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Aufräumen: Was Unordnung mit uns macht

Auf Netflix hilft die japanische Ordnungsberaterin und Bestsellerautorin Marie Kondo Menschen beim Ausmisten. Doch warum fällt es uns überhaupt so schwer, Besitztümer wegzugeben? Und was passiert mit uns, wenn wir im Chaos leben?
Kellerabteil

Auf Netflix reduziert der Mittdreißiger Mario gerade seine Sneaker-Sammlung von stolzen 150 auf immerhin noch 45 Paar. Die Aufräum-Ikone Marie Kondo hilft ihm dabei. Ihre Methode: sämtliche Besitztümer auf einen Haufen werfen, jedes Teil einzeln in die Hand nehmen und sich ganz ehrlich fragen: Bringt mir das Freude? Nach ihrem Bestseller »Magic Cleaning« folgte 2019 eine Reality-Serie, in der Kondo bei US-Familien für Ordnung sorgt. Dabei fließen in so mancher Folge Tränen, am Ende gibt sich der Aufräumpatient geläutert.

Die westliche Welt ertrinkt im Überfluss; unsere Wohnungen sind vollgestopft mit Konsumgütern. Ratgeber übers Ausmisten haben deshalb gerade Konjunktur. Das Problem: Es macht Spaß, Schuhe zu kaufen. Und Kinderspielzeug. Und Kaffeetassen. In einer Studie der kanadischen University of British Columbia durften Studenten für 20 Dollar aus dem Forschungsbudget einen Gegenstand ihrer Wahl erwerben oder den Betrag in ein Erlebnis investieren. Kurz nachdem sie das Geld ausgegeben hatten, waren sie in beiden Fällen ähnlich glücklich. Nach einem Monat hatte sich die anfängliche Freude über den neuen Besitz allerdings stärker abgenutzt als die über das Erlebnis – ein neuer Quell der Freude muss also her!

Auf diese Weise häufen viele Menschen auf der Suche nach dem nächsten Shopping-Kick mehr Zeug an, als ihnen lieb ist. Manche Konsumkritiker haben deshalb bereits begonnen, diesem Trend mit extremen Maßnahmen entgegenzuwirken: Sie reduzieren ihren Besitz auf das Allernötigste und verkaufen ihre Häuser, um in winzige, liebevoll gestaltete Wohnwagen, so genannte »Tiny Houses«, zu ziehen. Die Idee vom Minimalismus ist dabei nicht neu. Bereits im Sommer 1845 zog der Schriftsteller Henry David Thoreau in eine Blockhütte in den Wäldern von Massachusetts und verfasste mit seinem Roman »Walden« ein Manifest für ein Leben in selbst gewählter Einfachheit.

Gestresst in den eigenen vier Wänden

Dass eine vollgestopfte Wohnung durchaus zur Belastung werden kann, zeigt etwa eine Studie von Psychologen der DePaul University in Chicago aus dem Jahr 2016. Die Forscher rekrutierten ihre Versuchspersonen über das Institute for Challenging Disorganization, eine gemeinnützige Organisation für Leute, denen ihr Hab und Gut über den Kopf wächst. Sie bestätigten, was viele ahnten: Wer in Unordnung lebt, fühlt sich in seinem Zuhause weniger sicher und geborgen und insgesamt unglücklicher. Die Untersuchung erfasst jedoch vor allem Extremfälle. Die Erkenntnisse lassen sich deshalb nicht zwangsläufig auf Menschen übertragen, die keine Beratungsstelle aufsuchen, merken die Forscher an.

Eine Untersuchung, für die die Psychologinnen Darby Saxbe von der University of Southern California und Rena Repetti von der University of California in Los Angeles 60 US-amerikanische Mütter und Väter baten, mit einer Kamera bewaffnet eine Führung durch ihr Haus zu geben, weist aber zumindest in eine ähnliche Richtung. Nach der Roomtour analysierten die Forscherinnen die Wortwahl der Probanden in den Videos. Wie oft hatten die Teilnehmer ihr Zuhause als zugestellt oder unfertig beschrieben, wie oft verwendeten sie positive Worte wie »gemütlich« oder »friedlich«?

Während das Verhältnis zu ihrer Wohnumgebung die Männer nicht besonders beeinflusste, waren die Frauen signifikant unzufriedener, wenn sie mit dem Zustand ihres Hauses haderten, wie eine ergänzende Befragung offenbarte. Eine Speicheluntersuchung an drei aufeinander folgenden Tagen lieferte bei den betreffenden Probandinnen zudem Hinweise auf einen ungünstigen Kortisolspiegel, der auf mehr Stress hindeutete. Ihre Laune verschlechterte sich im Lauf des Tages immer weiter, wohingegen sich die Stimmung der übrigen Frauen eher aufhellte.

Unordnung scheint uns nicht nur unzufriedener zu machen: In manchen Fällen beeinflusst sie sogar unser Verhalten. Das demonstrierte etwa der australische Forscher Lenny Vartanian, indem er Probandinnen im Alter von 17 bis 27 Jahren unter dem Vorwand in sein Labor einlud, er wolle ihre Geschmackspräferenzen untersuchen. Dort kredenzte er ihnen einen Teller mit Crackern, Keksen und Karotten, von denen sie nach Belieben kosten sollten. Manche Teilnehmerinnen fanden die Laborküche dabei sauber und ordentlich vor, andere völlig chaotisch: Da waren Berge aus Küchenpapier aufgetürmt, Becher und Besteck lagen kreuz und quer verstreut.

Unordnung macht Appetit auf Kekse

Das Gemüse war insgesamt bei allem Probandinnen weniger beliebt als das Gebäck; Cracker und Kekse lagen in etwa gleichauf. Mussten die Frauen jedoch zuvor über ein unangenehmes Ereignis in ihrer Biografie schreiben, aßen sie im Schnitt doppelt so viele Kekse in der Chaosküche wie entspannte Versuchsperson. In einer aufgeräumten Umgebung hatte die unangenehme Erinnerung hingegen keinen Einfluss auf den Kekskonsum. Die Kombination aus emotionalem Stress und Unordnung ließ die Frauen bei Süßem also vermehrt zugreifen, schlussfolgern die Autoren.

Auch ein Team um die Sozialpsychologin Kathleen Vohs von der University of Minnesota verglich in verschiedenen Experimenten, wie sich Testpersonen in aufgeräumten und unaufgeräumten Zimmern verhalten. Nachdem die Probanden einige Minuten damit zugebracht hatten, Fragebogen auszufüllen, baten die Forscher sie, Geld für einen guten Zweck zu spenden, und stellten sie auf dem Weg nach draußen vor die Wahl, einen Apfel oder einen Schokoriegel mitzunehmen. Hatten die Teilnehmer in einem Raum gearbeitet, in dem Blätter und Bücher verstreut lagen, spendeten nur 47 Prozent von ihnen und gerade mal 20 Prozent wählten die gesunde Kost. Im aufgeräumten Zimmer hingegen waren 82 Prozent der Probanden bereit zu helfen, und die Mehrheit entschied sich für Obst statt Schokolade.

Aller Anfang ist schwer | Wer mit dem Aufräumen beginnt, sollte sich zunächst auf einen kleinen Bereich konzentrieren – und sich nicht gleich die gesamte Wohnung vornehmen. So bleibt man länger motiviert.

In einer chaotischen Umgebung verliert man im wahrsten Sinne des Wortes schneller den Überblick. Als die Psychologen James Cutting und Kacie Armstrong von der Cornell University im Bundesstaat New York ihren Probanden Szenen aus Filmen wie dem Justizdrama »Erin Brockovich« oder Stanley Kubricks »Spartacus« zeigten, brauchten diese umso länger, um die Gesichtsausdrücke der Leinwandhelden zu erkennen, je unübersichtlich der Bildhintergrund gestaltet war. Wer sich auf eine Aufgabe konzentrieren will, tut dies also offenbar besser, wenn er visuell nicht zu sehr abgelenkt wird.

Doch ist Unordnung wirklich immer schlecht? Nicht ganz. Es scheint tatsächlich Momente zu geben, in denen wir vom Durcheinander profitieren können. Auch das zeigt ein Experiment von Vohs und ihren Kollegen aus derselben Versuchsreihe. Dabei sollten die Teilnehmer entweder in einem ordentlichen oder in einem unaufgeräumten Zimmer möglichst viele Ideen entwickeln, wofür sich ein Tischtennisball verwenden lässt. Beide Gruppen hatten gleich viele Einfälle, unabhängige Beurteiler hielten die im Chaos entstandenen allerdings für signifikant kreativer.

Kreative Chaoten

In einem anderen Setting sollten sich die Probanden einen Smoothie aus einer Getränkekarte aussuchen. Manche waren dabei als »klassisch« beschrieben, andere als »neu«. Das Ergebnis: Im unaufgeräumten Ambiente bevorzugten die Teilnehmer eher die neuen Rezepturen. Lange nahm man an, dass Menschen per se von einer geordneten Umgebung profitieren. Vohs' Befunde sprechen für eine nuanciertere Wahrheit: Unordnung regt uns offenbar dazu an, von der Norm abzuweichen, uns unkonventionell zu verhalten, und bringt uns so mitunter auf originellere Ideen. Die Autorin merkt in der Studie an, dass viele große Denker wie Albert Einstein ziemliche Chaoten gewesen sein sollen.

Sich hin und wieder zumindest von einigen Besitztümern zu trennen – oder gar nicht erst so viele anzuhäufen –, ist dennoch sinnvoll. Aber warum fällt uns Ausmisten meist so schwer? Das könnte damit zusammenhängen, dass wir oft erstaunlich schnell eine emotionale Bindung zu Dingen aufbauen. Sara Kiesler von der Carnegie Mellon School of Computer Science in Pittsburgh zeigte Studenten einen Film, in dem sich geometrische Figuren bewegten und manchmal kollidierten. Ein Teil der Probanden hatte zuvor erfahren, dass ein kleines Dreieck ihnen gehörte. Während Beobachter ohne Besitz das Geschehen eher gelangweilt verfolgten, reagierten die anderen emotional – und bildeten sich beispielsweise ein, »ihr« Dreieck würde von einem größeren angegriffen.

Bei manchen Menschen ist die emotionale Bindung zum eigenen Besitz sogar so eng, dass sie krankhafte Ausmaße annimmt. Psychologen sprechen in diesem Fall auch von »pathologischem Horten«, das 2013 als eigene Diagnose Einzug in das Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-5) erhielt. Betroffene sammeln Dinge, die andere als völlig wertlos erachten – etwa alte Zeitungen oder kaputte Elektrogeräte. Obwohl manche Räume durch den angehäuften Trödel mitunter unbewohnbar werden, sind sie nicht in der Lage, sich von ihnen zu trennen. Viele Wissenschaftler halten das Syndrom für eine Unterform der Zwangsstörung, da Zwangspatienten manchmal ähnliche Symptome zeigen: Sie leiden unter der Vorstellung, dass etwas Schreckliches passiert, sobald sie einen bestimmen Gegenstand wegwerfen.

Unordnung regt uns offenbar dazu an, von der Norm abzuweichen, uns unkonventionell zu verhalten, und bringt uns so auf originellere Ideen

Experten schätzen, dass rund zwei bis sechs Prozent der Menschen in Europa und den USA vom pathologischen Horten betroffen sind. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Für die überwiegende Mehrheit sollte es eigentlich keine unüberwindbare Hürde darstellen, das Chaos in den eigenen vier Wänden in den Griff zu bekommen. Doch wo fängt man am besten an, wenn man den Entschluss zum Aufräumen erst einmal gefasst hat? Zum Beispiel im Schlafzimmer. In einer Erhebung der US-amerikanischen National Sleep Foundation gaben nämlich mehr als die Hälfte der Befragten an, ein sauberes und ordentliches Schlafzimmer sei für sie Voraussetzung für eine erholsame Nachtruhe.

Ist die erste Ecke dann erst einmal auf Vordermann gebracht, fühlen wir uns anschließend oft wie berauscht. Denn wenn wir ein Ziel erreichen oder ein Projekt erfolgreich abschließen, regt sich meist das neuronale Belohnungssystem – und motiviert uns für den nächsten Schritt. Deshalb ist es ratsam, beim Aufräumen zunächst einen kleinen Bereich anzugehen, statt sich gleich das ganze Haus vorzunehmen.

Einen Trick, wie man sich auch von Gegenständen mit sentimentalem Wert leichter trennen kann, kennen Karen Page Winterich von der Pennsylvania State University und ihre Kolleginnen Rebecca Walker Reczek und Julie R. Irwin. Die drei Forscherinnen ließen Studierende, die einen Teil ihres Hab und Guts an eine gemeinnützige Organisation spenden sollten, die betreffenden Besitztümer zuvor fotografieren. Teilnehmer, die solche Bilder machten, konnten sich zusammen von 613 Gegenstände trennen, eine Kontrollgruppe gab hingegen nur 533 Stücke weg. Die Wissenschaftlerinnen vermuten, dass die Fotos als Gedächtnisstütze fungieren und uns dabei helfen, die schönen Erinnerungen, die mit manchen Besitztümern verbunden sind, sowie deren Bedeutung für unsere Identität zu konservieren.

Soll die neu geschaffene Ordnung langfristig halten, wird man allerdings wohl kaum darum herumkommen, seine Einkaufsgewohnheiten zu hinterfragen und zu verändern. Wie geht es wohl mit Mario weiter, sobald Kondo und das Kamerateam wieder abgerückt sind? Ob er beim nächsten Besuch im Schuhgeschäft stark bleiben kann?

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