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»Papyrus«: Kulturgeschichte des Lesens

In »Papyrus« geht es um mehr als nur um Bücher. Wenn man sich darauf einlässt, eröffnet es ein völlig neues Verständnis der Bedeutung des Lesens. Eine Rezension
Bücher von oben

Das Buch sei eine der schönsten Erfindungen der Menschheit, so der Klappentext von »Papyrus«, das die Geschichte dieser Erfindung erzählt. Doch im Werk der spanischen Literaturwissenschaftlerin Irene Vallejo geht es um viel mehr als nur um Bücher – und zwar um nichts weniger als um die Frage, wann der Mensch zu lesen anfing und wie ihn das veränderte. »Papyrus« erzählt deshalb nicht nur von Büchern, sondern vor allem auch von Lesern und Buchliebhabern.

Von der Antike bis zum Bosnienkrieg

Wegen der Vielzahl an angesprochenen Themen – angefangen von der Entwicklung der Schrift bis hin zur Zerstörung der Nationalbibliothek von Bosnien und Herzegowina im Bosnienkrieg (1992–1995) – ist das Werk inhaltlich schwer zu fassen. Auch der Untertitel, der nahelegt, die Weltgeschichte werde anhand einzelner Bücher nacherzählt, greift zu kurz. Zumal sich die eigentliche Handlung weitgehend auf die Antike, die Zeit der alten Griechen und Römer, beschränkt. Lässt man sich auf diesen ungewöhnlichen Ansatz ein, wird das Buch zu einer Fundgrube an Geschichten, Mythen und Fakten, die Vallejo geschickt zu einer Kulturgeschichte des Lesens verwebt.

Vereinfacht gesagt besteht »Papyrus« aus vier großen Handlungssträngen, die sich kaum voneinander trennen lassen: der Geschichte der Schrift, des Buchs sowie von Bibliotheken und von Literatur als kultureller Errungenschaft. So werden beispielsweise die Erfindung der Schrift (Keilschrift, Hieroglyphen) und ihre Weiterentwicklung in verschiedenen Hochkulturen (Griechenland, Römisches Reich) nacherzählt. Man erfährt, dass bei den alten Griechen noch ohne Zeichensetzung und Worttrennung geschrieben wurde – Lesen war damals eine anstrengende Tätigkeit, die nur lautmalerisch möglich war. Tatsächlich lasen die Griechen stets für ein Publikum. Erst als das Lesen ein privates Vergnügen wurde, veränderte sich auch die Schrift zu besserer Lesbarkeit. Parallel dazu veränderte sich das Medium »Buch« von der Tontafel über die Schriftrolle aus Papyrus und dem gebundenen Kodex aus Tierhäuten (Pergament) zu unserem gedruckten Papierbuch bis hin zum E-Book, das mit Licht funktioniert.

Ein weiterer Handlungsstrang beschäftigt sich mit der Entstehung von Bibliotheken und der Sammelleidenschaft historischer Buchliebhaber, von denen Alexander der Große wohl der berühmteste ist. Dementsprechend steht hier die legendäre Bibliothek von Alexandria im Fokus und leitet die Geschichte von »Papyrus« auch ein. Gegründet vom Feldherrn Alexander mit dem Vorsatz, jedes jemals geschriebene Buch zu enthalten, wurde die Bibliothek später unter ungeklärten Umständen zerstört. Vallejo trägt alles zusammen, was aus Quellen über diese bekannteste antike Bibliothek bekannt ist, und widmet sich auch deren weltweiten Nachfolgern.

Ein weiteres Augenmerk richtet die Autorin auf die Frage, wer wann und unter welchen Bedingungen lesen lernen durfte und wer schrieb beziehungsweise veröffentlichte. Denn mit Bildung Geld zu verdienen, war etwa bei reichen Römern verpönt – Bücher wurden nur im Kreis der Bekannten weitergegeben und bei Bedarf durch einen Sklaven oder in einer Buchhandlung kopiert, sprich abgeschrieben. Ein Urheberrecht in unserem Sinne war unbekannt. Frauen blieb Bildung in der Antike weitgehend vorenthalten, doch immer wieder traten couragierte Schriftstellerinnen in Erscheinung, von denen sich bis heute einzelne Verse erhalten haben.

Alle Handlungsstränge sind geschickt miteinander verknüpft und durchsetzt von jeder Menge Querverweisen und Vergleichen mit anderen Epochen, die das Alltagsleben der Menschen in den verschiedenen Kulturen beleuchten. Die Vielzahl der angerissenen Themen macht Wiederholungen unvermeidbar. Dafür belohnt die Lektüre des unwahrscheinlich informativen und dicht geschriebenen Buches mit unerwarteten Erkenntnissen und spannenden Details.

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