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»Eine Bonnie kommt niemals allein«: Leben mit dissoziativer Identitätsstörung

Wie fühlt sich eine dissoziative Identitätsstörung an? Künstlerin und Kunsttherapeutin Bonnie Leben vermittelt dies, indem sie einige ihrer Innenpersonen zu Wort kommen lässt.
Das Gesicht einer Frau aus unterschiedlichen Perspektiven

Im Alter von 18 Jahren bekam Leben die Diagnose »dissoziative Identitätsstörung« (DIS), früher bezeichnet als »multiple Persönlichkeit«. Eines macht die Autorin ganz klar: Diese Störung hat wenig mit dem Zusammenspiel unterschiedlicher Persönlichkeitsanteile zu tun, die jeder Mensch von sich kennt. »Es gibt vielleicht einen fröhlichen Markus, einen traurigen Markus, einen kindlichen Markus, einen neugierigen Markus und einen unsicheren Markus. Das ist ein großer Unterschied zu einem DIS-System, bei dem es einen Markus in allen soeben genannten Zuständen gibt, der neben Mara, Hannelore, Dirk und Lilly existiert, die wiederum ebenfalls in jeglichen unterschiedlichen Facetten anzutreffen sind.«

Bonnie Leben vereint so viele Persönlichkeiten in sich, dass sie eine ganze Schule damit füllen könnte. Jede davon entstand zu einem Zeitpunkt, »in dem die Psyche das für überlebenswichtig hielt«. Die Personen haben Namen, ein individuelles Alter, das mehr oder weniger von jenem des Körpers abweicht, und unterschiedliche Fähigkeiten. Entscheidend ist, dass die einzelnen Personen nicht über dasselbe Wissen verfügen – ein Umstand, welcher der Autorin für lange Zeit ein nach außen hin relativ normales Leben ermöglicht hat. Die Alltagspersonen der Autorin, die oft ihr Auftreten bestimmen, können sich zumeist nicht an das schon früh erlebte schwere Trauma erinnern, das zur Ausbildung der verschiedenen Persönlichkeiten geführt hat. Erst im Laufe der Therapie verschafft sich Leben nach und nach Zugriff darauf, welche Geheimnisse einige der Innenpersonen wahren mussten, damit die junge Frau überleben konnte. So bekommt sie auch endlich eine Erklärung für die Gedächtnislücken, die bei ihr durch die Wechsel zwischen den Personen entstehen. Und sie kann auch andere seltsame Umstände besser einordnen – etwa, dass sie plötzlich nicht mehr gehen oder schlucken kann, weil gerade Innenpersonen das Kommando übernommen haben, für die das unmöglich ist.

Viel mehr als ein subjektiver Bericht

Ohne ihre eigenen traumatischen Erlebnisse in den Vordergrund zu rücken, schildert Leben eindrucksvoll, wie es sich anfühlt, Viele zu sein. Anhand eines Fragenkatalogs und mit der Bitte an ihr DIS-System, bei der Beantwortung mitzuarbeiten, hat sie einen Weg geschaffen, ihre verschiedenen Persönlichkeiten sichtbar zu machen. So können sie über ihre Gedanken und Empfindungen berichten, gemeinsam den Weg bis zur Diagnose beschreiben und von ihren Herausforderungen und Erfolgen erzählen. Leben betont immer wieder, dass sie bei der Schilderung ihrer Beobachtungen nicht für alle Menschen mit DIS sprechen kann. Gleichzeitig gelingt es der Autorin, die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse über ihre Erkrankung in den Text einfließen zu lassen, so dass ihr Buch viel mehr ist als ein subjektiver Bericht. Sie appelliert außerdem an das Fachpersonal, sich intensiver mit der Diagnose DIS auseinanderzusetzen. Sie nutzt ihr Buch, um mit Vorteilen aufzuräumen, die auch in der Fachwelt immer noch bestehen – etwa, dass man kein Glück erfahren könne, wenn man ein Trauma durchlebt habe.

Das Buch – und sicherlich auch die Öffentlichkeitsarbeit, die Leben über Social Media betreibt – leistet einen wichtigen Beitrag für ein besseres Verständnis dieser mit Stigmata behafteten Diagnose: »Vermehrte Erfahrungsberichte von Betroffenen und Behandelnden können hilfreich sein, um auf beiden Seiten ein feineres Gespür für Zeichen und Signale zu entwickeln, denen weiter nachgegangen werden sollte.« Dank der ganz besonderen Erzählform, die Leben wählt, und der Hintergrundinformationen, die sie präsentiert, lohnt sich diese Lektüre für Laien ebenso wie für Fachpersonal. Und hoffentlich sensibilisiert sie auch mehr Menschen dafür, mögliche traumatisierende Lebensrealitäten im eigenen Umfeld rascher zu erkennen – damit anderen Kindern Lebens Schicksal erspart bleibt.

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