Der Myers-Briggs-Test: Was taugen die Persönlichkeitstypen mit den vier Buchstaben?
In einem Arbeitszimmer in Washington D.C. sitzen Katharine Cook Briggs und Isabel Briggs Myers umgeben von Büchern und Notizen. Die Abendsonne fällt durch das Fenster, während die beiden Frauen diskutieren. Es ist 1943, und sie stehen kurz vor dem Durchbruch ihres ehrgeizigen Mutter-Tochter-Projekts: eines simplen Systems zur Erfassung der menschlichen Persönlichkeit.
Der »Myers-Briggs-Typenindikator« (MBTI), dessen Urfassung sie ein Jahr später veröffentlichen, wird bald der bekannteste Persönlichkeitstest der Welt sein. Bis heute wurde er in 29 Sprachen übersetzt; jedes Jahr lassen sich Millionen von Menschen damit testen. Sie erhoffen sich, mehr darüber zu erfahren, wer sie sind, was sie ausmacht und zu wem sie passen könnten. Der Test und seine Ergebnisse sind nicht nur auf Instagram und Tiktok Thema. Auch auf Dating-Apps geben viele Suchende neben Hobbys, Kinderwunsch und Lieblingssong ihren »Myers-Briggs-Typ« an.
Ermittelt wird dieser mit einer Reihe von Fragen, bei denen man sich immer wieder zwischen zwei Optionen entscheiden muss, zum Beispiel: »Tendieren Sie dazu, Ihre Gedanken und Gefühle A) zu zaghaft oder B) zu heftig zu äußern?« – »Würden Sie lieber mit jemandem befreundet sein, der A) viele neue Ideen hat oder B) mit beiden Beinen auf dem Boden steht?« – »Mögen Sie lieber A) Kriminalromane oder B) Liebesromane?«. Das Original ist kostenpflichtig; online finden sich aber auch einige Gratistests, die auf dem Myers-Briggs-Typenindikator basieren.
Die Bedeutung der vier Buchstaben
Am Ende steht ein Persönlichkeitstyp, der sich aus vier Buchstaben zusammensetzt. Sie stehen dafür, ob eine Person laut Myers-Briggs introvertiert (I) oder extravertiert (E) ist, die Welt intuitiv (N) oder über ihre Sinne (S) wahrnimmt, sich mehr auf ihre Gefühle (F) oder ihren Verstand (T) verlässt und ob sie lieber spontan auf Grund der aktuellen Lage entscheidet (P) oder auf Grund stabiler Überzeugungen (J). Aus den möglichen Kombinationen ergeben sich exakt 16 verschiedene Typen, zum Beispiel »INFJ«. Dieser Persönlichkeitstyp ist laut dem Typenindikator an Ideen interessiert, setzt auf Intuition, lässt sich von seinen Gefühlen leiten, vertritt aber zugleich entschieden seine Meinung.
Die Säulen der Persönlichkeit nach Myers & Briggs
Nach dem Myers-Briggs-Typenindikator besteht die Persönlichkeit aus vier Grundpfeilern, die jeweils nur zwei mögliche Ausprägungen (»Präferenzen«) haben können:
1. Motivation: extravertiert (E für Extraversion) oder introvertiert (I für Introversion)
Laut dem MBTI konzentriert sich eine Person entweder mehr auf die Außenwelt oder auf ihr Innenleben. Während Erstere, die Extravertierten, sich gerne mit Dingen und Menschen befassen, bevorzugen Introvertierte die Beschäftigung mit Gedanken und Ideen – so die Vorstellung von Myers und Briggs.
2. Aufmerksamkeit: intuitiv (N für iNtuition) oder sensorisch (S für Sensing)
Laut MBTI nehmen manche von Kindesbeinen an die Welt eher intuitiv wahr, das heißt, sie spüren gern versteckten Möglichkeiten und Zusammenhängen nach und sind bevorzugt kreativ. Sensorisch Orientierte verlassen sich stattdessen lieber auf unmittelbare Sinneseindrücke und bekannte Fakten und sind stärker im Hier und Jetzt verankert.
3. Entscheidung: denkend (T für Thinking) oder fühlend (F für Feeling)
Den Entscheidungsstil teilen Myers und Briggs in Denken und Fühlen ein. Denkende Persönlichkeiten gehen demnach die Dinge eher sachlich und objektiv an, Fühlende lassen sich eher von persönlichen Wertvorstellungen und der Rücksichtnahme auf andere leiten.
4. Lebensstil: wahrnehmend (P für Perceiving) oder urteilend (J für Judging)
Wenn es um die Haltung geht, mit der Menschen dem Leben begegnen, unterscheidet der MBTI wieder nur zwei Arten. Wer mehr zum Wahrnehmen tendiert, bleibt länger offen für neue Eindrücke, handelt eher spontan und ist flexibel. Wer zum Urteilen neigt, tut das meist schnell und bleibt dann auch bei seiner Meinung. Die zweite Gruppe führt lieber ein geregeltes und geplantes Leben.
Katharine Cook Briggs, laut Überlieferung selbst Typ INFJ, ist Hausfrau und Hobbyforscherin. Sie möchte wissen, wie sich Menschen psychologisch voneinander unterscheiden und wie man sie am besten individuell fördert. In ihrem Wohnzimmer betreibt sie Anfang des 20. Jahrhunderts eine Art Babylabor, in dem sie die Fortschritte ihrer kleinen Tochter Isabel protokolliert. Bald bringen auch die Nachbarn ihre Kinder zu ihr, um Berichte über den Entwicklungsstand und die Eigenheiten ihrer Sprösslinge zu erhalten. Auf der Suche nach einem wissenschaftlichen Persönlichkeitsmodell stößt Cook Briggs Jahre später auf die Ideen des Schweizer Psychiaters und Freud-Schülers Carl Gustav Jung (1875–1961). Jung hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, wie man Menschen anhand ihres Wesens in Gruppen einteilen könnte, und das Ergebnis 1921 in seinem Buch »Psychologische Typen« veröffentlicht.
Inspiriert davon beginnt Cook Briggs die Arbeit an einem Instrument zur Typenbestimmung. Vom Forschergeist der Mutter angesteckt, beschließt Isabel Briggs Myers – inzwischen erwachsen –, ihr dabei zu helfen. Sie ist beseelt von der Idee, mit einem einfachen Test die Stärken und Vorlieben eines jeden Menschen zu ermitteln und so die Welt zu ordnen. Anhand des Charakters sortiert, könnten alle Amerikanerinnen und Amerikaner zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ihren optimalen Platz in Industrie oder Militär einnehmen, so die Theorie. Dass ihr System funktioniert, schließen die Erfinderinnen und ihre Anhänger daraus, dass sie bei Testdurchläufen bestimmte Typen in gewissen Berufen bereits gehäuft vorfinden.
Auch neuere Versionen des Myers-Briggs-Typenindikators stützen sich auf dieses Argument. Laut Testmanual hätten sich in einer Befragung von 312 US-amerikanischen Restaurantleitern 28 Prozent als Typ »ESTJ« entpuppt. Der gilt als effizienter Organisator – analytisch, zielorientiert und entscheidungsfreudig. Als Lehrerin oder Coach eignen sich laut dem Typenindikator »ENFPs« ganz besonders. Sie seien enthusiastisch, sozial geschmeidig und könnten mit ihrer Begeisterung andere anstecken.
Der Myers-Briggs-Typenindikator wird heute weltweit auch von börsennotierten Unternehmen genutzt, um Teams zu bilden und Führungskräfte auszuwählen. Wie oft der umstrittene Persönlichkeitstest in Deutschland mit darüber entscheidet, wer einen Job bekommt, war lange unklar. Der Wirtschaftspsychologe Rüdiger Hossiep von der Ruhr-Universität Bochum und sein Team wollten das Feld 2013 genauer ausleuchten. Sie befragten 580 deutsche Unternehmen schriftlich zum Einsatz von Persönlichkeitsfragebogen. 120 der kontaktierten Unternehmen gaben Auskunft. Der MBTI war nicht nur der bekannteste, sondern mit 43 Prozent auch der am häufigsten eingesetzte Test.
Eine erneute Erhebung im Jahr 2021 – diesmal zusätzlich in Österreich und der Schweiz – deutet darauf hin, dass der Myers-Briggs-Test nach wie vor beliebt ist. Von den 26 verwendeten Verfahren rangierte er immerhin noch auf Platz 5. Allerdings hatten von den 820 kontaktierten Firmen, Banken und Versicherungen lediglich 115 überhaupt geantwortet. Gut möglich, dass gerade jene Unternehmen sich vermehrt an solchen Umfragen beteiligen, die auch tatsächlich Persönlichkeitstests nutzen. So könnten die Studien deren wahre Verbreitung etwas überschätzt haben. Fest steht: Die »Myers-Briggs Company«, welche die Nutzungslizenzen für den Myers-Briggs-Test vergibt, macht damit Schätzungen zufolge jedes Jahr Umsätze in zweistelliger Millionenhöhe.
»Teils unterscheiden sich Menschen innerhalb eines vermeintlichen Typs stärker als Menschen unterschiedlichen Typs«Marcus Roth, Professor für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen
Kein Wunder: Das Typensystem ist, anders als die Realität, einfach und übersichtlich. Nur leider funktioniert es nicht, wie man heute weiß. Was den Reiz des Myers-Briggs ausmacht, ist zugleich sein größtes Problem: Er steckt Menschen in Schubladen. Bloß 16 Charaktervarianten lässt der beliebte Test zu. Damit werden Millionen Individuen in eine einzige Kategorie gepresst. Im besten Fall ist eine Charakterdiagnose im Schubladenformat äußerst ungenau, im schlimmsten Fall blanker Unsinn.
»Typenlehren wie das Myers-Briggs-System sind veraltet«, sagt Marcus Roth, Professor für Differentielle Psychologie an der Universität Duisburg-Essen, der sich mit der historischen Entwicklung von Persönlichkeitsmodellen beschäftigt. Gemeinsam mit einem Kollegen startete er 2007 noch einmal einen Versuch, mit modernen statistischen Methoden in einer Fülle von Persönlichkeitsdaten Typen aufzuspüren. Inzwischen sieht er das Projekt als gescheitert an: »Es geht zu viel Information verloren. Teils unterscheiden sich Menschen innerhalb eines vermeintlichen Typs stärker als Menschen unterschiedlichen Typs.«
In der Wissenschaft versucht man, die Persönlichkeit eines Menschen möglichst genau zu erfassen, um daraus zum Beispiel Vorhersagen darüber zu treffen, wie sich die Person in bestimmten Situationen verhalten könnte oder ob sie anfällig für eine bestimmte psychische Erkrankung ist. Hierfür haben sich Tests bewährt, die auf dem Big-Five-Modell oder dem Hexaco-Modell basieren. Statt eines groben Typs erhält man hier ein individuelles Profil, das ein weitaus feineres Bild zeichnet. Gängige Big-Five-Fragebogen erlauben so viele verschiedene Antwortkombinationen, dass theoretisch jeder Mensch auf der Erde ein einzigartiges Ergebnis erhalten kann.
Graustufen gibt es nicht
Doch die Schubladenlogik ist nicht das einzige Problem des Myers-Briggs-Typenindikators. Ein weiterer Schwachpunkt ist sein Schwarz-Weiß-Denken. Das zeigt sich am Beispiel Extraversion, einem Persönlichkeitsmerkmal, das auch im Big-Five-Modell vorkommt. Die Verteilung dieses Merkmals in der Bevölkerung folgt in etwa einer Glockenkurve: Die meisten bewegen sich im Mittelfeld, nur wenige haben eine extreme Ausprägung und sind somit eindeutig extra- oder introvertiert, wie es der Myers-Briggs behauptet. Laut ihm ist freilich jeder Mensch entweder »E« oder »I«, Graustufen gibt es nicht.
»Menschen sind nicht immer gesellig oder völlig in sich gekehrt. Die allermeisten liegen irgendwo dazwischen«Stefan Schmukle, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Leipzig
»So ein Entweder-oder-Ergebnis ergibt einfach keinen Sinn«, sagt Stefan Schmukle, Professor für Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik an der Universität Leipzig. »Menschen sind nicht ganz oder gar nicht – immer gesellig oder völlig in sich gekehrt –, die allermeisten liegen irgendwo dazwischen.« Anerkannte Persönlichkeitsmodelle tragen dem Rechnung, indem sie jedes Charaktermerkmal als Spektrum mit fließenden Übergängen ansehen. Der Myers-Briggs aber kennt für jede Säule der Persönlichkeit bloß zwei Ausprägungen. Damit drängt er Menschen künstlich an die Ränder der Verteilung und misst ausgerechnet in der stark vertretenen Mitte schlecht.
»So kann es passieren, dass bei ein und derselben Person einmal ›ENFT‹ herauskommt und zwei Wochen später ›INFT‹. Man beantwortet nur ein paar Fragen anders und plötzlich ist man nicht mehr ›E‹, sondern ›I‹ – das genaue Gegenteil«, so Schmukle. Das mache den Myers-Briggs als Test für die Persönlichkeit unbrauchbar. Denn die umfasst ja gerade das, was uns langfristig ausmacht, und sollte sich nicht ständig verändern.
Die Ergebnisse schwanken
Dass das Vier-Buchstaben-Urteil tatsächlich nicht sehr zuverlässig ist, zeigten Untersuchungen schon früh – etwa eine, die bereits 1979 im Journal »Research in Personality Type« erschien. Wer beim ursprünglichen Myers-Briggs-Test einen moderaten Wert erreicht hatte, fiel häufig beim nächsten Versuch in die entgegengesetzte Kategorie. Ein Wechsel von »E« nach »I« oder umgekehrt geschah bei knapp einem Drittel der damals gut 100 Getesteten, deren ursprünglicher Wert im Mittelfeld gelegen hatte. Ebenso verhielt es sich mit »S« und »N«, »T« und »F« sowie »J« und »P«. Immerhin ein Viertel der Moderaten wechselte zwischen »S« und »N«. Der Anteil der Wechsler unterscheidet sich je nach Studie. Japanische Forschende kamen 1997 zu dem Ergebnis, dass sich in einem erneuten Myers-Briggs-Test im Abstand von drei Monaten bei rund zwei Dritteln von 88 Studierenden mindestens ein Buchstabe änderte.
Dass die meisten Studien zum Typenindikator mehr als 25 Jahre alt sind, hat einen einfachen Grund: In der seriösen Wissenschaft spielt er schon lange keine Rolle mehr. Persönlichkeitstests, die sich bewährt haben, zeigen ähnlich wie IQ-Tests, wo man mit seinen Antworten im Vergleich zu anderen steht – zum Beispiel, dass man unterdurchschnittlich gewissenhaft, aber überdurchschnittlich offen ist. Gute Tests sind also geeicht. Schließlich gibt es kein absolutes Maß für Persönlichkeit. Erst im Vergleich mit anderen zeigen sich unsere Eigenheiten.
Hier offenbart sich die letzte große Schwäche des Myers-Briggs-Tests. Bei seiner Auswertung wird schlicht gezählt: Hat jemand mehr Antworten gegeben, die zu Extraversion passen, als Antworten, die auf Introversion abzielen? Dann ist er extravertiert! Wie das Gros der Bevölkerung auf die gleichen Fragen reagiert, ist dabei egal. Auf dieser Grundlage attestiert eine Version des Myers-Briggs-Testmanuals 75 Prozent der US-Bevölkerung Extraversion.
»Das ist recht abenteuerlich«, meint Stefan Schmukle. »Wenn ich so vorgehe, hängt alles von der Wortwahl des Tests ab. Ich könnte ohne Probleme die Antwortmöglichkeiten so umformulieren, dass mehr Menschen zu ›E‹ tendieren, und plötzlich sind 90 Prozent extravertiert.«
INFJ, ENFP – die Vergabe dieser Charakteretiketten grenzt also letztlich an Willkür. Eines allerdings macht der Myers-Briggs so gut wie kein anderer Persönlichkeitstest. Seine Ergebnisse, anschaulich und schmeichelhaft, erzählen uns Geschichten über uns, die wir nur allzu bereit sind zu glauben. Wer sieht sich nicht gern als »inspirierenden Optimisten«, »energischen Problemlöser« oder »tiefgründigen Visionär«?
Dass die blumigen Texte scheinbar voll ins Schwarze treffen, liegt dabei an einem bekannten psychologischen Phänomen. Ähnlich wie bei Horoskopen greift hier sehr wahrscheinlich der Barnum-Effekt, unsere Neigung, allgemein gültige Aussagen als perfekt auf uns zugeschnitten zu empfinden. Auch die Astrologie, die Menschen anhand des Sternenhimmels bei deren Geburt einem Persönlichkeitstyp zuordnet, betont auf vage Art positive Charakterzüge, mit denen man sich gerne identifiziert, etwa »Wenn es hart auf hart kommt, kann man sich zu 100 Prozent auf dich verlassen«. Und schon ist man »typisch Stier« – oder eben »typisch INFJ«.
Katharine Cook Briggs und Isabel Briggs Myers haben mit ihrem Typentest einen Nerv getroffen. Aber die Persönlichkeitsforschung hat sich seit den 1940er Jahren weiterentwickelt. So ist der 80 Jahre alte Test ein Produkt seiner Zeit, die erstaunliche Erfolgsgeschichte zweier Frauen, die Anfang des 20. Jahrhunderts auf eigene Faust das menschliche Wesen ergründeten. Doch es irrt, wer heute noch am Myers-Briggs festhält und mehr davon erwartet als seichte Unterhaltung.
Was für ein Typ bin ich?
Eine ungleich bessere Alternative zum Myers-Briggs-Typenindikator: der wissenschaftlich fundierte Selbsttest der Universität Leipzig nach dem Modell der Big Five der Persönlichkeit
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