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Kollektiver Narzissmus: Wir, wir, wir!

Wenn ein gesundes Wir-Gefühl in Überlegenheitsfantasien kippt, kann es zu einer Bedrohung für die Demokratie werden.
Papierflieger aus Großbritannienflagge

Wer sich selbst mag, hat es leichter. Ein positives Selbstbild ist die Basis für Wohlbefinden und gute Beziehungen zu anderen. Doch manche Menschen schießen dabei über das Ziel hinaus: Ihr Ego scheint aus allen Nähten zu platzen, sie halten sich selbst für die Größten und dulden niemand Ebenbürtigen neben sich. Zwar steckt in fast jedem von uns ein wenig Selbstverliebtheit, in seiner extremen Form ist Narzissmus allerdings gekennzeichnet durch Autoritätsanspruch und Führungsdenken, einen Hang zur Selbstdarstellung, mangelndes Einfühlungsvermögen sowie manipulatives und ausbeuterisches Verhalten. Die Betroffenen dürstet es nach Bewunderung. Sie erwarten, dass andere sie bevorzugt behandeln, und verlieren schnell die Fassung, wenn das nicht passiert.

Genau wie beim Einzelnen kann jedoch auch bei Gruppen ein gesunder Selbstwert in ungesunden Narzissmus umschlagen, und das kann teils verheerende Folgen haben. Wenn aus der Ich-Sucht ein überbordendes Wir-Gefühl wird, sprechen Psychologen von »kollektivem Narzissmus«. Ist dieses Merkmal besonders stark ausgeprägt, haben die Mitglieder einer Gruppe das Gefühl, ihre Gruppe sei außergewöhnlicher als andere. Die eigene Gruppe – das können je nach Zugehörigkeitsgefühl beispielsweise Menschen einer bestimmten Nation, Gesellschaftsschicht oder sexuellen Orientierung sein – wird als einzigartig wahrgenommen und zeichnet sich durch Verdienste aller Art aus: besondere Kompetenz, militärische und ökonomische Macht, Gottesfürchtigkeit, das Bewahren demokratischer Werte oder überstandenes Leid bis hin zu – man mag es kaum glauben – überlegener Toleranz. Narzisstische Gemeinschaften baden aber nicht bloß in ihrer eigenen Herrlichkeit, sie hegen auch einen Groll gegen alle anderen, die diese Einzigartigkeit nicht erkennen. Im Unterschied zu individuellen Narzissten beziehen kollektive Narzissten ihren Selbstwert stärker aus ihrem sozialen Selbst: der Identität, die ihnen die Zugehörigkeit zur vermeintlich überlegenen Gruppe verleiht.

Studien zeigen, dass nicht jeder Mensch, der verstärkt zu Narzissmus neigt, auch ein kollektiver Narzisst sein muss. Umgekehrt scheint ein ausgeprägter Hang zum kollektiven Narzissmus allerdings oft mit einer Form von Selbstverliebtheit einherzugehen, die Forscher als »verletzlichen Narzissmus« bezeichnen: Die Betroffenen fühlen sich auch schnell bei negativem Feedback zur eigenen Person angegriffen und zeigen wenig Empathie. Zudem haben sie eine geringe Selbstkontrolle und ein niedriges Selbstwertgefühl, das in diesem Fall stark mit dem Bild von der eigenen Gruppe verwoben ist. In Verbindung mit der leichten Kränkbarkeit ergibt das zuweilen einen gefährlichen Cocktail: Unter Umständen können die Betroffenen persönliche Angriffe und Angriffe auf die eigene Gruppe nicht mehr voneinander trennen und nehmen Interaktionen mit anderen Gruppen verzerrt wahr. So werden kollektive Narzissten hypersensibel gegenüber jedem Anzeichen von Kritik an der eigenen Gruppe. Sie werten sie als Angriff und holen daher rasch zum Gegenschlag aus.

Die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre in unterschiedlichen Ländern deuten darauf hin, dass kollektiver Narzissmus in der Gesellschaft zunimmt. Dieses Szenario sei so bedrohlich, wie es klingt, meinen die Psychologin Agnieszka Golec de Zavala von der Goldsmith University of London und ihre Kollegen, die sich in einer Übersichtsarbeit eingehend mit dem Thema beschäftigten. Vor allem, wenn man an die Gräueltaten denke, die in der Vergangenheit im Namen von Nationen verübt worden seien. So seien auch die Nationalsozialisten im Dritten Reich der Meinung gewesen, ihre Einzigartigkeit würde nicht ausreichend von anderen anerkannt, und sahen sich so im Recht, gegen diese vorzugehen.

Demokratie in Gefahr

Dass Personen, die dem kollektiven Narzissmus verfallen sind, sich eher radikalisieren, faschistische Gruppen unterstützen oder feindselig auf das vermeintlich Fremde reagieren, zeigt, wie gefährlich das sozialpsychologische Phänomen für Demokratien werden kann. Die Rhetorik populistischer Parteien, die vielerorts an Zuspruch gewonnen haben, beschreibt sozusagen den Kern der Denkweisen von kollektiven Narzissten: »Wir müssen uns gegen die verteidigen.« Etablierte Gruppen sehen sich in den vergangenen Jahren mit aufstrebenden Minderheiten konfrontiert, so dass die Wut über die wahrgenommene Bedrohung sich systematisch gegen »Fremdgruppen« wie Migranten oder die LGBT-Community richtet. Innenpolitisch verschärfe die Legitimierung von kollektivem Narzissmus, so fürchten Golec de Zavala und Kollegen, Spannungen innerhalb einer Nation, da kollektive Narzissten eine sehr enge Definition davon hätten, was ein »echtes« Mitglied der Nation sei.

Der Psychologe Oliver Lauenstein, der zum Thema soziale Identität forscht, sieht den Ausdruck »kollektiver Narzissmus« jedoch auch kritisch: »Tituliert man ein Gruppenphänomen mit einem störungsbezogenen Begriff, läuft man Gefahr, vorschnell zu pathologisieren. Trotzdem trifft das Konzept einen wichtigen Punkt. Eine Gruppenidentität liefert neben Zugehörigkeit auch Handlungsmöglichkeiten. Ich kann mich als Streiter für das Gute sehen, indem ich meine vermeintlich besonders tugendhafte Gruppe gegen Bedrohungen verteidige. Donald Trump etwa baut sehr erfolgreich gleichzeitig eine Bedrohung von außen (Migranten) und von innen (die Politelite, die Presse) auf und bedient damit wie viele Populisten genau diese Bedürfnisse.«

Die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre deuten darauf hin, dass kollektiver Narzissmus in der Gesellschaft zunimmt

Dass kollektiver Narzissmus politische Entscheidungen beeinflusst, lässt sich auch empirisch belegen – etwa am Beispiel der US-Präsidentschaftswahl 2016. Christopher Federico von der University of Minnesota in Minneapolis und Agnieszka Golec de Zavala vermuteten, dass Bürger, die stark zu kollektivem Narzissmus neigten, eher Donald Trump ihre Stimme gegeben hatten. 2018 überprüften sie diese These im Rahmen einer groß angelegten Studie. Die Teilnehmer waren 1730 US-Amerikaner, die vom Center for the Study of Political Psychology der University of Minnesota befragt worden waren. In verschiedenen Fragebogen sollten sie sich zu ihrer Meinung zu Trump und zu ihrer Wahlentscheidung äußern. Zusätzlich erhoben die Forscher mit Hilfe von Statements wie »Wenn die USA das Sagen in der Welt hätten, wäre diese ein besserer Ort« oder »Es macht mich wütend, wenn andere die USA kritisieren« bei jedem Teilnehmer auch den individuellen Hang zum kollektiven Narzissmus.

Wer Trump gewählt hatte, erzielte dabei tatsächlich höhere Werte in puncto kollektiven Narzissmus als diejenigen, die sich für andere Kandidaten entschieden oder sich enthalten hatten. Außerdem stimmten Männer, Weiße, Konservative, fremdenfeindliche und ärmere Menschen ebenfalls häufiger für den Immobilienmogul. Der kollektive Narzissmus blieb allerdings unter all den genannten Einflüssen der Spitzenreiter. Der einzige Faktor, der einen noch größeren Einfluss auf die Wahlentscheidung hatte, war die Parteizugehörigkeit zu den Republikanern.

2017 hatte Golec de Zavala bereits gemeinsam mit portugiesischen Forscherinnen untersucht, ob ein Zusammenhang zwischen kollektivem Narzissmus und dem Brexit bestand. 280 britische Staatsbürger nahmen an der Onlinebefragung teil, die deren Entscheidung beim Referendum über den EU-Austritt sowie demografische Daten und persönliche Einstellungen erfasste. Dabei zeigte sich, dass unabhängig von Alter, Herkunft und Bildungsstand der Wähler drei Faktoren klar mit einem »Leave«-Vote zusammenhingen: der kollektive Narzissmus, der Autoritarismus und die soziale Dominanzorientierung einer Person. Unter den letzten beiden verstehen Psychologen eine Befürwortung autoritärer politischer Strukturen sowie den Glauben daran, dass manche Gruppen anderen überlegen sind. Laut den Autoren zeigten sich in diesen drei Faktoren voneinander unabhängige Aspekte der wahrgenommenen Bedrohung durch Migranten, gegen die man sich mit einem EU-Austritt abschotten wolle.

Hitliste der Hybris

Doch Amerikaner und Briten sind natürlich nicht die Einzigen, die ihr Land gerne an der Spitze der Weltordnung sehen wollen. Welche Nationen haben das größte Ego? Um das herauszufinden, fragten Forscher um den israelischen Kognitionswissenschaftler Franklin Zaromb Studenten aus 35 Nationen, welche Bedeutung ihr Land ihrer Meinung nach für die Weltgeschichte hatte. Dabei sollten die Probanden mit einer Prozentzahl beziffern, welcher Anteil der historischen Entwicklung allein auf ihr Heimatland zurückgeht. Dass sich die historische Bedeutung eines Landes so nicht sinnvoll ermitteln lässt, war den Forschern dabei klar. Stattdessen fertigten sie mit den Daten ein internationales Ranking der Selbstüberschätzung an.

Wer bei der US-Präsidentschaftswahl Trump gewählt hatte, erzielte höhere Werte in puncto kollektiven Narzissmus

Ganz oben auf dieser Hitliste der Hybris stand Russland: Die Russen schätzten den Einfluss ihrer Heimat auf sage und schreibe 61 Prozent. Auf Platz zwei folgte Großbritannien mit 55 Prozent; auf Platz drei Indien mit 54 Prozent. Deutschland und die USA lagen mit rund 30 Prozent im Mittelfeld. Am bescheidensten gab sich die Schweiz mit 11 Prozent. Solche Zahlen nannten die Befragten wohlgemerkt, obwohl sie wussten, dass der Einfluss aller Nationen zusammen am Ende 100 Prozent ergeben müsste. Alle Länderwerte zusammengerechnet, kamen die Forscher aber auf erstaunliche 1156 Prozent – ein Indiz für kollektiven Größenwahn.

Dieser nationale Narzissmus hängt vermutlich mit den Geschichten zusammen, die man sich im jeweiligen Land über die Vergangenheit erzählt. Die Leistungen der eigenen Vorfahren, so die Autoren, werden dabei häufig aufgebläht. Zudem käme die Geschichte des eigenen Landes einem verständlicherweise häufig als Erstes in den Sinn, wenn man sich über die Errungenschaften der Welt Gedanken mache. Das könne zu dem Irrglauben führen, die Heimat müsse besonders wichtig sein.

Dabei warnte ausgerechnet Wladimir Putin noch 2013 vor übertriebenem Nationalstolz. Er nannte ihn extrem gefährlich für die internationalen Beziehungen. Barack Obama hatte die USA zuvor in einer Rede als »außergewöhnlich« tituliert. Der Narzissmus der anderen kratzt offenbar ganz besonders am eigenen Ego.

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