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Multiple Persönlichkeit: Die Geschichte von Ella und ihren zwölf Ichs

Ella leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung: Sie hat zwölf Persönlichkeiten, jede mit eigenen Erinnerungen. Ihre Therapeutin erzählt, wie die verschiedenen Ichs zu einer Gemeinschaft wurden.
Das Gesicht einer Frau aus unterschiedlichen Perspektiven
Bei Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung verbergen sich hinter demselben Gesicht verschiedene Persönlichkeiten. (Symbolbild)

Als Ella zum ersten Mal in meinem Büro in die Vergangenheit reiste, war mir nicht sofort klar, was vor sich ging. Sie saß bequem auf einem Stuhl, die Hände gefaltet, den Rücken gerade und die Füße auf dem Boden. Es gab keine dramatische Änderung, kein Zittern oder Zucken. Aber dann sah ich es: eine leicht veränderte Körperhaltung, ihr Gesicht wurde fast unmerklich weicher. Und ich hörte es: Ihre Stimme klang anders, ein kleines bisschen höher als sonst und mit einem anderen Tonfall. Im ersten Augenblick fand ich das nur seltsam. Als diese Veränderungen jedoch bestehen blieben, wuchs mein Unbehagen. Ich hatte eine Vermutung und fragte, wie alt sie sei. »Ich bin sieben«, antwortet Ella. Sie war 19.

Ich arbeite als klinische Sozialarbeiterin, bin spezialisiert auf Traumata, Essstörungen, Selbstverletzungen, Persönlichkeitsstörungen sowie Fragen zu Geschlecht und Sexualität. Zudem bin ich Kulturanthropologin mit Expertise darin, wie sich psychische Gesundheit und psychische Störungen sowie der Umgang damit in verschiedenen Kulturkreisen unterscheiden. Eine Kollegin an der Uni machte sich Sorgen um eine Studentin und verwies sie an mich. Ella, die eigentlich anders heißt, und ich begannen, uns erst zweimal, dann dreimal wöchentlich zu Therapiesitzungen zu treffen. Wir arbeiteten viereinhalb Jahre lang zusammen.

Ella suchte Hilfe wegen einer komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung. In ihrer Kindheit wurde sie von einem religiösen Führer viele Jahre lang schwer missbraucht. Sie litt unter Albträumen, Flashbacks und Angstzuständen und verletzte sich auf verschiedene Arten selbst. Zudem erinnerte sie sich regelmäßig an bestimmte Zeiträume nicht mehr. Sie trat plötzlich weg und wachte zum Beispiel mit anderer Kleidung auf. Sie erlebte intensive Gedanken, Gefühle und Impulse, die sich anfühlten, als kämen sie von jemand anderem. In gewisser Weise taten sie das auch.

Jede Persönlichkeit hatte einen anderen Namen

Ella, so stellte sich heraus, litt an einer dissoziativen Identitätsstörung (DID). Bei dieser psychischen Störung hat die betroffene Person zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeiten, die regelmäßig die Kontrolle über das Verhalten übernehmen. Hinzu kommen wiederkehrende Phasen der Amnesie, also des Gedächtnisverlustes. Die Kriterien für die Diagnose von DID sind im »Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders« (DSM-5) aufgeführt, dem psychiatrischen Diagnosemanual der American Psychiatric Association. Im Volksmund ist die Erkrankung auch als gespaltene oder multiple Persönlichkeit bekannt.

Im Lauf der Zeit zeigte Ella zwölf verschiedene Persönlichkeiten – oder »Teile«, wie sie sie bezeichnete. Ihre anderen Teile waren zwischen 2 und 16 Jahre alt, und jeder hatte einen anderen Namen, seine eigenen Erinnerungen und Erfahrungen. Auch die Sprache, Handschrift und bestimmte Verhaltensweisen unterschieden sich. Einige kommunizierten mit Worten, andere schwiegen, vermittelten Botschaften durch Zeichnungen oder benutzten Stofftiere, um Szenen darzustellen. Die meiste Zeit waren sich die verschiedenen Persönlichkeiten nicht bewusst, was geschah, wenn ein anderer Teil übernommen hatte. Das führte zu viel Verwirrung.

»Alle meine Teile« | Das Bild stammt von der sieben Jahre alten Violet, einer von Ellas Persönlichkeiten. Alle »Teile« halten sich an den Händen, in der Mitte steht die Therapeutin Rebecca J. Lester. (Zum Schutz der Privatsphäre wurde der Text aus der Zeichnung entfernt.)

DID ist eine umstrittene Diagnose. Patienten mit DID-Symptomen werden von Klinikern und Laien häufig als Simulanten oder Neurotiker abgetan. Die Skepsis wurde besonders durch den Fall »Sybil« hervorgerufen, beschrieben in einem Bestseller von 1973. Später deutete jedoch vieles darauf hin, dass Sybil ihren Zustand vorgetäuscht hatte. Meine Diagnose von Ella basierte auf den DSM-5-Kriterien, Ergebnissen von verschiedenen psychologischen Tests und unserer jahrelangen Zusammenarbeit. Üblicherweise profitieren Schwindler in irgendeiner Weise davon, dass sie eine DID vortäuschen. Ella hatte hingegen nichts als Nachteile durch ihre psychische Störung. Ihre Persönlichkeiten sabotierten sich gegenseitig, ruinierten ihre Beziehungen und gefährdeten ihre Leistungen.

Wie konnte man ihr also helfen? Therapeutinnen und Therapeuten behandeln Menschen mit DID traditionell mit dem Ziel, die verschiedenen Persönlichkeiten zu »integrieren« – bedeutet: Die fragmentierten Teile sollen wieder zu einem Kern-Ich zusammenwachsen. Das ist immer noch der gängigste Ansatz und spiegelt das westliche Weltbild wider, dem zufolge ein Mensch nur eine Identität haben kann.

Diese Sichtweise ist jedoch nicht universell gültig. Menschen in vielen anderen Kulturen sehen den Körper als Träger mehrerer Identitäten. Auf Grund meiner anthropologischen Ausbildung ging ich an Ellas DID-Symptome anders heran, als viele Kliniker es tun würden. Ella sah für mich wie eine Gemeinschaft aus – zwar eine dysfunktionale, aber dennoch eine Gemeinschaft. Meine Sorge galt weniger der Anzahl ihrer Ichs als vielmehr der Frage, wie diese in ihrem täglichen Leben zusammenwirkten – oder auch nicht. War es möglich, die Persönlichkeiten in eine harmonische Koexistenz zu bringen? Ella war überzeugt, dass es klappen könnte, ich auch. Und so machten wir uns an die Arbeit.

Botschaften von jüngeren Ichs

Zu Beginn der Behandlung konzentrierten wir uns darauf, die alltäglichen Folgen des erlittenen Missbrauchs zu bewältigen. Dann, etwa ein Jahr nach Beginn der Therapie, nahmen die Dinge eine unerwartete Wendung. Eines Tages kam Ella zu mir in die Sitzung und hielt mehrere Zettel mit kindlicher Schrift in der Hand: zittrige Wörter mit verbogenen Buchstaben und Rechtschreibfehlern. Einige der Zettel waren rückwärts geschrieben. »Ich finde diese Zettel immer wieder verstreut in meinem Zimmer«, berichtete sie beunruhigt. »Ich habe auch die hier gefunden«, sagte sie und holte Zeichnungen von Strichmännchen, Tieren und Regenbögen aus ihrem Rucksack, einige davon mit Smiley-Aufklebern. Trotz des offenkundig unschuldigen Charakters der Fundstücke fand Ella diese beängstigend. Sie hatte keine Ahnung, woher sie stammten: »Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, klagte sie. »Ich muss sie doch gemacht haben, oder? Aber ich kann mich nicht daran erinnern.«

Im Verlauf unserer Sitzungen erzählte Ella von weiteren seltsamen Vorfällen. Manchmal wache sie mitten in einem Gespräch mit jemandem auf und bemerkte, dass sie sich an einem anderen Ort befand als zuletzt. Gelegentlich stellte sie fest, dass Dinge ohne ihr Wissen in ihrem Zimmer bewegt wurden. Und ich bekam E-Mails von ihr, die aus Konsonantenfolgen ohne Vokale bestanden, wie »Htsmmscrdrtnwwshwrhrblktshrndmksmflsf«.Tatsächlich ließen sich diese Botschaften mit einiger Mühe entziffern: »Hi, it's me. I'm scared right now. Wish [you?] were here. Blanket is here and makes me feel safe.« Übersetzt heißt das in etwa: »Hallo, ich bin's. Ich habe Angst. Wünschte, [du] wärst hier. Decke ist hier und gibt mir ein Gefühl der Sicherheit.« Doch Ella konnte sich nicht daran erinnern, die Nachrichten verfasst zu haben.

»Love, Pink« | Pink, der dreijährige »Teil« von Ella, schreibt rückwärts, wie es kleine Kinder manchmal tun.

Die siebenjährige Persönlichkeit namens Violet tauchte erstmals nach etwa 13 Monaten Therapie auf. Danach begann Ella, während der Sitzungen immer öfter in jüngere Teile zu dissoziieren. Einige ihrer Teile kamen im Flashback-Modus zum Vorschein, wirkten völlig verängstigt und mussten beruhigt werden. Andere waren still oder wütend. Die Siebenjährige und ich saßen auf dem Boden und malten oder bastelten, während wir uns unterhielten, mal über das, was in Ellas aktuellem Leben geschah, mal über Vorfälle, die in der Vergangenheit passiert waren. Um zwischen ihren Identitäten unterscheiden zu können, bat Ella die Kinder, mit verschiedenfarbigen Stiften zu schreiben oder zu malen. Die Siebenjährige wählte Lila.

Soweit Ella es einschätzen konnte, waren alle diese Teile Versionen von ihr in verschiedenen Altersstufen. Einige Persönlichkeiten konnten mit bestimmten Situationen und Gefühlen besser umgehen als andere. Sie kamen meistens dann zum Vorschein, wenn diese Gefühle besonders stark waren. Oder wenn eine Situation es erforderte, dass dieses Ich erschien und handelte.

Um zwischen ihren Identitäten unterscheiden zu können, bat Ella sie, mit verschiedenfarbigen Stiften zu schreiben

Zuweilen standen die Teile aber auch in Konflikt miteinander. Ein Beispiel: Ada, 16 Jahre alt, tauchte zum ersten Mal auf, als ein Highschool-Berater sie auf schlimme Art und Weise zurückwies, nachdem Ella ihm ihre Missbrauchsgeschichte erzählt hatte. Infolgedessen wurde Ada misstrauisch und argwöhnisch. Außerdem urteilte sie extrem hart, bestrafte sich selbst und wurde rasch verbal ausfällig, auch mir gegenüber. Sie betrachtete sich selbst als Beschützerin. Violet war ganz anders. Violet vertraute leicht und liebte großzügig. Sie wollte wirklich eine Verbindung zu anderen Menschen aufbauen. Diese Eigenschaften brachten Violet und Ada oft gegeneinander auf und führten hin und wieder zu einem regelrechten inneren Krieg. Ada, die Ältere und Stärkere, behielt hier meist die Oberhand. Um Violet zu bestrafen, verletzte Ada manchmal »deren Körper«, indem sie die eigenen Arme und Beine schlug und in sie hineinbiss. Oder sie drückte »ihr« ein Kissen aufs Gesicht, bis sie ohnmächtig wurde – Verhaltensweisen, die Violet als Wiederholung des Missbrauchs empfand.

Multiple Persönlichkeiten als Schutzmechanismus

Die psychische Störung DID hat ihre Wurzeln meist in der Kindheit. Psychiater glauben, dass die Entwicklung multipler Identitäten eine Art Schutzmechanismus ist. Traumatische Erinnerungen und Emotionen werden in bestimmte Identitäten auslagert, damit sie das Kind nicht völlig überwältigen. Das ist die moderne Sichtweise; aber seit Jahrhunderten wird bereits darüber spekuliert, was zu multiplen Persönlichkeiten führen könnte. Der erste zuverlässig dokumentierte Fall von dem, was wir heute als DID bezeichnen würden, war eine junge französische Nonne namens Jeanne Fery im Jahr 1584. Damals betrachtete man den Zustand als spirituelle Krankheit. Heute steht die DID als eine von mehreren dissoziativen Störungen im DSM-5. Sie ist gut dokumentiert und gar nicht so selten: In Studien wurde DID weltweit bei etwa 1 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung festgestellt.

Trotz dieser Befunde zweifeln auch heute noch manche westliche Mediziner daran, dass DID überhaupt existiert. Stattdessen führen sie die »angebliche« Störung auf Fehldiagnosen oder Erfindungen zurück und verweisen auf das Fehlen eindeutiger biomedizinischer Beweise. Zwar offenbarten Hirnscans bei Menschen mit DID abweichende Hirnstrukturen und -funktionen, gleichwohl ist nicht klar, ob diese Unterschiede die Ursache oder das Ergebnis der Dissoziation sind. Kein Bluttest oder Röntgenbild vermag DID zu identifizieren, und keines der üblichen biomedizinischen Beweisverfahren lässt sich anwenden. Allerdings gibt es auch keinen biologischen Test für Schizophrenie, und doch zweifelt kaum jemand an der Existenz dieser Krankheit oder an der Echtheit der Halluzinationen. Die Annahme des »einen Ichs in einem Körper« wird jedoch durch Schizophrenie nicht in Frage gestellt, wohl aber durch DID.

Die innere Welt jedes Menschen ist eine einzigartige Kultur mit eigener Geschichte

Obwohl sich DID unterschiedlich darstellt, sind die augenscheinlichen Ähnlichkeiten zwischen den Betroffenen bemerkenswert. Wie andere dissoziative Störungen wird die DID vor allem bei jungen erwachsenen Frauen diagnostiziert. Viele von ihnen wurden im Kindesalter schwer missbraucht, vor allem sexuell. Diese Gemeinsamkeit könnte etwas über die Ursprünge der DID verraten. Es könnte aber auch die Neigung von Medizinern widerspiegeln, bestimmte psychiatrische Störungen eher jüngeren Frauen zuzuschreiben. Studien haben gezeigt, dass psychiatrische Diagnosen je nach Geschlecht und Herkunft unterschiedlich oft vergeben werden, selbst wenn es sich um dieselben Symptome handelt. Es ist daher möglich, dass ein Arzt eine DID diagnostiziert, nur weil die Patientin dem erwarteten Profil entspricht.

Klar ist: Die eindeutige Diagnose von DID ist schwierig und erfordert Zeit und Fachwissen. Die behandelnde Person muss die Symptome sorgfältig prüfen und andere mögliche Erklärungen wie eine absichtliche Täuschung ausschließen. Bleiben die Besonderheiten der verschiedenen Persönlichkeiten über mehrere Sitzungen hinweg bestehen? Welche Art von Affekt ist mit dem Auftreten der verschiedenen Persönlichkeiten verbunden? Welche Rolle spielt die Diagnose im Alltag und für das Selbstverständnis der Betroffenen? Der Therapeut oder die Therapeutin sollte nach Ungereimtheiten in der Darstellung suchen und sich fragen, ob der Klient einen Nutzen aus dem Auftreten der DID zieht. Sybils Arzt hat zum Beispiel ihre Wohnungsmiete bezahlt.

Zugegeben: Bevor ich mit Ella arbeitete, hatte ich keine Erfahrung mit DID. Ich kannte aber die Geschichte der Diagnose und die Kritik, die an ihr geübt wurde. Ich hatte von fiktiven Störungen gehört, bei denen ein Patient Symptome erfindet oder absichtlich herbeiführt. Ich wusste um mögliches Simulieren, um Traumata, Selbstverletzungen, Essstörungen und Dissoziationen. Ich war mir bewusst, dass große Sorgfalt notwendig ist, um jeden Klienten genau zu beurteilen und zu diagnostizieren, besonders wenn die Symptome komplex oder unklar sind. Aus diesen Gründen zog ich über Ellas Zustand keine voreiligen Schlüsse. Ich nahm mir Zeit – viele Monate –, um gründlich zu bewerten, was ich in den Sitzungen erzählt bekam und über Körpersprache, Augenkontakt, Körperhaltung und Stimmlage wahrnahm. Zusätzlich zu unseren dreimal wöchentlich stattfindenden 50-minütigen Sitzungen korrespondierte Ella auch regelmäßig per E-Mail mit mir. Nachrichten der verschiedenen Teile kamen fast täglich bei mir an. Mir fehlte es also nicht an Informationen, um Ellas Zustand zu beurteilen. Ich machte ausführliche Notizen über unsere Sitzungen und achtete besonders auf Ungereimtheiten oder andere Anzeichen dafür, dass Ellas verschiedene Persönlichkeiten erfunden waren.

Mit der Zeit war ich überzeugt davon, dass Ellas Anteile tatsächlich »real« waren – und zwar in dem Sinn, dass sie Aspekte von sich selbst als separate Persönlichkeiten erlebte. Ich glaube nicht, dass sie ihre Symptome vortäuschte oder mir etwas vorspielte. Natürlich kann ich das nicht endgültig ausschließen, aber während unserer jahrelangen Zusammenarbeit sah ich dafür absolut keine Anzeichen. Ella fand auch keinerlei Spaß daran, unterschiedliche Persönlichkeiten zu haben. Im Gegenteil, es erschwerte ihr Leben außerordentlich, vor allem zu Beginn der Therapie. Oft äußerte sie sich mir gegenüber sehr frustriert über ihre Situation.

Nun galt es herauszufinden, wie man dieser verzweifelten und traumatisierten Frau helfen konnte. Hier kam neben meiner Arbeit als Therapeutin auch meine anthropologische Ausbildung zum Tragen. Im Westen stellen wir uns heutzutage das Selbst im Allgemeinen als ein begrenztes, mehr oder weniger integrierendes Zentrum des emotionalen Bewusstseins, des Urteilsvermögens und des Handelns vor, das sich von dem Selbst anderer Personen und von der Umwelt unterscheidet. Dieses Selbst ist einzigartig, persönlich, intim und privat. Es ist für niemanden außer für die eigene Person direkt zugänglich. Das Selbst ist der Kern, das Zentrum der Erfahrung, der grundlegende Aspekt, der einen Menschen zu dem macht, was er ist.

Dieses Konzept des Selbst ist für die westliche Kultur so grundlegend, dass es naturgegeben wirkt. Es scheint so selbstverständlich, dass es als Grundlage für unser Verständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit dient. Fast jede im DSM-5 gelistete Störung beschreibt eine Abweichung von der idealisierten Vorstellung davon, was ein Selbst ist und macht. Störungen des Selbst kennzeichnen unter anderem Zustände wie Psychosen, Depersonalisation, Borderline-Persönlichkeitsstörung, Koabhängigkeit, Essstörungen und Dissoziation. Unser kulturelles Verständnis des Selbst bestimmt also weitgehend, wie wir psychische Krankheit und Gesundheit definieren.

Mehrere Seelen im gleichen Körper

Dieses Verständnis ist jedoch bei Weitem nicht universell. Anthropologen dokumentieren seit Langem sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Selbst in verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt. Tatsächlich ist der Glaube, dass mehrere Wesen gleichzeitig in einem Körper wohnen können, sogar weit verbreitet. In Teilen Zentralafrikas wird beispielsweise behauptet, dass ein Kind bei der Geburt eine Reihe verschiedener Seelen erhält: eine aus der Ahnenreihe der Mutter, eine aus der des Vaters und weitere von anderswoher. Das Volk der Jívaro in Ecuador geht von der Existenz dreier Seelen aus. Die Dahomey in Westafrika dachten traditionell, dass Frauen drei und Männer vier Seelen haben. Die Fang, die in Kamerun, Äquatorialguinea und Gabun leben, glauben an sieben Seelen, die jeweils verschiedene Aspekte der Person steuern. Einige indigene Gemeinschaften Nordamerikas vertreten die Ansicht, dass manche Menschen »zweigeteilt« sind und einen weiblichen und einen männlichen Geist haben.

Laut Interpretationen jüdischer religiöser Texte können sogar bis zu vier Seelen in einem Körper reinkarnieren. Kulturen auf der ganzen Welt kennen auch das Besessensein durch Geister, bei der eine Person als Wirt für ein übernatürliches Wesen dient. Solche Ansichten sind nicht nur auf ferne Länder beschränkt. Der Anthropologe Thomas J. Csordas beschrieb, wie einige amerikanische evangelikale Christen von der Anwesenheit mehrerer Dämonen und Geister in ihrem Körper ausgehen.

Abgesehen von solchen dramatischen Berichten ist die Existenz mehrerer Teile, Wesenheiten, Seelen – wie auch immer wir sie nennen – alltäglicher, als man gemeinhin denkt. Der Neurowissenschaftler David Eagleman hat beschrieben, wie das komplexe System des Gehirns als eine Ansammlung einzelner »Seelen« funktioniert, die zusammen die Illusion eines einheitlichen Bewusstseins erzeugen. Die Therapie nach dem Internal Family Systems Model geht davon aus, dass der Geist von Natur aus vielschichtig ist und dass das, was wir als »Selbst« erleben, in Wirklichkeit ein internes System von Subjekten ist, die sich als Reaktion auf innere und äußere Hinweise verändern und die in der Psychotherapie angesprochen und verändert werden können.

Mit anderen Worten: Wir alle haben Teile. Wir sprechen sogar regelmäßig über sie, ohne das seltsam zu finden. Während ich diesen Artikel schreibe, ist ein Teil von mir aufgeregt; er will mitteilen, was ich gelernt habe. Ein anderer Teil ist überwältigt von den ganzen Aufgaben und denkt an all die Dinge, die nicht erledigt werden, während ich schreibe. Ein weiterer Teil wiederum ist nervös, wie meine Ideen – und Ella – ankommen werden. Und wieder ein anderer Teil von mir freut sich über die Aufgabe.

Dass all diese verschiedenen Teile von mir gleichzeitig aktiv sind, ist wahrscheinlich kein Grund zur Beunruhigung: Wir alle kennen das. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Ella meiner Meinung nach nicht so sehr von anderen Menschen – außer dass sie Barrieren zwischen ihren Teilen hat, die das Gefühl eines kontinuierlichen Bewusstseins stören, das die meisten von uns für selbstverständlich halten.

Die innere Welt anthropologisch erkunden

Ella war zweifellos eine junge Frau mit Problemen, aber aus meiner anthropologischen Perspektive betrachtete ich sie als eine »Gemeinschaft von Ichs« innerhalb eines Individuums. Anthropologen verfügen über eine Reihe von Werkzeugen und Methoden, um sich auf Gemeinschaften einzulassen und sie zu verstehen: Wir gehen zu ihnen, wir hören den Menschen zu, die in ihnen leben, wir beobachten, wie sie leben und interagieren, und wir lernen.

Ellas innere Welt war jedoch anders als jede andere Gemeinschaft, die ich bis dahin kennen gelernt hatte. Die meisten Gemeinschaften bestehen aus mehreren Körpern, die sich denselben zeitlichen Ort teilen. In Ellas Fall bestand die Gemeinschaft aus einem Körper und mehreren zeitlichen Orten. Einige Teile existierten nur in der Vergangenheit und durchlebten ihre ursprünglichen Traumata ständig neu. Andere lebten fast ausschließlich in der Gegenwart, wussten zwar, wann sie »erschaffen« wurden, gingen dann aber für einige Jahre offline, bevor sie wieder auftauchten. Dann hatten sie nur wenige Erinnerungen an das, was in der Zeit dazwischen passiert war.

Die Persönlichkeit Violet war in dieser Hinsicht etwas Besonderes. Sie war entstanden, als der Körper sieben Jahre alt war. Sie hatte Erinnerungen an den ursprünglichen Missbrauch, doch im Gegensatz zu den anderen Teilen war sie in Ellas Leben zwischen damals und heute immer weitgehend im Hintergrund geblieben. Dennoch wusste sie, was in den dazwischenliegenden Jahren geschehen war. Mit ihrer einzigartigen Perspektive auf Ellas innere Welt über die Zeit hinweg wurde Violet zu meiner »Hauptinformantin« im anthropologischen Sinne, als ich Ellas Teile-Gemeinschaft erforschte.

Der Psychiater Irvin D. Yalom hat einmal gesagt, dass man für jeden Klienten eine neue Therapie entwerfen muss, weil das innere Bedeutungssystem jedes Menschen anders ist und daher jeder eine andere Art hat, grundlegende existenzielle Situationen zu erleben. In Anlehnung an Yaloms Konzept könnte man sagen, dass die innere Welt eines jeden Menschen eine einzigartige Kultur mit eigener Geschichte, Sprache, Werten, Praktiken und symbolischen Systemen ist. Geht man mit dieser Sichtweise an die Therapie heran, lässt sich die innere Welt des Klienten anthropologisch erkunden. Dieses Vorgehen erfordert Vertrauen, Zeit und Geduld. Wie ein Anthropologe muss der Therapeut lernen, die Sprache des Klienten zu sprechen und dessen symbolische Systeme, rituelle Praktiken und vorherrschende Themen zu verstehen. Vor allem müssen sich Therapeuten daran erinnern, dass sie Gäste sind und dass sie – wie viel Ausbildung und Wissen sie auch haben mögen – niemals wirklich wissen können, wie es ist, mit dieser besonderen inneren Realität zu leben. Die Klientin ist die wahre Expertin für ihre eigenen Erfahrungen. Diesen Ansatz verfolgte ich bei meiner Arbeit mit Ella.

Während meiner »Feldforschung« mit Ellas innerer Gemeinschaft wurde meine frühere anthropologische Forschung in einem ganz anderen Kontext relevant. In meinem Buch über junge Frauen, die in ein römisch-katholisches Kloster in Mexiko eintraten, vertrete ich die Ansicht, dass sie eine neue Zeiterfahrung entwickelten: Sie lernten, ihr Selbst gleichzeitig in verschiedenen zeitlichen Dimensionen wahrzunehmen: einer, die auf der alltäglichen Welt fußt, und einer, die auf der ewigen Zeit Gottes und der Schöpfung basiert.

Ich sah in Ella etwas Ähnliches, nämlich dass verschiedene Teile zu verschiedenen Zeiten, aber auch in der Gegenwart existierten. Dieses Merkmal bildete das, was Ella und ich einen Teleskopierungsprozess nannten: Teile bewegten sich rückwärts in der Zeit und erzeugten so einen Widerspruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, bevor dieser dann wieder aufgelöst wurde. Obwohl einige Teile das Alter behielten, in dem sie entstanden waren, konnten Teile jeden Alters auch jederzeit neu geschaffen werden.

Einmal tauchte zum Beispiel ein neuer Teil auf, der etwa zwei Jahre alt war und sich nur durch Weinen und die Forderung nach einem Eis im Supermarkt verständigte. Die Identitäten reisten also nicht nur in der Zeit, sondern konnten diese Zeitverschiebung auch zur Kommunikation nutzen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich erkannt hätte, welche Rolle die Zeitverschiebung in Ellas fortlaufendem Heilungsprozess spielte, wenn ich nicht im Kloster gearbeitet oder von der anthropologischen Forschung über die verschiedenen Arten der Zeitauffassung gewusst hätte.

Aus zwölf Teilen ein Team formen

Ella wollte keine Integration, und ich habe sie nicht dazu gedrängt. Ellas Problem waren aber die Bewusstseinsbarrieren zwischen ihren Anteilen, die ihr den Alltag erschwerten. Es kam zu Krisen, wenn diese verschiedenen Teile unterschiedliche Überzeugungen, Motivationen und Ziele hatten. Zum Beispiel bestand eine der jüngeren Persönlichkeiten darauf, eine Plüschkuh in Ellas Rucksack mitzunehmen, und Ada und Violet mussten sie während der Vorlesungen davon abhalten, das Plüschtier herauszuziehen und mit ihm zu spielen. Ein anderes Mal arbeitete Ella an einer Seminararbeit. Dann trat Ada hervor und löschte die Datei, weil sie etwas dagegen hatte, dass sich Ella mit der Evolution befasste. Ella war verzweifelt und musste von vorne anfangen. Mein Ziel mit Ellas Teilen war also nicht die Integration in ein einziges Selbst, sondern der Aufbau einer Gemeinschaft.

Wir begannen Strategien zu erarbeiten, um die Kommunikation zwischen Ellas Teilen zu verbessern. Dazu zählte beispielsweise das Führen eines Notizbuchs, in dem jede Persönlichkeit Dinge notieren konnte, die sie während ihrer Abwesenheit getan hatte. Auf diese Weise wussten die anderen, was sie zu erwarten hatten, wenn dieser Teil dann das Kommando übernahm. Im Lauf der Zeit schrieben sich die Persönlichkeiten gegenseitig E-Mails (mit Kopie an mich). Ella und ihre anderen Teile hielten schließlich »Teambesprechungen« ab, bei denen sie in einem von ihr geschaffenen Raum zusammenkamen, einem Wohnzimmer mit bunten Sofas und Kissen und Spielzeug für die Jüngeren.

Ellas Teile lernten allmählich, als ein Team von Spezialisten zusammenzuarbeiten

Dennoch wurde nicht alles zwischen den einzelnen Persönlichkeiten geteilt: Es gab weiterhin starke Grenzen zwischen den Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen der verschiedenen Teile, und die Dinge liefen nicht immer reibungslos. Doch Ellas Teile lernten allmählich, als ein Team von Spezialisten zusammenzuarbeiten. Einer war gut darin, Tests zu schreiben, einer fühlte sich wohl, wenn er mit Autoritätspersonen sprach, einer konnte gut mit emotionalen Bindungen umgehen, und einer fühlte sich ständig verletzt, fing aber schließlich an, leise im Hintergrund zu weinen, anstatt die Kontrolle zu übernehmen und es für Ella unmöglich zu machen, zu funktionieren. Sogar Violet und Ada begannen, sich zu verbünden und dauerhafte Bindungen in der Gegenwart aufzubauen.

Als der College-Abschluss und das Ende unserer Therapie näher rückten, war Ella nach den üblichen Behandlungsrichtlinien immer noch nicht »geheilt«. Sie funktionierte jedoch gut in der Alltagswelt, obwohl verschiedene Persönlichkeiten (Violet, Ada und ein paar andere) weiterhin präsent waren. Sie zeigten auch keine Anzeichen dafür, dass sie sich auflösen würden. Ella und ihre Teile bestanden weiterhin darauf, dass eine Integration oder Fusion nicht in Frage kam. Welchen Sinn hatte unsere gemeinsame Arbeit also gehabt? War sie nun erfolgreich oder nicht? Eine eindeutige Antwort gibt es nicht.

Einerseits ging es für Ella allmählich vorwärts. Sie schloss das College mit Auszeichnung ab und erwarb einen Abschluss an einer der besten Universitäten des Landes. Anschließend absolvierte sie ein weiterführendes Studium, wo sie sich auf die Arbeit mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen spezialisierte. Sie war dabei sehr erfolgreich und erzählte mir, dass ihre jüngeren Teile im Hintergrund ihr sehr geholfen hätten, sich in Kinder einzufühlen, die andere als frustrierend oder unausstehlich empfanden. Ein paar Jahre später lernte Ella einen wunderbaren Partner kennen und lieben, mit dem sie ihre gesamte Geschichte teilte. Sie heirateten schließlich und bekamen ihr erstes Kind.

Andererseits ist ihr Leben nicht perfekt, wie mir Ella vor Kurzem erzählte. Die Erinnerungen an den Missbrauch sind immer noch sehr präsent. Außerdem kämpft sie weiterhin mit verschiedenen Nachwirkungen ihres Traumas. So plagen sie nach wie vor Albträume, wenn auch nicht jede Nacht. Und sie spürt heute noch die Anwesenheit von Violet, Ada und einigen der anderen, auch wenn sie nur noch selten in Erscheinung treten.

Ich würde denken, dass die Therapie ein Erfolg war, obwohl Ella zumindest teilweise noch symptomatisch ist. Doch ich möchte betonen, dass dieser Therapieansatz nicht unbedingt in allen Fällen von DID funktioniert. Die Betroffenen können sehr unterschiedliche Bedürfnisse haben. In Ellas Fall halfen mir anthropologische Erkenntnisse, um ihre innere Welt zu verstehen und mit ihr zusammenzuarbeiten. Meine Erfahrung ermöglichte mir die Vorstellung eines gesunden Selbst, das nicht in ein Standardmodell passt.

Ella gehört zu denjenigen Klientinnen, die mir noch lange nach Ende der Therapie im Gedächtnis bleiben. Ich denke weiter darüber nach, was ich gelernt habe. Was auch immer man über DID glaubt, Ellas Geschichte lehrt uns viel darüber, wie man trotz aller Widrigkeiten seinen Weg als Mensch finden kann. Ella hat mich ermutigt, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hofft, dass sie dadurch anderen helfen kann, DID besser zu verstehen und neue Wege aus einer schwierigen Situation zu finden.

Eine frühere Beschreibung von Ellas Fall veröffentlichte die Autorin unter dem Titel »Inner Worlds as Social Systems: How Insights from Anthropology Can Inform Clinical Practice« in der Fachzeitschrift »SSM-Mental Health« im Dezember 2022.

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