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Der Mathematische Monatskalender: Édouard Lucas (1842–1891)

Bekannt geworden ist Édouard Lucas durch sein vierbändiges Werk über Unterhaltungsmathematik.
Édouard Lucas (1842–1891)

Eine kuriosere Todesursache kann man sich kaum vorstellen: Während eines Festbanketts der Société Mathématique de France (SMF) fällt einem Kellner ein Teller auf den Boden. Ein Splitter des Tellers trifft Édouard Lucas an der Wange: Die Schnittwunde entzündet sich, und wenige Tage später stirbt der angesehene Mathematiker an den Folgen der Infektion.

François Édouard Anatole Lucas stammt aus einfachen Verhältnissen; sein Vater arbeitet in Amiens als Böttcher, das heißt als Handwerker, der Fässer aus Holz herstellt. Nach erfolgreich absolvierter Aufnahmeprüfung und dank eines Stipendiums der Gemeinde kann Édouard die École Normale Supérieure in Paris besuchen. Danach arbeitet er zunächst am Pariser Observatorium, versteht sich aber nicht gut mit dessen Leiter Urbain le Verrier.

Nach dem deutsch-französischen Krieg wird er als Mathematiklehrer tätig, zunächst in Moulins, dann an zwei der angesehensten "großen" Schulen von Paris, am Lycée Charlemagne und am Lycée Saint-Louis, dem einzigen öffentlichen Gymnasium Frankreichs, das Vorbereitungsklassen für die Grandes Écoles führen darf.

Aufsehen erregt Lucas im Jahr 1876, als er behauptet, nachgewiesen zu haben, dass die 39-stellige Mersenne-Zahl \(\ 2^{127} – 1\ \), also eine Zahl vom Typ \(\ 2^p – 1\ \) mit einer Primzahl \(p\) als Exponent, selbst eine Primzahl ist. Außerdem widerspricht er der Behauptung Mersennes, dass die Zahl \(\ 2^{67} – 1\ \) eine Primzahl ist, allerdings ohne konkret eine Faktorzerlegung der Zahl angeben zu können.

Bereits Euklid hatte sich mit Zahlen des Typs \( \ M_n = 2^n – 1\ \) beschäftigt und den Satz bewiesen:

    Wenn \(M_n\) eine Primzahl ist, dann ist \(\ 2^{n–1}\cdot (2^n– 1)\ \) eine vollkommene Zahl.

Marin Mersenne hatte behauptet, dass \(M_2 =3\), \(M_3 =7\), \(M_5 =31\), \(M_7 =127\), \(M_{13} =8191\), \(M_{17} =131\ 071\), \(M_{19} =524\ 287\), \(M_{31} \approx 2{,}1 \cdot 10^9\), \(M_{67}\approx 1{,}5 \cdot 10^{20}\), \(M_{127}\approx 1{,}7 \cdot 10^{38}\) sowie \(M_{257}\approx 2{,}3 \cdot 10^{77}\) Primzahlen sind.

In seiner Arbeit Théorie des Fonctions Numériques Simplement Périodiques beschreibt Lucas ein Testverfahren für Mersenne-Primzahlen, das im Jahr 1930 vom amerikanischen Mathematiker Derrick Henry Lehmer vereinfacht werden kann und zu Ehren der beiden als Lucas-Lehmer-Test für Mersenne-Zahlen bezeichnet wird.

Bei diesem Testverfahren wird eine Folge \(S_n\) von Zahlen betrachtet, die rekursiv definiert sind: \(S_n = (S_{n–1})^2 – 2\) mit Startwert \(S_2 = 4\). Eine Mersenne-Zahl \(M_p = 2^p– 1\) ist genau dann eine Primzahl, wenn \(M_p\) das Folgenglied \(S_p\) ohne Rest teilt.

Außerdem entwickelt Lucas 1876 einen Primzahltest für beliebige natürliche Zahlen, den er in verbesserter Form 1891 in seinem Buch über Zahlentheorie (Theorie des nombres) veröffentlicht.

Die Grundidee des Tests stammte von Pierre de Fermat, der 1640 eine Eigenschaft von Primzahlen entdeckt hatte:

    Ist \(p\) eine Primzahl und \(a\) eine zu \(p\) teilerfremde ganze Zahl, dann ist die Zahl \(a^p-a\) ohne Rest durch \(p\) teilbar (Kleiner Fermat'scher Satz; statt \(a^p-a\) kann auch \(a^{p-1}-1\) betrachtet werden).

Die Umkehrung dieses Satzes gilt im Allgemeinen nicht; es gibt aber nur wenige zusammengesetzte Zahlen (sogen. Fermat-Pseudo-Primzahlen), für die das zutrifft. Wenn für alle Zahlen \(a\) mit \(1 \lt a \lt n\) und ggT\( (a;n) = 1\) gezeigt werden kann, dass \(a^{n-1}-1\) durch \(n\) teilbar ist, dann ist \(n\) mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Primzahl. Ausnahmen sind die so genannten Carmichael-Zahlen, benannt nach dem amerikanischen Mathematiker Robert Carmichael; die kleinste Carmichael-Zahl ist \(561 = 3 \cdot 11 \cdot 17\).

Zunächst beweist Lucas 1876 den Satz: Eine natürliche Zahl \(n > 2\) ist genau dann eine Primzahl, wenn es eine natürliche Zahl \(a\) mit \(1 < a < n\) gibt, für die sowohl die Bedingung "\(a^{n-1}-1\) ist teilbar durch \(n\)" erfüllt ist als auch für alle natürlichen Zahlen \(m\) mit \(0 < m < n – 1\) die Bedingung "\(a^m – 1\) ist nicht durch \(n\) teilbar" gilt. Diese aufwendige Untersuchung aller natürlichen Zahlen \(m\) zwischen 2 und \(n – 2\) kann man auf die echten Teiler \(m\) von \(n – 1\) beschränken, wie Lucas 1891 beweist. Auch dieses Testverfahren kann Lehmer im Jahr 1951 vereinfachen.

Édouard Lucas beschäftigt sich auch mit der Verallgemeinerung der Folge der Fibonacci-Zahlen, also der rekursiv definierten Zahlenfolge \(F_0 = 0\), \(F_1 =1\), \(F_2 =F_0 +F_1=1\), \(F_3 =F_1 +F_2 =2\), ..., deren \(n\)-tes Folgenglied als Summe der beiden Vorgänger definiert ist. Er untersucht dann die (heute so genannte) Lucas-Folge mit Startwerten \(L_0 = 2\) und \(L_1 = 1\) und der übereinstimmenden Rekursionsvorschrift \(L_n = L_{n-1} + L_{n–2}\).

Es gibt eine Fülle von Beziehungen zwischen beiden Folgen, zum Beispiel \(L_n = F_{n–1} + F_{n+1}\). Und wie bei der Folge der Fibonacci-Zahlen konvergiert die Folge der Quotienten aufeinanderfolgender Glieder gegen die Goldene Zahl \(\Phi = 1,6180339...\):

\( \frac{1}{2}=0{,}5\); \( \frac{3}{1}=3\); \( \frac{4}{3}=1{,}33...\); \( \frac{7}{4}=1{,}75\);\ ( \frac{11}{7}=1{,}5714...\); \( \frac{18}{11}=1{,}6363...\); \( \frac{29}{18}=1{,}6111...\) und so weiter.

Auch für \(L_n\) existiert eine explizite Darstellung der Folgenglieder mithilfe von \(\Phi\):

\( L_n=\Phi^n+(1-\Phi)^n \) \(= \Phi^n+(-\Phi)^{-n}\) \( = \left(\frac{1+\sqrt{5}}{2}\right)^n+\left(\frac{1-\sqrt{5}}{2}\right)^n \).

In seiner Théorie des nombres findet man unter anderem auch eine kombinatorische Fragestellung, das Problème des ménages: Gefragt ist nach der Anzahl der Möglichkeiten, eine Gruppe von 3 (\(n\) ) Ehepaaren an einen Tisch zu setzen, so dass Frauen und Männer abwechselnd sitzen und niemand neben dem eigenen Partner platziert wird (Lösung: Für drei Paare gibt es \(2 \cdot 3! = 12\) Möglichkeiten, dann aber wird es kompliziert: für vier Paare gibt es 96, für fünf Paare 3120 Möglichkeiten).

Berühmt wird Édouard Lucas vor allem durch ein vierbändiges Werk, das zwischen 1882 und 1894 (posthum) erscheint: Récréations mathématiques. Das Werk enthält eine umfangreiche Sammlung von Aufgaben der Unterhaltungsmathematik, die bis auf Bachet de Méziriac zurückgeführt werden können.

Band I beginnt mit verschiedenen Problemen der Überquerung eines Flusses, darunter das klassische Problem mit einem Wolf, einer Ziege und einem Kohlkopf sowie das Problem der drei (vier, \(n\) ) Paare, bei denen die eifersüchtigen Männer darauf achten, dass die Frauen nicht mit fremden Männern allein sind. Weiter folgen das Euler'sche Brückenproblem, Wege in Labyrinthen, 8-Damen-Problem, Solitaire, Baguenaudier (Chinesische Ringe), Taquin (14-15er Puzzle). Im Band II beschäftigt er sich mit dem Damespiel, mit Domino- und Mühle-Varianten, mit einfachen Parkettierungen sowie verschiedenen Geduldsspielen und am Ende mit Hamilton'schen Wegen.

Aus dem Nachlass stellen Mitglieder der SMF die Bände III und IV zusammen. Auf eine Abhandlung über das Fingerrechnen in verschiedenen Kulturkreisen folgen einige Ausführungen zu Rechenmaschinen (unter anderem der Binär-Abakus und die Napier-Stäbe) sowie zahlreiche Varianten von Belagerungsspielen. Band IV beschäftigt sich mit Kalenderfragen, mit figurierten Zahlen und magischen Quadraten sowie mit der Färbung von Landkarten.

In Band III befindet sich die wohl berühmteste aller Aufgaben von Édouard Lucas: das Problem der Türme von Hanoi (eigentlich: Turm von Hanoi), das er unter dem Pseudonym N. Claus de Siam (ein Anagramm für Lucas d'Amiens), angeblich ein Professor am Collège von Li-Sou-Stian (ein Anagramm für Saint-Louis), bereits als Spiel herausgebracht hatte. Das Spiel handelt von einem Turm aus 64 goldenen, der Größe nach aufeinander gestapelten Scheiben, die einzeln von den Mönchen eines Brahma-Tempels in Benares so zu einem neuen Turm umgelegt werden sollen, dass immer nur kleinere Scheiben auf größeren liegen; bei der Umschichtung darf ein Hilfsturm gebildet werden. Für die Erfüllung des Auftrags würden die Mönche \(2^{64} – 1 \approx 1{,}8 \cdot 10^{19}\) Schritte benötigen.

Von Lucas stammt auch das Spiel La Pipopipette, das 1895 in der Sammlung L'arithmétique amusante veröffentlicht wird: Auf einem Brett stehen in gleichen Abständen 6 x 6 Stifte. Zwei Spieler setzen abwechselnd "Brücken" zwischen zwei (vertikal oder horizontal) benachbarten Stiften; Ziel des Spiels ist es, möglichst viele quadratische Flächen einzurahmen. (Eine Spielvariante wird im Deutschen auch als Käsekästchen bezeichnet.)

Édouard Lucas (1842–1891)

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