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Ständige Anpassung: Die Evolution des Menschen hat nie aufgehört

Nicht einmal die moderne Medizin kann die natürliche Evolution außer Kraft setzen. Biologische Studien zeigen: Der Mensch verändert sich, vielleicht sogar schneller als gedacht.
Anatomisches Modell eines Menschen

Der Mensch bezeichnet sich selbst gerne einmal als »Krone der Schöpfung«, was nicht nur ein bisschen vermessen ist, sondern auch einfach falsch. Unter anderem weil es nahelegt, dass die evolutionsgeschichtliche Entwicklung des Homo sapiens in irgendeiner Form schon abgeschlossen wäre. In Wahrheit aber geht die Evolution für den Menschen immer weiter.

Oder etwa nicht? »Selbstverständlich«, sagt Frank Rühli, Professor für Evolutionäre Medizin an der Universität Zürich. »Wir entwickeln uns weiter, das ist keine Frage.«

Das legt beispielsweise eine Studie nahe, die im Oktober 2020 im »Journal of Anatomy« veröffentlicht wurde. Darin berichten australische Forscher, dass immer mehr Menschen ein zusätzliches Blutgefäß in ihrem Unterarm besitzen. Normalerweise ist die Arteria mediana nur bei Föten vorhanden und bildet sich im Lauf der Schwangerschaft zurück. Manche Menschen behalten sie allerdings. Dieser Studie zufolge hat die Häufigkeit der anatomischen Besonderheit weltweit zwischen dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert um das Dreifache zugenommen auf inzwischen rund 30 Prozent. Wenn das so weitergehe, dürften fast alle Menschen, die in 80 Jahren geboren werden, eine Medianarterie haben, spekulieren die Forscher.

Warum bei manchen die Arterie bleibt und bei anderen nicht, wissen die Forscher nicht. Vielleicht steckt dahinter eine echte genetische Veranlagung, die sich in der Weltbevölkerung immer mehr durchsetzt. Dann müsse man fragen, warum sie einem so hohen Selektionsdruck unterliege, sagt Rühli. Sprich: Haben Personen wegen ihrer dritten Arterie einen großen Vorteil?

Eine zusätzliche Arterie tritt offenbar immer häufiger auf | Auf dieser anatomischen Darstellung des 19. Jahrhunderts ist die Arteria mediana mit eingezeichnet (rechts), von uns markiert mit einem Stern. Die Arterien der Hand verlaufen tief im Innern des Gewebes, von außen sichtbar sind allein die Venen (links).

Das zusätzliche Gefäß kann die Blutversorgung der Hand sicherstellen, falls die anderen Arterien verletzt sind. Es könnte also als eine Art Notreserve dienen. Die Erfahrung zeigt aber, dass das Extragefäß unter Umständen von Nachteil ist. Denn es verläuft durch den Karpaltunnel, einen durch Knochen und Bindegewebe gebildeten, engen Kanal auf Höhe des Handgelenks. Hierdurch laufen zahlreiche Sehnen sowie der Mittelarmnerv. Kommt die Arteria mediana hinzu, wird es noch enger. Der Nerv kann leichter komprimiert werden. Das kann auch ohne das zusätzliche Blutgefäß geschehen; man spricht vom so genannten Karpaltunnelsyndrom. Anfangs spüren Betroffene meist nur ein leichtes Kribbeln in der Hand, häufig verschlimmern sich die Symptome jedoch. Taubheitsgefühle, Probleme beim Greifen und stechende Schmerzen können auftreten. Der Platzmangel im Karpaltunnel kann zudem die dort befindlichen Gefäße verengen; Thrombosen werden wahrscheinlicher.

Die Evolution strebt nicht nach Perfektion

Warum werden dann immer mehr Menschen mit einer Arteria mediana geboren? Sollten wir gemäß dem Prinzip »survival of the fittest« (das wörtlich übrigens nicht von Charles Darwin, sondern von dem Philosophen Herbert Spencer stammt) nicht gesünder und widerstandsfähiger werden? Die Vorstellung, dass Evolution nach Perfektion strebe, sei einer der größten Irrtümer, sagt Axel Meyer von der Universität Konstanz. Diesen und ein paar weitere Mythen hat der Evolutionsbiologe vor einigen Jahren für die Wochenzeitung »Die Zeit« zusammengestellt. »Die Evolution ist kein Ingenieur mit einem weißen Blatt Papier«, sagt er. Vielmehr seien wir die Produkte eines Bastlers, der verschiedenste Ersatzteile in seinem Schuppen zusammenbastelt.

Das sei auch der Grund, weshalb wir allerhand zusätzliches evolutionäres Gepäck mit uns herumtrügen: Gewebe, die scheinbar keinen Nutzen mehr haben, wie etwa die Weisheitszähne. Ob solche Merkmale wieder verschwinden, hänge in erster Linie davon ab, wie sie sich auf das Sterberisiko eines Menschen auswirken, sagt Meyer. Wie viele Menschen sterben tatsächlich an Problemen mit ihren Weisheitszähnen? Ein weiteres Beispiel sind die menschlichen Hoden. Im Vergleich zu unserer Körpergröße sind sie viel zu groß. Männer produzieren also viel mehr Samen, als eigentlich notwendig wäre. Reine Energieverschwendung? Das sei ein Hinweis darauf, dass unsere Art eher poly- als monogam ist, also mehrere Geschlechtspartner hat, sagt Meyer. »Monogamie ist eher eine westliche Neuheit, die es noch nicht sehr lange gibt.« Der männliche Körper hat sich offensichtlich noch nicht darauf eingestellt. Zu große Hoden schaden ihm aber offenbar nicht allzu sehr.

Wie man es schafft, zu überleben und sich dabei fortzupflanzen, das könne bei jeder Generation anders aussehen. Darum könne Evolution gar nicht auf ein bestimmtes Ziel hinarbeiten, sagt Meyer. »Optimalität ist ein ›moving target‹ – es ändert sich ständig.« Außerdem geschehen Veränderungen an unserem Erbgut rein zufällig. »Nützliche Mutationen ereignen sich nicht häufiger oder gar gezielt, nur weil eine neue Selektionsrichtung – beispielsweise ein verändertes Klima – sie bevorteilen würde«, sagt Meyer.

Moderne Medizin verschiebt das Gleichgewicht

Auch die moderne Medizin, mit der sich theoretisch verhindern lässt, dass Erbkrankheiten weitergegeben werden, hat die Selektion nicht ausgehebelt. Präimplantationsdiagnostik, Gentherapien oder ähnliche Methoden kämen im Moment nur in seltenen Fällen und sehr wenigen reichen Ländern zum Einsatz, sagt Meyer. »Das hat sicherlich keinen nennenswerten Einfluss auf die Evolution.« Für viel wichtiger hält er den Faktor Kultur. Wir geben unsere kulturellen Gepflogenheiten weiter – und das wirkt sich auf unseren Genpool aus.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Laktosetoleranz, die Fähigkeit, ein Leben lang den Milchzucker Laktose spalten zu können: Früher stellten nur Säuglinge das dazu nötige Enzym her. Nach der Stillzeit schaltete der Körper das Gen für das Enzym wieder ab. Als die Menschen jedoch ihre Haustiere zu melken begannen, war es plötzlich von Vorteil, auch noch im Erwachsenenalter Milch verdauen zu können. Eine Mutation, die wohl erstmals vor etwa 7500 Jahren aufgetreten ist und dafür sorgt, dass das Gen ein Leben lang angeschaltet bleibt, brachte darum ihren Trägern besondere Vorteile – so viele Vorteile, dass sie unter den Nachfahren dieser Viehzüchter immer häufiger wurde. Heute vertragen schätzungsweise 80 bis 95 Prozent der erwachsenen Europäer ein Leben lang Milch und Milchprodukte. In Ländern wie Asien und Ostafrika kann hingegen der Großteil der Menschen den Milchzucker nicht so gut verdauen. In der traditionellen Küche dieser Länder spielen Milchprodukte keine große Rolle.

Philipp Mitteröcker von der Universität Wien hält die Errungenschaften der modernen Medizin grundsätzlich für großartig. »Wir wollen der natürlichen Selektion ja so weit entkommen wie nur möglich«, sagt der Anthropologe und Evolutionsbiologe. Das bedeute aber nicht, dass die Evolution aufhöre. Es sei vielmehr so, dass sich die Balance verschiedener Selektionsdrücke verschiebe. »Das ist eine komplexe Sache«, sagt Mitteröcker. Denn oft ist eine bestimmte Eigenschaft im Hinblick auf eine Funktion gut, für eine andere hingegen schlecht. So ist es vorteilhaft, ein starkes Immunsystem zu haben, um Krankheitserreger abschmettern zu können. Eine zu starke Abwehr kann andererseits zu Autoimmunkrankheiten führen.

Die Evolution arbeitet wie ein Bastler in seinem Schuppen

Wie sehr Kultur und Evolution zusammenwirken und sogar unseren Körperbau verändern, zeigt sich an einem Beispiel, das Mitteröcker selbst intensiv erforscht hat: das menschliche Becken. Als Frau einen breiten Geburtskanal zu haben, ist hilfreich, um problemlos Kinder zur Welt zu bringen. Zumal größere Neugeborene im Allgemeinen größere Überlebenschancen haben. Anderseits haben Frauen mit einem breiten Becken häufiger mit Inkontinenz oder einem Absenken der Gebärmutter zu kämpfen. So steht dem Selektionsdruck hin zum großen Kind jener hin zum schmalen Becken entgegen. Im Lauf der Zeit hat sich ein Gleichgewicht eingestellt, eine Art evolutionärer Kompromiss: Das Becken ist breit genug für die Geburt, aber schmal genug, damit die meisten Frauen gesund bleiben.

Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich dieses Gleichgewicht jedoch verschoben. Der Grund: Kaiserschnitte wurden eingeführt. Auch Frauen mit einem zu schmalen Becken können seither problemlos ein Kind zur Welt bringen. Mit Hilfe eines mathematischen Modells hat Mitteröckers Team berechnet, dass seitdem Geburtskanal und Neugeborenes viel öfter in einem Missverhältnis stehen. Laut der Studie ist die Häufigkeit um 10 bis 20 Prozent gewachsen. Und sie wird immer weiter wachsen, denn Frauen, die aus diesem Grund per Kaiserschnitt auf die Welt kamen, sind dann ihrerseits wieder häufiger auf eine Entbindung per Kaiserschnitt angewiesen – zwei- bis dreimal so oft wie Frauen, die natürlich zur Welt kamen.

Es gibt aber nicht nur anatomische Gründe für einen Kaiserschnitt. »Es ist ein sehr komplexes Geflecht von Umweltfaktoren, biologischen und auch soziokulturellen Faktoren, das da zusammenspielt«, sagt Mitteröcker. Schließlich seien die wenigsten Frauen heutzutage in der Lage, komplett ohne Hilfe ein Kind zur Welt zu bringen. Die Geburtshilfe selbst ist also ein kultureller Faktor, der unsere Evolution beeinflusst hat.

Ein ähnliches »kulturelles« Phänomen könnte auch hinter dem Fall der zusätzlichen Arterie stecken. Vielleicht hatten Menschen, die mit der Arterie geboren werden, einen leichten Infekt im Mutterleib, der den normalen Rückbildungsvorgang unterbrach, mutmaßen die Autoren der Studie. Dass sich die einst seltene Arterie so verblüffend rasant verbreitet hat, ließe sich dann damit erklären, dass Problemschwangerschaften dank moderner Medizin viel häufiger zu einer erfolgreichen Geburt führen als früher.

Unser Körper ist auf Jagen und Sammeln eingestellt. Was wir tun: sitzen

Denkbar wäre auch, dass sich der Selektionsdruck entspannt hat, der dem Beibehalten des zusätzlichen Gefäßes entgegenwirkt. Wer tagtäglich jagen muss oder seine Felder bestellt, kann sich kein Karpaltunnelsyndrom leisten. Heute ist es hingegen nur noch unangenehm und schmerzhaft; es lässt sich aber gut behandeln und bedroht in den seltensten Fällen die Existenz.

Vom Läufer zum Sitzer?

Wenn sich evolutionäre Gleichgewichte binnen nur weniger Generationen verschieben können und die Kultur eine so wichtige Rolle spielt – wieso hat sich der menschliche Körper dann noch immer nicht an den industriellen Lebensstil angepasst? Unser Körper ist noch auf Jagen und Sammeln eingestellt, was wir dagegen vor allem tun, ist: sitzen. Um sich mit reichlich Nahrung zu versorgen, genügen ein paar Schritte zum Kühlschrank oder zum nächsten Supermarkt. Der daraus resultierende Bewegungsmangel macht uns krank. Immer mehr Menschen weltweit sind übergewichtig oder haben Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Laut der WHO zählt Diabetes mittlerweile sogar zu den zehn häufigsten Todesursachen weltweit. Wird sich das in den nächsten Jahrzehnten ändern? Können unsere Urenkel Fastfood essen und netflixen, ohne dick und krank zu werden?

Meyer hält das für unwahrscheinlich. »Wir leben ja erst seit kurzer Zeit in diesem Überfluss.« In gewisser Weise bewirke unser Lebensstil aber durchaus einen Selektionsdruck. So könnten Menschen, die auf Grund einer bestimmten Mutation trotz Übergewicht keinen Diabetes entwickeln, im Vorteil sein. Andererseits setzen viele dieser Zivilisationskrankheiten erst ein, wenn wir uns ohnehin nicht mehr fortpflanzen können; das gilt zumindest für Frauen. Deshalb sind diese Nachteile für die Evolution gewissermaßen unsichtbar. Hinzu kommt das Phänomen der antagonistischen Pleiotropie. Es bedeutet: Dieselben Gene, die im fortgeschrittenen Alter Krankheiten wie Diabetes oder Krebs hervorrufen, bescheren Menschen in jüngeren Jahren vielleicht eine höhere Fitness. Auch das könnte erklären, warum scheinbar ungünstige genetische Veranlagungen noch nicht ausgestorben sind.

»Der größte Eingriff, den der Mensch in die Evolution macht, ist die Entscheidung, mit wem er sich fortpflanzt«, sagt Meyer. Und die Partnerwahl sei alles andere als zufällig. »Große Menschen haben in der Regel große Partner. Noch enger ist die Korrelation des IQs«, sagt Meyer. In seinem Buch »Adams Apfel und Evas Erbe« befasst sich der Evolutionsbiologe unter anderem mit der Frage, ob es so etwas wie universelle Schönheitsideale gibt. »Die meisten Menschen sind überraschend unsymmetrisch«, sagt er. Erfolgreiche Fotomodelle seien hingegen viel symmetrischer. Auch Studien aus der Tierwelt sprechen dafür, dass Symmetrie ein Zeichen genetischer Qualität ist. Unreine Haut gilt Meyer zufolge hingegen in fast allen menschlichen Gesellschaften als etwas nicht Attraktives. Möglicherweise ist das aber nicht nur genetisch bedingt, sondern auch von äußeren Einflüssen abhängig, wie etwa von der Besiedlung mit Mikroben oder Parasiten, die sich im Lauf des Lebens ändern kann.

Auch Parasiten spielen eine Rolle

In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie eng unser Schicksal mit Parasiten, aber auch mit Viren und Bakterien verwoben ist. Schätzungsweise ein Drittel der europäischen Bevölkerung starb im Mittelalter an der Pest. Und ohne Malaria und Gelbfieber wäre die europäische Kolonisierung des amerikanischen Kontinents vermutlich anders verlaufen. »Möglicherweise war die Malaria die höchste evolutionäre Hürde für unsere Spezies«, schreibt der kanadische Historiker Timothy C. Winegard in seinem Buch »Die Mücke«. Weil sie schon länger mit dem Malariaparasiten Plasmodium falciparum zu kämpfen hatten, trugen Südeuropäer und Menschen aus dem afrikanischen Raum zum Teil schützende Mutationen. Die indigene Bevölkerung hingegen verfügte über keinerlei Immunität und wurde von der Tropenkrankheit, die die Einwanderer mitbrachten, regelrecht dahingerafft.

Heutzutage verbreiten sich neue Erreger schneller denn je über den Erdball und konfrontieren eine genetisch immer ähnlicher werdende Menschheit mit neuen Selektionsdrücken. Könnte sich sogar das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 auf die weitere Evolution des Menschen auswirken? »Wenn man zufällig die richtige Mutation in einem wichtigen Gen hat, macht das natürlich einen Selektionsunterschied«, sagt Meyer. Einer Studie im »New England Journal of Medicine« zufolge haben Menschen mit Blutgruppe 0 beispielsweise ein um etwa 50 Prozent geringeres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken. Die Pandemie mache deutlich, dass die Evolution weder bereits gestoppt habe noch dass wir sie je unter Kontrolle brächten, sagt Meyer. Dem stimmt Mitteröcker zu: »Eine Krone der Schöpfung gibt es nicht. Evolution passiert einfach, ob man will oder nicht. Das ist bis heute so.«

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