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Springers Einwürfe: Ein neuartiges nukleares Risiko

Derzeit entwickelte Kernreaktoren brauchen mittelstark angereichertes Uran. Damit verschwimmt die Grenze zwischen kommerziellem Nuklearbrennstoff und Bombenmaterial.
leuchtendes Warnzeichen für Radioaktivität vor dunklem Hintergrund
Das steigende Interesse an alternativen Konzepten für Atomkraftwerke entfacht eine neue Debatte um die Risiken des radioaktiven Brennmaterials.
Ist die Energiewende sauber durchgerechnet? Kann die Forschung wirklich die Zukunft voraussagen? Und widerspricht die Quantenphysik sich selbst? In seinen Kommentaren geht der Physiker und Schriftsteller Michael Springer diesen und anderen Fragen am Rande des aktuellen Wissenschaftsgeschehens nach. Seit 2005 erscheint seine Kolumne »Springers Einwürfe«.

In der schönen neuen Welt der Kernenergie sollen viele kompakte Kraftwerke ihre Umgebung mit Strom versorgen, ohne die Atmosphäre mit schädlichem Treibhausgas zu belasten. Die Rede ist von alternativen Reaktorkonzepten (»advanced reactors«), die, so das deutsche Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, gegenüber herkömmlichen Atomkraftwerken eine ganze Reihe von Vorteilen versprechen: Nicht nur billiger, sicherer und abfallärmer sollten sie arbeiten, sie wären obendrein »weniger geeignet zur Erzeugung von Spaltstoffen für Atomwaffen«.

Abgesehen davon, dass derzeit noch keines dieser Kraftwerke tatsächlich Strom ins Netz speist, weckt vor allem der letzte Punkt starke Zweifel. Die neuen Reaktoren operieren mit höher angereichertem Uran als ein herkömmlicher Atommeiler – und geraten damit an und über die Grenze zu waffenfähigem Kernmaterial.

Davor warnen fünf ausgewiesene Experten für nukleare Sicherheit, zu denen die altgedienten US-Regierungsberater Richard Garwin und Frank von Hippel gehören. Sie sehen bei fortgeschrittenen Reaktoren die Gefahr einer unkontrollierten Weitergabe (Proliferation) des brisanten Brennmaterials.

Ein heutiges Kernkraftwerk läuft mit Uran, in dem der natürliche Anteil des spaltbaren Isotops U-235 von 0,7 Prozent auf 3 bis 5 Prozent angereichert wurde; man spricht von low-enriched uranium (LEU). Doch für die meisten neuartigen Reaktoren reicht LEU nicht: Da sie kleiner konzipiert sind und somit mit weniger Brennstoff auskommen sollen, muss der U-235-Anteil höher konzentriert werden – bis auf 19,75 Prozent. Damit nähert sich dieses so genannte high-assay low-enriched uranium (HALEU) haarfein der Schwelle von 20 Prozent U-235, ab der per Definition hoch angereichertes, waffenfähiges Uran (highly enriched uranium, HEU) vorliegt.

Die 20-Prozent-Grenze wurde 1979 von der US Nuclear Regulatory Commission festgelegt. Seither ist die Nukleartechnik nicht stehen geblieben. Mit modernen Ansätzen lassen sich auch aus schwächer angereicherten Kernbrennstoffen Bomben basteln. Eine HALEU-Waffe könnte schon ab zwölf Prozent Anreicherung funktionieren, wenn man einige hundert Kilogramm Kernbrennstoff zu einer Kugel von einem halben Meter Durchmesser formt und mit einem Neutronenreflektor ummantelt. Per Flugzeug, Lastwagen oder Motorboot ließe sich das klobige Gerät ins Ziel bringen, und es würde eine mit der Hiroshima-Bombe vergleichbare Verheerung anrichten.

Das gruselige Szenario löst hoffentlich einen heilsamen Schock aus

Das gruselige Szenario der Experten löst hoffentlich einen heilsamen Schock aus – sofern es nicht schon zu spät ist. Die US-Regierung macht gerade mehrere Milliarden Dollar locker, um von privater Hand bald mehr als 100 Tonnen HALEU jährlich produzieren zu lassen. Die Atommächte Großbritannien und Frankreich wollen nachziehen, während Russland und China ohnedies schon längst auf großen Mengen mittelstark angereicherten Urans sitzen.

All das ereignet sich in einer von Krisen geschüttelten Welt, in der mehr oder weniger offen über den »begrenzten« Einsatz nuklearer Kampfmittel spekuliert wird. Gleichzeitig versagen sukzessive alle im Kalten Krieg etablierten Abkommen zur Rüstungskontrolle. Der Konfliktforscher Matthew Bunn von der Harvard University meint, noch nie seit der Kubakrise von 1962 sei das Risiko eines Nuklearkriegs so groß gewesen wie heute. Er kann nur hoffen, dass die verfeindeten Regierungen fachkundigen Rat einholen, um vertrauensbildende Maßnahmen anzubahnen – wie das im Kalten Krieg geschah.

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  • Quellen

Bunn, M.: Reducing nuclear dangers. Science 384, 2024

Kemp, R. S. et al.: The weapons potential of high-assay low-enriched uranium. Science 384, 2024

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