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»Geschichten aus der Mathematik«: Eine mathematische Weltreise

Heinz Klaus Strick stellt viele weitgehend unbekannte Größen der Mathematik aus der ganzen Welt vor. Dabei zeigt er in seinem durchaus anspruchsvollen Buch, wie wenig das europäische Mittelalter zur Entwicklung des Fachs beigetragen hat.
Eine dreidimensionale Landschaft aus verschieden großen, erhabenen goldfarbenen Zahlen vor dunklem Hintergrund.

Schon der Titel des Buches zeigt, dass es dem Verfasser nicht um eine systematische Darstellung der Geschichte des Fachs geht. Vielmehr wählt er wichtige Wissenschaftler eines Landes oder einer Epoche aus und beschreibt ihre Herkunft und ihren Werdegang, bevor er ihre Leistungen recht ausführlich vorstellt. Diese sind durch ihre Schriften überliefert und enthalten in der Regel umfangreiche Aufgabensammlungen aus den Bereichen Arithmetik, Algebra und Geometrie. Strick erläutert den Aufbau der Sammlungen, gibt den Inhalt der Kapitel wieder und wählt typische Aufgaben aus, die er mit Lösungen und Grafiken ergänzt. Sehr viele »Geschichten« im herkömmlichen Sinn werden allerdings nicht präsentiert – obwohl die hier skizzierten Lebensläufe (insbesondere der europäischen Mathematiker) auch dafür sicher Anlass böten. Der größte Teil des Buches besteht aus den historischen Aufgaben mit den Lösungen des Verfassers.

Die Zeit zwischen 500 und 1200 n. Chr., dem Mittelalter in Europa, hat in eben diesem Teil der Welt keine bemerkenswerten Vertreter der Mathematik hervorgebracht – ganz anders offensichtlich in Asien: in China, Indien und im Vorderen Orient. Über die wissenschaftliche Entwicklung in der muslimischen Welt (vor allem in Persien) hat der Autor in seinem Buch »Mathematik – einfach genial« bereits berichtet. Hier widmet er sich China und Indien, jeweils sechs Wissenschaftler aus der Zeit vom 3. bis 13. Jahrhundert bringt er uns näher. Man staunt, dass schon im 5. Jahrhundert ein Chinese die Zahl π auf sieben Dezimalen genau berechnet hat. Er nutzte die Methode der einbeschriebenen Vielecke, begann vermutlich mit einem Sechseck und muss demnach »die Seitenlänge eines regelmäßigen 12 288-Ecks berechnet haben – eine aus heutiger Sicht unglaubliche Rechenleistung!«. Und der indische Mathematiker Madhava schaffte es im 14. Jahrhundert sogar auf elf Dezimalen.

Strick formuliert mehrfach sein Erstaunen darüber, welche mathematischen Ideen und Methoden dort entwickelt worden sind, die teils erst Jahrhunderte später in Europa wiederentdeckt wurden. Beispielsweise wurden im Zusammenhang mit Kalenderrechnungen lineare Gleichungssysteme gelöst und die Modulo-Rechnung entwickelt. Diese Methode wurde von Euler 500 Jahre später wiederentdeckt und die allgemeine Theorie dazu, heute mit dem Begriff »chinesischer Restsatz« verbunden, schließlich von Gauß abgeschlossen.

Ob ein Austausch von Wissen zwischen China und Indien und dann weiter auch mit den vorderasiatischen Mathematikern stattgefunden hat, lässt sich, so der Verfasser, nicht im Detail nachweisen. So bleibt auch offen, ob und wie umfangreich solche Kenntnisse schließlich nach Europa gelangt sind. Unser Erdteil tritt in die Geschichte der Mathematik erst wieder ein, nachdem durch den Kontakt zu den arabischen Gelehrten die antike griechische Mathematik und die Abhandlungen der islamischen Wissenschaftler in Europa bekannt geworden sind.

Fibonacci, das spät entdeckte Genie

Der erste Mathematiker von Rang ist Leonardo von Pisa, heute vor allem durch seine »Kaninchen-Aufgabe« als Fibonacci und durch die nach ihm benannte Zahlenfolge bekannt. Erstaunlicherweise gerät sein Werk nach seinem Tode in Vergessenheit, erst im 18. Jahrhundert wird es wiederentdeckt. Strick nennt zwei Gründe dafür. Erstens sei Fibonacci seiner Zeit zu weit voraus gewesen, als dass er von Zeitgenossen hätte verstanden werden können. Zweitens konnte sein Buch, »Liber Abacci«, das »heute als eines der wichtigsten Bücher der Mathematikgeschichte Europas gilt«, vor der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern nur manuell kopiert werden und war daher wenig verbreitet. Es ist dem Verfasser ein Anliegen, Fibonaccis umfangreiches Werk ausführlich darzustellen: Auf rund 100 Seiten erfahren wir, nach den Originalkapiteln gegliedert, etwas über das Rechnen im Dezimalsystem mit den arabischen Ziffern, über Brüche und das Lösen von Dreisatzaufgaben. Viele der ausgewählten Aufgaben variieren dieselben mathematischen Ansätze in verschiedenen kaufmännischen Anwendungsfeldern. Wurzelrechnung, quadratische Gleichungen und lineare Gleichungssysteme zeigen, dass Fibonacci auch über höhere mathematische Kenntnisse verfügte.

Erstaunlich aber ist auf jeden Fall, dass dieses Wissen ohne unsere heutige formale Fachsprache entwickelt wurde. Aufgabenstellung und Lösung werden immer rein verbal formuliert. Selbst eine einfache quadratische Gleichung »x2 + 10x = 39« lautet bei Fibonacci »census et decem radices equantur 39«, und entsprechend wird der Lösungsweg in Worten formuliert.

Das »europäische Erwachen«

Ein »europäisches Erwachen« stellt der Autor im 15. Jahrhundert fest. Zwei Franzosen, Oresme und Chuquet, zwei Deutsche, Regiomontanus (Johann Müller) und Albrecht Dürer, sowie zwei Italiener, Luca Pacioli und Leonardo da Vinci, werden beschrieben. Wichtige Grundlage für die weitere Verbreitung mathematischen Wissens waren Übersetzungen antiker und arabischer Schriften ins Lateinische oder noch besser in die Landessprachen. Da Vinci, bekannt als Maler und Ingenieur, und Dürer haben sich durch ihre geometrischen Arbeiten hervorgetan. In Dürers Kupferstich »Melencolia« weist das magische 4x4-Quadrat (siehe Abbildung über diesem Text) auf sein Interesse an der Mathematik und auf seine weitreichenden Kenntnisse hin.

Im 16. Jahrhundert ist Europas Mathematik endlich auf dem neuen Stand der Forschung. Wir erfahren hier von sieben Männern, zwei der Namen dürften in Deutschland bekannt sein, nämlich Adam Ries(e) und Michael Stifel. Ries ist weniger als Wissenschaftler bedeutend, sondern hat als pädagogisch begabter Verfasser von Rechenbüchern in deutscher Sprache einen großen Einfluss auf die Verbreitung des Rechnens mit den arabischen Ziffern. Seine Bücher werden in insgesamt über 100 Auflagen nachgedruckt. »Waren bis dahin die einfachen Leute auf Rechenmeister angewiesen,  […] wurden jetzt viele in die Lage versetzt, solche Rechnung selbst durchzuführen«. Stifel hingegen arbeitete eher wissenschaftlich, fasste die damals bekannten Kenntnisse aus Arithmetik und Algebra in einem großen Lehrbuch in lateinischer Sprache zusammen: auch dieses wird »zu den wichtigsten Werken der Mathematikgeschichte gezählt«.

Insgesamt handelt es sich doch weniger um ein populärwissenschaftliches Buch für ein breites Publikum, eher um ein wissenschaftliches Werk. Viele Originalquellen hat der Autor recherchiert und die originalen historischen Aufgaben daraus wiedergegeben. Jedes Kapitel enthält ausführliche Quellenangaben, die eine weitergehende Beschäftigung mit der Geschichte erleichtern. Strick erhofft sich, dass »dieses Buch das Interesse erweckt, die etwas ausführlicher behandelten Bücher – insbesondere von Leonardo von Pisa, Adam Ries, Christoff Rudolf und Michael Stifel – selbst zu lesen«. Denn, so im Vorwort weiter, bei diesen »wunderbaren, leider oft in Vergessenheit geratenen Einsichten […] kommt man oft aus dem Staunen nicht heraus«.

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