Humanismus: Streben nach Höherem
Als Gott den Propheten Jona dazu beruft, den Menschen seine Botschaft zu überbringen, besteigt dieser fluchtartig das nächste Schiff, um so weit wie möglich wegzufahren. Erst als ein heftiger Sturm Jona über Bord wirft und er drei Tage im Bauch eines Wals verbringen muss, ringt er sich dazu durch, sich in sein Schicksal zu fügen. Warum flieht Jona davor, ausersehen zu sein? Für humanistische Psychologen, die diesen Mythos aufgriffen, liegen die Dinge klar: Der Mensch habe ebenfalls eine Art Berufung – nämlich, die in ihm schlummernden Anlagen zu verwirklichen. Doch er tut das nicht immer; oft flieht er sogar vor seinem eigentlichen Potenzial wie einst der Prophet. Menschen dazu zu befähigen, dass sie ihre Hemmungen überwinden und sich bestmöglich entfalten, das ist das Programm der humanistischen Psychologie.
Der Begriff kam Anfang der 1960er Jahre in den USA auf. Eine Gruppe von Psychologen, darunter Abraham Maslow (1907–1970), Carl Rogers (1902–1987) und Virginia Satir (1916–1988) gründete 1961 die Zeitschrift »Journal of Humanistic Psychology« und im Jahr darauf die Vereinigung American Association of Humanistic Psychology.
Der Humanismus selbst (abgeleitet vom lateinischen »humanitas« = Menschheit, Menschlichkeit) ist allerdings sehr viel älter. Der Begriff stammt aus der italienischen Renaissance des 14. und 15. Jahrhunderts. Anders als heute bedeutete er damals nicht bloß, menschlich mitfühlend oder wohltätig zu sein. Ein Humanist befasste sich vielmehr mit »menschlichen Gegenständen«, die als besonders wertvoll für die Erziehung galten, etwa Grammatik, Rhetorik, Moralphilosophie und Dichtung. Inzwischen bezeichnet das Wort Humanisten all jene Gelehrten der frühen Neuzeit, die sich auf dem literarischen, philologischen oder pädagogischen Gebiet betätigten ...
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