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»Moral«: Jedem Zeitalter seine Werte

Hanno Sauer erklärt verständlich und spannend, wie sich unsere Wertvorstellungen seit der frühen Evolution bis heute entwickelt haben.
Büste der Gerechtigkeitsgöttin mit verbundenen Augen

Ob vor fünf oder doch nur zweieinhalb Millionen Jahren: Die Affen stiegen von den Bäumen und wurden Menschen. Natürlich nicht mit einem »Big Bang«; es war eine lange Entwicklungsgeschichte. Mit den Affenmenschen, die sich einer veränderten Umwelt gegenübersahen, soll die Moral allmählich in die Welt hineingesickert sein. Wir traktieren uns seitdem abwechselnd mit Axt und Beil oder moralischen Vorhaltungen; Kooperation, Streit und Gerangel sowie kulturelle Werte bestimmen unser Handeln.

Die Geschichte dieser Menschheitsentwicklung erzählt der Utrechter Philosoph Hanno Sauer in »Moral. Die Erfindung von Gut und Böse«. Man könnte es als philosophisches Pendant zum erfolgreichen Sachbuch »Eine kurze Geschichte der Menschheit« von Yuval Noah Harari lesen. Warum Sauer dieses nicht erwähnt, bleibt sein Geheimnis.

Sauers Rundumschlag ist weniger eine Geschichte von Gut und Böse als vielmehr ein philosophischer Beitrag zum Verständnis der Gegenwart: Um zu erklären, wie wir heute ticken, greift er auf die Entwicklungsgeschichte der Menschheit zurück. Die Jahreszahlen vor den Kapiteln sind Wegmarken und Umschlagpunkte, an denen unsere Gattung neue Eigenschaften, Strategien und Verhaltensweisen entwickelte.

Am Anfang steht die Kooperation, eine Strategie für gemeinsame Jagd und Selbstschutz kleinster Gruppen in der Savanne (vor 5 Millionen Jahren). Als Familien zu Klans werden, entstehen Strafen gegen Verbrechen; ihre Funktion ist die Selbstdomestizierung (vor 500 000 Jahren). Die Fähigkeit, von Mitmenschen zu lernen, Werkzeuge zu erfinden, begründet, was Sauer Koevolution von Kultur und Moral nennt (vor 50 000 Jahren). Mit der Entstehung größerer Städte und der Etablierung der Landwirtschaft (vor 5000 Jahren) müssen die Menschen Ungleichheit und Ungerechtigkeit hinnehmen und sie politisch managen. Vor 500 Jahren sind wir zu »Seltsamen« geworden, Individualisten, die von den Fesseln der Klans gelöst anfangen, über die ganze Welt Handel zu treiben und zu kooperieren. In der Gegenwart (vor 50 Jahren) sehen wir uns im Spiegel vor der »Banalität des Bösen und des Guten«. Für die letzten fünf Jahre durchleuchtet Sauer die Krisen der Gegenwart, Wokeness und Antiwokeness, Rassismus, Sexismus und Internetplattformen; er diskutiert ihre positiven wie negativen Aspekte. Zu guter Letzt wagt er einen kurzen Ausblick in die Zukunft.

Der Autor erklärt überzeugend menschliche Eigenschaften aus ihrer frühen Evolution bis heute, und er präsentiert dazu die wissenschaftlichen Belege. So flicht Sauer beispielsweise ins Kapitel über Verbrechen und Strafe die evolutionäre Psychologie ein und verbindet sie mit moderner Spieltheorie: Für die Gemeinschaft sei es vorteilhafter, wenn alle miteinander kooperierten und sich an Regeln hielten; der Einzelne profitiere aber mehr davon, wenn er Regeln zu seinen Gunsten verletze. Damit lässt sich ebenso das Gefangenendilemma erklären wie zeigen, warum wir die Klimakrise nicht in den Griff bekommen.

Die Moral der »Seltsamen« begründet den Erfolg des Westens und seine Dominanz in der Welt. Die »Ursprungsgeschichte des Individualismus, politischer Freiheit und Würde des Einzelnen« erzählt Sauer mit Rekurs auf »The WEIRDest People in the World« (2020) des kanadischen Psychologen Joseph Henrich. WEIRD steht für »western, educated, industrialized, rich and democratic«. Henrich zweifelte an den Ergebnissen psychologischer Tests, weil sie nur mit Studierenden westlicher Eliteuniversitäten erzielt wurden. Ethnologische Studien zeigen aber, dass Menschen in vielen anderen Ländern ganz anders ticken, und sie bilden sogar die Mehrheit in der Welt. Den Grund des westlichen Erfolgs ergründete er in der Familienpolitik der katholischen Kirche. Sie habe unter anderem aus Machterwägungen Inzest verboten, ebenso die Ehe zwischen Cousinen und Cousins sowie das Erbrecht verändert. Damit habe sie im frühen Mittelalter Klanstrukturen zerstört. Man wurde gezwungen, »familienfern« zu heiraten, die isolierte Kleinfamilie mit eigenem Haushalt entstand, Kooperation und Vertrauen weiteten sich über die engen Grenzen hinaus, über Hansen, Städtekooperationen bis hin zu transatlantischem Handel. Heute kooperieren wir wie selbstverständlich weltweit mit anderen und vertrauen ihnen, sogar ohne sie zu kennen, vertrauen ihnen häufig mehr als den nächsten Verwandten. Das wirkt auf unsere Vorstellungen von Gut und Böse.

Sauers Buch ist verständlich und spannend geschrieben, er argumentiert lehrreich und differenziert, und er bietet eine gute moralische Einschätzung aktueller Krisen. Dennoch kann man zweifeln, ob angesichts unterschiedlichster Kulturen die wenigen wirklich gemeinsamen zivilisatorischen Werte ausreichen, eine weltweite gültige Moral – etwa die Charta der Menschenrechte – wirkmächtig durchzusetzen, wie Sauer hofft. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der uns und unsere Zeit besser verstehen will.

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