Direkt zum Inhalt

Storks Spezialfutter: Artenschutz – na, wer erinnert sich noch?

Unser Kolumnist reist zurück ins Jahr 2021, als die EU noch echte Öko-Ambitionen hatte. Heute darf sich die Landwirtschaft dank neuer »Vereinfachungen« die eigene Zukunft verbauen.
Blühstreifen an einem Maisacker
EIn Blühstreifen am Rand eines Maisackers soll Insekten ein Zuhause bieten. Manche Maßnahmen zur Steigerung der Artenvielfalt sind leicht umzusetzen, andere – wie die Reduktion des Pestizideinsatzes – nicht.
Der Welt steht ein Umbruch bevor – ob die Menschheit will oder nicht: Landwirtschaft, Verkehr und Energiegewinnung müssen nachhaltig und fit für den Klimawandel werden, gleichzeitig gilt es, eine wachsende Weltbevölkerung mit wachsenden Ansprüchen zu versorgen. Was bedeutet das für uns und unsere Gesellschaft? Und was für die Umwelt und die Lebewesen darin?
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.

Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Dabei ist es noch keine drei Jahre her, dass die SPD wieder einen Kanzler stellen konnte. Dass Deutschland billiges Gas aus Russland bezog und noch viel mehr davon wollte. Dass die Grünen auf knapp 15 Prozent kamen – und alle insgeheim dachten: Da wäre mehr drin gewesen.

Das war eine Zeit, da tat sich auch in Brüssel Erstaunliches, zumindest muss man es im Rückblick wohl so werten: Unter dem Vorsitz von Präsidentin Ursula von der Leyen erarbeitete die EU-Kommission einen ambitionierten Plan, wie die Union bis 2050 CO2-neutral werden könnte. Dieser »Green Deal« trat im Sommer 2021 in Kraft. In der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) wurden Auflagen eingeführt, welche die umweltschädlichen Auswirkungen der Landwirtschaft zumindest ein bisschen mindern sollten. Diese Standards für den »guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand von Flächen« (GLÖZ) wurden 2023 mit Beginn der neuen GAP-Förderperiode verbindlich eingeführt. Ein erster, wichtiger Schritt für die notwendige Transformation der Landwirtschaft.

Was haben sich die Zeiten doch geändert. Eine echte Chance, ihre Wirkung zu entfalten, haben die Standards nie bekommen. Am 24. April hat das Europaparlament mit 425 Jastimmen und 130 Neinstimmen das so genannte Vereinfachungspaket zur Lockerung von Umweltauflagen verabschiedet, mit Unterstützung der Kommission, die den Mitgliedsstaaten die Zustimmung im Agrarrat empfahl. Die finale Bestätigung durch das Ministertreffen ist nur noch Formsache.

Wir erinnern uns: Die Umweltauflagen waren der Versuch, den Spagat hinzubekommen zwischen einer intensiven Landwirtschaft und der Rücksichtnahme auf Natur und Umwelt. Zu den Standards gehörten ein Düngeverbot entlang von Wasserläufen. Der Erhalt von Dauergrünland – ökologisch wertvollen Wiesen und Weiden – wurde in den GLÖZ ebenso aufgeführt wie ein besserer Schutz vor Bodenerosion. Einer der wichtigsten Punkte: Vier Prozent der Ackerfläche sollten als Stilllegungsfläche aus der Bewirtschaftung genommen werden: als Rückzugsraum für seltene Arten, die andernfalls von der hochtourigen Landwirtschaft überrollt zu werden drohen.

Es galt das Prinzip der Konditionalität. Subventionen der EU sollten nur dann an die landwirtschaftlichen Betriebe ausgezahlt werden, wenn diese die GLÖZ-Standards einhielten.

Alles Mist, findet die EU beim Blick aus dem Fenster

Dann rollten europaweit die Traktoren, und die EU legte unverzüglich zentrale Maßnahmenpakete ihres Green Deals auf Eis, siehe die Pestizidverordnung und das Renaturierungsgesetz. Auch die »Vereinfachung«, die das EU-Parlament nun unter dem Eindruck der Bauernproteste beschlossen hat, ist in Wirklichkeit ein gewaltiger Rückschritt: Die verpflichtende Stilllegung von vier Prozent der Ackerfläche wurde komplett gestrichen. Auch die Standards zum Erosionsschutz (GLÖZ 5), zur Bodenbedeckung im Winter (GLÖZ 6) und für eine vorgeschriebene, möglichst diverse Fruchtfolge (GLÖZ 7) wurden aufgeweicht, das Umbruchverbot bei umweltsensiblem Grünland (GLÖZ 9) erheblich gelockert.

Eine gravierende Änderung ist außerdem, dass Kleinerzeuger – landwirtschaftliche Betriebe mit weniger als zehn Hektar Fläche – von jeglicher Kontrolle im Zusammenhang mit der Konditionalität ausgenommen werden. EU-weit bewirtschaften sie zwar nur rund zehn Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche, zahlenmäßig stellen sie jedoch die große Mehrheit von etwa 75 Prozent der landwirtschaftlichen Betriebe. Dank der neuen Regelung können sie künftig auf ihren Flächen ökologisch sensibles Dauergrünland oder Hecken in beliebigem Umfang zerstören, ohne Sanktionen oder ökonomische Konsequenzen befürchten zu müssen.

Eine Katastrophe, finden Fachleute

Während der Bauernverband die Entscheidung des EU-Parlaments begrüßt und weiter gehende Forderungen stellt, kommt vor allem aus der Biodiversitätsforschung harsche Kritik an dem Beschluss.

»Es ist eine Katastrophe, dass gerade jetzt die Umweltstandards in der Landwirtschaft aufgeweicht werden«, sagt zum Beispiel Christoph Scherber zu den beschlossenen Änderungen. Scherber ist Leiter des Zentrums für Biodiversitätsmonitoring am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels. »Wir hatten schon 2008 den Wegfall der verpflichtenden Stilllegung von zehn Prozent der Agrarflächen, was zu einem dramatischen Rückgang von Vögeln der Agrarlandschaft geführt hat. Die Bestandszahlen von Kiebitz, Rebhuhn und Brachvogel befinden sich seitdem im Sinkflug. Dass nun Brachflächen komplett wegfallen sollen, ist ein Todesstoß für die Biodiversität in Europa«, erklärt Scherber gegenüber dem Science Media Center.

Für Katrin Böhning-Gaese, Direktorin des Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrums in Frankfurt, ist das Vereinfachungspaket »ein großer Schritt rückwärts – mit potenziell dramatischen Folgen für die Ernährungssicherung und auf Kosten des Wohlergehens der Menschen.« Viele positive Entwicklungen unter dem Green Deal würden zurückgenommen: »Die Entscheidungen der EU können für jede Wissenschaftlerin und jeden Wissenschaftler mit Expertise in diesem Bereich nur mit Entsetzen zur Kenntnis genommen werden.«

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Zu glauben, dass ausgerechnet eine Abkehr von verbindlichen Umwelt-, Natur- und Artenschutzstandards die Lösung für die Zukunft der Landwirtschaft sein soll, ist absurd. Eine Landwirtschaft, die nur am Ertrag orientiert ist und sich ihrer ökologischen und gesellschaftlichen Verantwortung nicht stellen muss, hat keine Zukunft.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.