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Covid-19: Wie wahrscheinlich ist es, an Long Covid zu erkranken?

Zu dieser Frage gehen die Forschungsergebnisse weit auseinander. Auch ist unklar, wie gut eine Coronaimpfung vor Long Covid schützt. Das liegt mitunter an den Studien selbst.
Eine Frau sitzt auf einem Bett in einem abgedunkelten Raum (Symbolbild).
Eine Frau sitzt auf einem Bett in einem abgedunkelten Raum (Symbolbild).

Der Epidemiologe Ziyad Al-Aly hat Zugang zu einem Datenschatz, von dem andere Forschende nur träumen: Millionen von elektronischen Krankenakten des US-Kriegsveteranenministeriums. Das US Department of Veterans Affairs (VA) ist für die medizinische Versorgung der Militärveteranen des Landes zuständig.

Anhand dieser Daten haben Al-Aly vom VA St. Louis Healthcare System in Missouri und sein Team die langfristigen Auswirkungen einer Covid-19-Infektion untersucht – darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Mit Hilfe ihrer Daten erforschen sie auch Long Covid. Über diese Form von Langzeitbeschwerden berichten zahlreiche Menschen: Monate nach einer durchgemachten Sars-CoV-2-Infektion verspüren sie immer noch Symptome. Al-Alys Arbeitsgruppe hat nun eine Studie zu Long Covid in »Nature Medicine« veröffentlicht – und die Kollegenschaft war von den Ergebnissen einigermaßen überrascht. Eine Impfung würde das Risiko, nach der Infektion an Long Covid zu erkranken, nur um etwa 15 Prozent verringern. Das ist deutlich weniger, als Arbeitsgruppen zuvor herausfanden, die von einer Halbierung des Risikos ausgingen.

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Wer über Long Covid forscht, hat sich an solche Ergebnisse allerdings gewöhnt. Die Daten der verschiedenen Studien sind oft widersprüchlich. Auch weil Long Covid unterschiedlich definiert wird und die verwendeten Datensätze und deren Auswertung disparat sind. Für die Gesellschaft und politische Entscheidungsträger ist diese Situation freilich unbefriedigend, da einige grundlegenden Fragen unbeantwortet bleiben. Wie häufig tritt Long Covid auf? Wie wirkt sich eine Impfung, eine erneute Infektion oder eine neue Coronavariante auf das Risiko aus, daran zu erkranken?

Die Antworten auf solche Fragen könnten auch helfen, solide Coronastrategien zu entwickeln. Aber die gegensätzliche Studienlage schaffe momentan eher Verwirrung als Aufklärung, sagt Al-Aly, zudem fördere sie nicht das Vertrauen in die Forschung: »Die Öffentlichkeit reagiert nicht sehr gut auf Aussagen wie ›zwischen 15 und 50 Prozent‹.«

Für Long Covid gibt es keine einheitliche Diagnose

Ein Teil des Problems ist die Definition von Long Covid. Mehr als 200 Symptome werden mit dem Syndrom in Verbindung gebracht, die sowohl leichte als auch ernsthafte Beschwerden umfassen. Die Erkrankung kann sich zudem über Monate oder Jahre hinziehen, und es kann – was besonders für Beunruhigung sorgt – erneut auftreten, selbst Monate nach einer scheinbaren Genesung.

Bislang sind sich Fachleute uneins über die Definition und die Diagnose der Erkrankung. Im Jahr 2021 hat die Weltgesundheitsorganisation einen Vorschlag veröffentlicht, dem Patientenvertreter und Forschende jedoch kaum folgen. Zudem werden in Studien weiterhin unterschiedliche Kriterien zur Definition herangezogen. Die Schätzungen, wie häufig Long Covid auftritt, reichen dabei von 5 bis 50 Prozent.

Eine gut gemachte Studie über diese Erkrankung muss ausreichend viele Teilnehmer umfassen, um die Bandbreite der Symptome sowie mögliche Effekte abzudecken, die durch das Alter der Patienten oder den Schweregrad der Sars-CoV-2-Infektion bedingt sind. Analysen wie die von Al-Aly bieten dahingehend eine Reihe von Vorteilen: Daten aus großen Netzwerken einer Gesundheitsversorgung können enorme Stichprobengrößen liefern. Al-Alys Studie über Long Covid bei Impfdurchbrüchen umfasst die Daten von mehr als 13 Millionen Menschen. Obwohl 90 Prozent davon Männer sind, sind dies sehr viel mehr Daten, als andere Studien sammeln können, merkt Al-Aly an.

Der große Umfang sowie die Art der Daten ermöglichen es Fachleuten, komplexe statistische Analysen durchzuführen. So lassen sich demografische Informationen über die Infizierten mit einer gesunden Kontrollgruppe abgleichen, sagt Theo Vos, Epidemiologe an der University of Washington in Seattle, der bereits über verschiedene Datenquellen zu Long Covid geforscht hat.

Viele Studienteilnehmer zu haben, bedeutet nicht gleich eine gute Studienqualität

Doch es gibt auch Nachteile. »Die Größe der Studie wird oft mit ihrer Qualität und ihrer Aussagekraft verwechselt«, sagt der Mediziner Walid Gellad, der an der University of Pittsburgh in Pennsylvania über Gesundheitspolitik lehrt.

Gellad mahnt deshalb zur Vorsicht, weil Studien, die sich auf elektronische Gesundheitsakten stützen, oft nicht die Unterschiede im Patientenverhalten einbeziehen. Jemand, der an Covid-19 erkrankt und keine ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt, meldet wahrscheinlich auch nicht, wenn er Long Covid ausbildet – anders als jemand, der bereits die Infektion gemeldet hat.

Außerdem geben die Daten in den Krankenakten und solche von Krankenversicherungen nicht unbedingt die demografische Vielfalt der Bevölkerung wieder, sagt die Computerepidemiologin Maimuna Majumder von der Harvard Medical School in Boston. Das dürfte vor allem für die USA zutreffen, wo nicht alle Menschen krankenversichert sind. »Die Zahl der berücksichtigten Daten ist oft so groß, dass wir fälschlicherweise annehmen, diese seien deshalb repräsentativ«, sagt Majumder. »Das muss aber nicht sein.«

Auch ist sich Majumder nicht sicher, ob die erbrachten Leistungen einer Krankenkasse wirklich als Forschungsdaten taugen. Experten schätzen womöglich die Zahl der Erkrankten falsch ein, falls viele Menschen gar keine medizinische Versorgung in Anspruch genommen haben.

Welche Diagnoseschlüssel werden für Long Covid genutzt?

Ein weiteres Problem ist die Art und Weise, wie die Symptome in den elektronischen Krankenakten erfasst werden. Ärzte verwenden oft dieselben Codes für verschiedene Symptome, aber selten nennen sie einen Code je Symptom, sagt Vos. Und nicht alle Ärzte geben für denselben Zustand auch denselben Diagnoseschlüssel an. Folglich unterscheiden sich die Patientendaten für Long Covid. »Elektronische Gesundheitsakten enthalten zweifelsohne nützliche Informationen«, sagt Gellad, der Al-Alys Studie für besonders gut konzipiert hält. »Aber um die Frage zu beantworten, wie häufig etwas auftritt, bieten sie vielleicht nicht die beste Datengrundlage.«

Andere Vorgehensweisen bergen ebenfalls Fehlerquellen. Einige Studien beruhen auf Selbstauskünften, die mit Hilfe der App »COVID Symptom Study« vom King's College London und dem Datenforschungsunternehmen ZOE, ebenfalls in London, gesammelt wurden. Die Daten der App ergaben: Eine Impfung kann das Risiko an Long Covid zu erkranken – und zwar in einem Zeitraum von 28 Tagen oder mehr nach einer Coronainfektion – um etwa die Hälfte reduzieren. Doch gerade solche Studien, bei denen die Teilnehmer ihre Symptome selbst identifizieren, können verzerrte Daten liefern. Und weil Menschen mit Symptomen eher daran teilnehmen als solche ohne, sagt Gellad. Zudem werden in Arbeiten, die sich auf Smartphone-Apps stützen, möglicherweise sozial benachteiligte Gruppen vernachlässigt.

Welche Studien brauchbare Ergebnisse über Long Covid liefern

Als besonders nützliche Datenquelle hat sich das britische Amt für nationale Statistik (UK Office for National Statistics) erwiesen, sagt Nisreen Alwan von der University of Southampton. Laut einem Bericht des Amts vom Mai 2022 hängt Long Covid unter anderem davon ab, mit welcher Coronavariante man sich infiziert hat. Bei doppelt geimpften Teilnehmern war die Wahrscheinlichkeit, vier bis acht Wochen nach einer Infektion mit Omikron BA.1 Long Covid zu entwickeln, um 50 Prozent geringer als bei denjenigen, die an Delta erkrankt waren. Dieser Befund steht im Einklang mit den Ergebnissen einer Veröffentlichung im Fachblatt »The Lancet« vom Juni 2022, die auf Daten von ZOE beruhen.

Alwan lobt das Studiendesign des britischen Amts für nationale Statistik. Dafür haben Fachleute eine für die britische Bevölkerung repräsentative Gruppe akquiriert und diese dann zu Infektionsstatus und Symptomen befragt.

Das Studiendesign, etwa ob es eine Kontrollgruppe gab, hat großen Einfluss auf das Ergebnis. Doch umgekehrt sind unterschiedliche Herangehensweisen nicht unbedingt hinderlich für die Forschung. »Das ist ja nichts Neues«, sagt Alwan. »Das war schon vor Covid so, bei anderen Erkrankungen.«

Auch Al-Aly hält die Diskrepanzen zwischen den Studienergebnissen weder für überraschend noch für übermäßig problematisch. Epidemiologen würden oft verschiedene Datenquellen und Analysemethoden zusammenführen. Selbst wenn es schwierig sei, die Effekte einer Impfung auf das Risiko, an Long Covid zu erkranken, genau zu bestimmen, können Forschende zumindest Tendenzen ausmachen. »Wir suchen nach dem gemeinsamen Nenner«, sagt Al-Aly. »Und einer lautet auf jeden Fall, dass Impfungen besser sind als keine Impfungen.«

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