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»Curious Creatures«: An der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft

Detailreiche Beschreibungen und künstlerische Illustrationen beleuchten das Leben kurioser Tierarten – ein ungewöhnliches Zeitdokument.
Eine Spinne stößt aus ihrem aufgerichteten Hinterleib eine Seidenfaser in die Luft

Erna Pinner hat ein neues Buch geschrieben, allerdings schon 1951. Damals erschien die Erstauflage ihres Werkes bei Jonathan Cape in London, vier Jahre später dann die deutsche Übersetzung bei Paul Zsolnay. 2022 gab der Bonner Weidle Verlag die erste Neuauflage heraus. Das Buch trägt den Titel »Curious Creatures – Seltsame Geschöpfe der Tierwelt«, und eigentlich hat es Pinner nicht nur geschrieben, sondern auch illustriert. Und weil das im damaligen historischen Kontext durchaus besonders ist, gibt diese Rezension nicht nur einen Überblick über die Neuauflage ihres Werkes, sondern auch über das Leben der Erna Pinner.  

Die Frankfurterin gehört einer jüdischen Medizinerfamilie an und studiert Malerei in Berlin und Paris. 1914 kehrt sie mit Beginn des Ersten Weltkrieges nach Frankfurt zurück und verbringt im Frankfurter Zoo Zeit damit, die unterschiedlichsten Tiere in ihren Gehegen zu beobachten. Bald geht sie dazu über, sie zu zeichnen und umfangreiche Notate über ihre Verhaltensweisen anzulegen. Hier bewegt sie sich immer an der Schnittstelle zwischen Naturwissenschaft und Kunst. Es sind akademische Texte und Zeichnungen, aber immer wird in ihnen auch die Künstlerin sichtbar.

Erna Pinner probiert sich aus. 1919 tritt sie erstmals öffentlich als Illustratorin in Erscheinung, als sie einen Band mit Nachdichtungen chinesischer Lyrik illustriert. Im gleichen Jahr arbeitet sie an ihrem ersten eigenen Bilderbuch »Das Schweinebuch. Ein Schweinemärchen von der Geburt bis zur Wurst«. Sie entwirft außerdem Bühnenbilder und lebensgroße Puppen, die so genannten Pinner-Puppen. 1931 veröffentlicht sie mit »Ich reise durch die Welt« eine Sammlung von Reisefeuilletons mit eigenen Zeichnungen.

Zur Zeit des Dritten Reichs flieht sie auf Grund ihrer jüdischen Herkunft ins Exil nach London. Immer wieder ist ihr Leben immigrationsbedingt durch Verluste gekennzeichnet – familiär, künstlerisch und zwischenmenschlich. In London hört sie regelmäßig Vorträge der Zoological Society und befasst sich intensiv mit Paläontologie. Sie beginnt schließlich mit der Arbeit an »Curious Creatures«. Ihr Buch gliedert sie in einzelne Kapitel wie »Kampf um Nahrung«, »Nestbau« oder »Väterliche Brutpflege«. Detailgenau und reich an naturwissenschaftlicher Kenntnis auf damaligem Forschungsstand beschreibt sie die Eigenarten verschiedener Tierarten und konzentriert sich dabei auf die besonders kuriosen. Ihre 152 Illustrationen untermalen diese Eigenarten, stehen aber auch durchaus als Kunstwerke für sich allein. Ihr Buch lässt sich als eine Vorform des modernen Nature Writing betrachten.

Erna Pinner galt als der Typus der neuen modernen Frau – klug, eigenständig und elegant. 1987 stirbt sie in London. »Curious Creatures« ist aktuell das einzige Buch von ihr, das neu aufgelegt wurde. Andere lassen sich lediglich antiquarisch erwerben.

Welche kuriosen Kreaturen sind es nun, die Pinner porträtiert? Die Goldene Gartenspinne von Nordamerika, Miranda aurantia, ist eine von ihnen. Detailliert beschreibt Pinner, wie das Tier ein fast senkrecht hängendes geometrisches Netz spinnt und anschließend darin seine Beute fängt. Ist ihr ein Insekt ins Netz gegangen, fesselt sie es mit ihren Seidenfäden und spritzt anschließend ihr Gift in das Opfer. Sie kontrastiert diese Jagdmethode mit jener der Falltürspinne, Paihylomerus audouini, die einen flaschenähnlichen Tunnel im Boden aushebt und diesen anschließend an den Wänden mit feiner Seide glättet. Kommt ein Insekt an dem Loch vorbei, springt die Spinne heraus und ergreift es. Diese Beschreibungen haben einen dramaturgischen Spannungsbogen und entbehren trotzdem keines biologischen Faktums. Pinner beschreibt außerdem das Brutpflegeverhalten des Brasilianischen Baumfrosches, Hyla faber. Minutiös schildert sie, wie das Weibchen seine Eier an eine seichte Stelle eines Tümpels legt und mit einem Ring aus Schlamm das Gelege schützt. Diese Technik der Schlammaufschichtung schildert sie so genau, dass man den Eindruck hat, sie hätte tagelang dabei zugesehen. Auf den ersten Blick banal erscheinende Vorgänge erfahren hierdurch eine Vergrößerung und werden so zu einem Faszinosum. Das Schnabeltier, Ornithorhynchus anatinus, ist sicherlich eines der interessantesten Tiere ihres Buches, gehört es doch zu den wenigen Eier legenden Säugetieren Australiens. Die Autorin beschreibt, wie das Tier seinen Schnabel dazu nutzt, nach Nahrung im Flussbett zu suchen. In einer Nacht können dies schon mal 400 Regenwürmer, 338 Käferlarven und 38 Flusskrebse sein. Zudem erfahren die Leser, dass die männlichen Tiere Giftsporne an ihren Hinterbeinen besitzen. Sie benötigen das Gift im Kampf mit anderen Männchen während der Paarungszeit.

Hält man sich vor Augen, dass Erna Pinner eine rein künstlerische Ausbildung durchlaufen und nie Naturwissenschaften studiert hat, sind ihre Ausführungen beachtlich. Natürlich muss man Interesse an verschiedensten Tierarten und eine Faszination für biologische Details mitbringen, die natürlich dem damaligen Kenntnisstand entsprechen – dann aber ist »Curious Creatures« sehr als Lektüre zu empfehlen. Vielmehr noch sei dieses Buch den Leserinnen und Lesern als Zeitdokument einer Frau ans Herz gelegt, die ihrer Zeit weit voraus war und trotz politischer Widerstände und Kriegen immer schriftstellerisch und zeichnerisch aktiv geblieben ist. Und damit ist sie im positiven Sinne mindestens so kurios und bewundernswert wie die Tiere, die sie in ihrem Buch beschreibt.

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