromquelle ohne klimaschädliche CO2-Emissionen. Weltweit seien 420 Reaktoren in Betrieb, 60 von ihnen würden derzeit für einen längeren Betrieb ertüchtigt. 63 neue Reaktoren entstünden, wobei bei 52 von ihnen der Bau in den vergangenen sieben Jahren begonnen wurde. Das unterstreicht den Eindruck eines frisch angelaufenen Booms. 1,5 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen vermeide die Kernkraft jährlich pro Jahr, heißt es weiter.
Der Bericht bietet Szenarien, denen zufolge sich die Atomstromproduktion weltweit bis 2050 mehr als verdoppeln könnte. Entsprechend fielen viele Überschriften zu dem Report aus: »IEA sieht Kernkraft weltweit vor einer Renaissance«, meldete etwa der Deutschlandfunk.
Doch liest man weiter, was die IEA-Experten schreiben, entsteht nicht der Eindruck eines Booms oder Comebacks – sondern einer Forderung danach, diesen mit Staatsgeldern erst noch zu ermöglichen.
Der Anteil der Kernenergie an der weltweiten Stromerzeugung betrug 2023 etwas über neun Prozent – in den späten 1990er Jahren, heißt es im Report, war er noch doppelt so hoch. Dahinter stecken laut IEA ein Mangel an Neubauprojekten bei steigendem Strombedarf, die Alterung bestehender Anlagen und die Stilllegung von Reaktoren weltweit. In der EU sei der Anteil vom Höchstwert von 34 Prozent im Jahr 1997 auf heute 23 Prozent gesunken. Dagegen ist der Anteil von erneuerbaren Energien in der EU in diesem Zeitraum schnell und steil auf über 40 Prozent gestiegen.
Die Probleme der Atomkraft: Zeit und Geld
In den USA, dem Industrieland mit den meisten Reaktoren, sind über die Hälfte der Anlagen älter als 40 Jahre, in Frankreich immerhin ein Drittel. Von den 52 Neubauprojekten, die weltweit seit 2017 begonnen haben, befinden sich lediglich vier in westlich geprägten Ländern – zwei in Großbritannien, zwei in Südkorea. Der Westen hat sich dem Report zufolge weitgehend aus dem internationalen Markt zum Bau von Kernkraftwerken verabschiedet: Die weiteren 48 neuen Anlagen werden mit russischer und chinesischer Technologie gebaut. Ohnehin befindet sich die Hälfte der weltweit begonnenen Neubauprojekte in China, die anderen verteilen sich mit jeweils kleinen Anteilen auf nur elf Länder. In vielen Fällen ist der Staat Bauherr oder deckt einen Großteil der Kosten. Ändern könnte sich diese Lage erst mit dem Einstieg in den Bau von SMRs, an denen auch in Europa Privatfirmen arbeiten.
Kleine Modulare Reaktoren (SMR)
Weltweit arbeiten Firmen und staatliche Forscher an einer neuen Generation von Kernreaktoren, die mit Leistungen von nur wenigen hundert Megawatt deutlich kleiner ausfallen sollen als bisherige Anlagen, die typischerweise 1000 Megawatt und mehr haben. Es soll möglich sein, diese neuen Kraftwerke modular in Fabriken zu bauen und dann dezentral zum Beispiel in Industriegebieten aufzustellen. Deshalb ist von SMRs die Rede, was für Small Modular Reactors steht.
Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) gibt es mindestens 80 verschiedene Konzepte für SMRs, die alle in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung sind.
Als Vorreiter gelten China, wo 2023 eine erste Pilotanlage in Betrieb ging, und die USA, wo 2030 der erste solche Reaktor für Google ans Netz gehen soll. Die IEA verzeichnet aber ebenso in Europa in großes Interesse und nennt Frankreich, die Tschechische Republik, Finnland und Schweden als Vorreiter. Auch in Kenia und Ghana gebe es Interesse.
Im Szenario mit dem höchsten SMR-Anteil kommt die IEA für das Jahr 2050 auf 190 Gigawatt Leistung, 15 GW davon in Europa. Der reale Zuwachs an Atomstrom würde in diesem Szenario jedoch nur 60 Gigawatt betragen, da gleichzeitig 130 Gigawatt entfallen, weil überalterte Reaktoren abgeschaltet werden müssen.
Der Anteil der SMRs an der globalen Stromerzeugung liegt dem optimistischsten Szenario der IEA zufolge zur Mitte des Jahrhunderts bei zwei Prozent.
Kritisch setzt sich der Report mit den benötigten Bauzeiten und Kosten großer Reaktoren auseinander. Vor allem in Industrieländern seien »die meisten Projekte der letzten Zeit von erheblichen Verzögerungen und Kostenüberschreitungen geplagt« gewesen. So habe man beim Europäischen Druckwasserreaktor im französischen Flamanville anfangs mit einer Bauzeit von fünf Jahren und Kosten von rund 3000 Euro pro Kilowatt Leistung gerechnet – und sei bei 17 Jahren und 11 000 Euro pro Kilowatt gelandet. Die von der IEA genannten Kosten sind aber anscheinend noch untertrieben. Der französische Rechnungshof präsentierte Mitte Januar 2025 eine eigene Rechnung: Demnach waren 2006 rund 3,3 Milliarden Euro erwartet worden, inzwischen lägen die Kosten des Reaktors bei knapp 24 Milliarden Euro.
Die Internationale Energieagentur stellt fest, dass Erneuerbare bei den Bauzeiten einen erheblichen Vorteil haben: »Die meisten anderen emissionsarmen Energietechnologien können viel schneller gebaut werden.« So könnten beispielsweise Windkraft- und Solaranlagen in der Regel einschließlich Planung in weniger als vier Jahren und manchmal sogar in weniger als zwei Jahren fertig gestellt werden.
»Die meisten anderen emissionsarmen Energietechnologien können viel schneller gebaut werden«Internationale Energieagentur
Für die künftige Stromversorgung werden die weltweit bestehenden 420 Reaktoren der IEA zufolge eine stark schrumpfende Rolle spielen, weil sie das Ende ihrer Betriebszeiten erreichen. Um rund ein Drittel wird die Leistung der laufenden Reaktoren demnach allein bis 2030 sinken, legt man die aktuellen Betriebsgenehmigungen zu Grunde. Auch wenn die Anlagen für längere Laufzeiten ertüchtigt werden können, geht bis 2050 rund die Hälfte ihrer Leistung vom Netz.
Der Vergleich mit Wind und Sonne ist ernüchternd
Sollten angekündigte Reaktor-Neubauten auch realisiert werden, stiege die weltweite Nuklearleistung durch sie um etwa die Hälfte von 416 Gigawatt Ende 2023 auf 650 Gigawatt bis 2050. Maximal hält die IEA bis zur Mitte des Jahrhunderts rund 1000 Gigawatt für möglich. Der Preis für Nachrüstung und Neubau von Reaktoren in dieser Größenordnung läge zwischen 1700 Milliarden und 2900 Milliarden US-Dollar, wobei die IEA bei den Kosten pro Gigawatt eher optimistische Annahmen zu Grunde legt. Setzt man den im Westen heute typischen Baupreis von fünf bis zehn Milliarden Dollar pro Gigawatt ein, kommt man auf 3250 bis 7500 Milliarden US-Dollar Kosten.
Zudem sollte man die angekündigten Atom-Neubauten mit aktuellen Zuwachsraten und Prognosen bei den erneuerbaren Energien vergleichen. Dann nämlich zeigt sich, dass der eigentliche Boom dort stattfindet: Die IEA geht davon aus, dass bereits 2026 sowohl die Stromerzeugung aus Wind- als auch aus Sonnenenergie jeweils die Stromerzeugung aus Kernkraft übertreffen werden. Bei den weltweiten Investitionen in Stromquellen fließt der größte Teil der Gelder in erneuerbare Energien, Kernkraft hat nur einen kleinen Anteil.
In ihrem »World Energy Outlook 2024« legt die IEA dar, dass sie für das Jahr 2050 mit einer weltweiten Stromerzeugung von 81 000 Terawattstunden (TWh) rechnet, von denen 71 000 TWh aus erneuerbaren Energien kommen würden und 7000 TWh aus Kernenergie. Der Anteil der Atomkraft an der weltweiten Stromerzeugung bleibt demnach selbst im optimistischsten Szenario bloß beim heutigen Stand von neun Prozent.
Was bedeutet das für die Diskussion in Deutschland?
Im Untersuchungsausschuss im Bundestag geht es um den Vorwurf, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) habe nicht ergebnisoffen geprüft, ob es 2023 möglich gewesen wäre, die drei verbleibenden deutschen Kernkraftwerke weiterzubetreiben. Der Untersuchungsausschuss ist ein Unikum: Bei diesem parlamentarischen Instrument geht es normalerweise darum, ob die Regierung gegen geltendes Recht verstoßen hat. Den aktuellen Ausschuss haben Union und FDP mit dem Vorwurf eingesetzt, dass die Ampelkoalition ein 2011 von ihrer eigenen schwarz-gelben Regierung beschlossenes Gesetz implementiert hat.
Zudem standen einem Szenario, in dem die Reaktoren Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 weiter Strom produziert hätten, mehrere Hindernisse entgegen: Ein Weiterbetrieb hätte zunächst den vollen Gesetzgebungsprozess durchlaufen müssen, was einiges an Zeit gekostet hätte. Der Brennstoff war schon so weit aufgebraucht, dass man die Anlagen herunterfahren und bei unklarem Ausgang mit teurem neuem Uran hätte beladen müssen.
Bei den drei Anlagen waren jeweils intensive technische Wartungsarbeiten, wie sie alle zehn Jahre gesetzlich vorgeschrieben sind, mit Blick auf die Stilllegung aufgeschoben worden. Vor einem Weiterbetrieb hätte diese aufwändige »Revision« stattfinden müssen. Da bereits Hinweise auf undichte Ventile und Leitungen vorlagen, hätte es zu langwierigen Prüfungen und Reparaturen kommen können. Dass die Kernkraftwerke nahtlos und verlässlich zur Verfügung gestanden hätten, um Deutschland während der durch den Ukrainekrieg ausgelösten Phase hoher Strompreise zu helfen, trifft also so nicht zu.
Der befürchtete Engpass in der Stromversorgung blieb aus: Nach dem Atomausstieg mussten Wind- und Solarkraftwerke seltener zwangsweise stillgelegt werden, um eine Überlastung des Stromnetzes zu vermeiden. Der Ausbau erneuerbarer Energien gewann an Schwung, während der Anteil der Kohleenergie deutlich auf rund 23 Prozent zurückging. 2024 erzeugten Kohlekraftwerke nach Angaben des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme in Deutschland nur noch so viel Strom wie zuletzt 1957. Deutschland war immer in der Lage, seine Stromversorgung zu gewährleisten – bloß wurde es phasenweise billiger, Strom aus Frankreich und Skandinavien einzukaufen, als eigene Reservekraftwerke anzuwerfen. Das ist auf dem europäischen Binnenmarkt kaum ein Skandal.
Die nötigen Milliarden sollen aus Steuergeldern kommen
Für Politiker, die nun fordern, die eineinhalb Jahre abgeschalteten Anlagen wieder in Betrieb zu nehmen, hält die IEA in ihrem Report Warnungen bereit: Es handle sich dabei um einen »technisch komplexen Prozess«, der gründliche Untersuchungen zur Sicherheit und zu den Umweltfolgen sowie ein intensives Genehmigungsverfahren erfordere. Nach einer Bestandsaufnahme müssten die Anlagen gewartet und nötige Reparaturen ausgeführt, in vielen Fällen korrosionsanfällige Komponenten ganz ausgetauscht werden. Möglich sei ein Neustart lediglich, wenn auch das erforderliche hochqualifizierte Personal vorhanden sei. Unerlässlich sei es, den Betrieb beim Neustart intensiv zu testen und die Leistung nur schrittweise hochzufahren, um die Sicherheit zu gewährleisten. »Die Erfahrungen mit dem Wiederanfahren von Kernreaktoren sind weltweit begrenzt«, heißt es in dem Report. Immerhin in Japan läuft derzeit ein solcher Prozess.
»Investitionen in die Kernenergie werden hauptsächlich von Regierungen über staatliche Versorgungsunternehmen finanziert«Internationale Energieagentur
Auch wenn die IEA sehr deutlich für den Ausbau der Kernenergie plädiert, erscheinen Begriffe wie Boom oder Renaissance angesichts der Zahlen des Reports fragwürdig. In jedem Fall daneben liegt, wer sie einsetzt, um den Ausbau erneuerbarer Energien zu torpedieren: Die Energieagentur plädiert dafür, Kernkraft ausschließlich deshalb auszubauen, um Kohle- und Gaskraftwerke abschalten zu können und den in großem Stil nötigen Ausbau erneuerbarer Energiequellen zu ergänzen.
Ein Neubau von Reaktoren in Deutschland wäre demnach sinnvoll, wenn er sich von den Kosten her lohnen würde, um die Energiewende zu ergänzen. Den zentralen Vorteil der Kernkraft, rund um die Uhr unabhängig vom Wetter die so genannte Grundlast an Strom zu produzieren, bieten unter den erneuerbaren Energien aber inzwischen die Biogasanlagen. Deren kontinuierliche Stromerzeugung ist gewachsen und entspricht seit 2022 der von gut drei Kernkraftwerken. Zudem sind viele große Batteriespeicher in Planung, die künftig Spitzen bei Angebot und Nachfrage von Solar- und Windstrom ausgleichen können. Solche und ähnliche Vorhaben könnten die regenerative Stromversorgung zunehmend vom Wetter entkoppeln.
Auf die Frage, ob es Unternehmen gibt, die trotz dieser Trends in Deutschland Bauzeiten von 10 bis 20 Jahren und hohe Milliardenbeträge an Investitionen übernehmen wollten, bietet der IEA-Report keine konkrete Antwort. Wer garantierten müsste, dass das benötigte Geld zur Verfügung steht, benennt die Energieagentur dagegen klar: der Staat. »Investitionen in die Kernenergie werden hauptsächlich von Regierungen über staatliche Versorgungsunternehmen finanziert«, stellt der Report fest. Für einen weltweiten Zubau an Kernkraftwerken seien erhebliche staatliche Förderprogramme und Subventionen unerlässlich.
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