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Metzler Philosophen-Lexikon: Eriugena, Johannes Scotus

Geb. um 810 in Irland;

gest. nach 877 in Frankreich oder England

»Eriugena war der erste, mit dem nun eine wahrhafte Philosophie beginnt, und vornehmlich nach Ideen der Neuplatoniker« – so lautet die Anerkennung, die Hegel in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie dem Theologen und Philosophen zollt. Der Name E. stammt von Erin, dem alten Namen für Irland, das im 9. Jahrhundert auch Scotia maior hieß, daher der zweite Name Scotus. So ungewiß E.s Lebensumstände sonst auch gewesen sein mögen, gewiß ist: Er bekleidete weder ein weltliches noch ein geistliches Amt und wurde um 850 an die Palastschule Karls des Kahlen nach Paris berufen, wo er die artes liberalesˆ unterrichtete. Im Auftrag seines Herrschers übersetzte er die Werke des Pseudo-Dionysios ins Lateinische und machte dem Westen auch die griechischen Autoren Maximus Confessor und Gregor von Nyssa in Übertragungen zugänglich. Was ihn einem größeren Publikum bekannt werden ließ, waren jedoch nicht seine hervorragenden Übersetzungen, sondern eine theologische Kontroverse, nämlich der Prädestinationsstreit zwischen Hinkmar, Erzbischof von Reims, und dem Mönch Gottschalk von Orbais, den E. mit seiner Schrift De Praedestinatione zu schlichten suchte. Der dualistischen Auffassung Gottschalks, Gott habe sowohl einige Menschen zur Verdammung als auch zur Erlösung vorherbestimmt, setzte er den neuplatonischen Einheitsgedanken entgegen: Gott ist das Eine, aus dem alles strömt (Emanation); dieses Seiende ist von Natur aus gut und außerstande, entgegengesetzte Effekte zu produzieren. E. verschärfte mit dieser These jedoch die Auseinandersetzung; sein Werk wurde verworfen, ein Schicksal, das auch seiner Hauptschrift De divisione naturae (Über die Einteilung der Natur), 862 bis 866 entstanden, widerfuhr.

Seine Gedanken fanden bei den Zeitgenossen keinen Anklang; 1225 wurde, unter Papst Honorius III., der Häresieverdacht gegen ihn ausgesprochen. Über die Einteilung der Natur kann als Bemühung verstanden werden, die christliche Wahrheit mit wissenschaftlichen Methoden theoretisch zu sichern, also nicht mit den herkömmlichen Autoritätsbeweisen, sondern nach dem Prinzip der Vernünftigkeit: Wahre Religion ist deckungsgleich mit wahrer Philosophie, und beide haben ihren Ursprung in Gott. Zu Beginn des Werkes teilt E. die Natur vierfach ein: Gott als Ursprung alles Seienden, von dem die Natur in ihrer Vielheit ausströmt (Progreß); ewige Ideen, die als Urtypen schöpferisch sind; die Sinnenwelt; schließlich Gott als Ende alles Seienden, zu dem die Natur zurückkehrt (Regreß) – Anfang und Ende der Natur sind in Gott also identisch. Das Theodizeeproblem, d.h. die Frage nach der Vereinbarkeit des Bösen in der Welt mit dem ursprünglich Guten als Ergebnis der Schöpfung Gottes, löst sich bei E. gewissermaßen von selbst, da er das Schlechte dem Nicht-Sein gleichsetzt bzw. als fehlgeleiteten Willen beurteilt: Gott kennt kein Böses, sonst wäre er dessen Urheber. E. vereinigt mit dieser Schrift östliche und westliche Tradition; er bringt die Gedanken Platons, Aristoteles’ und der Neuplatoniker mit der lateinischen Philosophie eines Cicero und Boëthius in Einklang und legitimiert seine Philosophie überdies mit der christlichen Tradition. Damit sprengt er jedoch die Möglichkeiten des in der karolingischen Renaissance erwachsenden Rationalismus, und es ist kein Wunder, daß eine ihm gerecht werdende Würdigung erst eintausend Jahre nach seinem Tod erfolgte: »Dieser bewunderungswürdige Mann gewährt uns den interessanten Anblick des Kampfes zwischen selbsterkannter, selbstgeschauter Wahrheit und lokalen, durch frühe Einimpfung fixierten, allem Zweifel, wenigstens allem direkten Angriff, entwachsenen Dogmen« (Arthur Schopenhauer).

Carabine, Deirdre: John Scottus Eriugena. New York/Oxford 2000. – Ansorge, Dirk: Johannes Scottus Eriugena: Wahrheit als Prozeß. Innsbruck/Wien 1996. – Otten, Willemien: The Anthropology of Johannes Scottus Eriugena. Leiden 1994. – Beierwaltes, Werner: Eriugena. Frankfurt am Main 1994. – O’Meara, John: Eriugena. Oxford 1988. – Schrimpf, Gangolf: Das Werk des Johannes Scottus Eriugena im Rahmen des Wissenschaftsverständnisses seiner Zeit. Münster 1982.

Carola Hoepner-Peña

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