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»Was ist ein lebenswertes Leben?«: Ein Plädoyer für die Würde des Menschen

Barbara Schmitz beschreibt, was wir von Menschen mit Behinderung, Krankheit und Demenz lernen können. Die Philosophin stellt vor allem Theorien vor, die ihren eigenen Standpunkt stützen.
Junge Frau auf einer Sommerwiese breitet die Arme weit aus und genießt die Sonne

Carlotta wandert gern, liebt die Natur, ihre Mutter und ihren Hund. Sie arbeitet in einer Bäckerei, was anstrengend, aber erfüllend ist. Vor 22 Jahren kam Carlotta mit einer geistigen Behinderung zur Welt. Sie ist die Tochter der Autorin Barbara Schmitz, habilitierte Philosophin und Lehrbeauftragte an der Universität Basel.

Carlottas Schicksal motivierte Barbara Schmitz dazu, sich mit der Frage nach dem lebenswerten Leben auseinanderzusetzen. Die Autorin beschreibt – gut verständlich für Menschen ohne philosophische Vorbildung – die wichtigsten philosophischen Zugänge zur Frage nach dem lebenswerten Leben. Allerdings ist sie überzeugt davon, dass ein objektiver Zugang keine Antwort liefern kann. Deshalb stellt sie ins Zentrum ihres Essays die Erfahrungen von Menschen, die selbst von Behinderung, Krankheit, Alter oder Demenz betroffen sind oder als Angehörige damit zu tun haben.

Ein Phänomen, das die Vorgehensweise der Autorin stützt, ist das so genannte Behinderungsparadox. Schmitz schildert den Fall von Tim Steiner, einem an Muskeldystrophie leidenden Tetraplegiker, der auf umfassende Hilfe angewiesen ist. Immer wieder besuchen Personen die Einrichtung, in der er lebt, und äußern gegenüber der Institutionsleitung die Meinung, dass das Leben mit einer solchen Behinderung nicht mehr lebenswert sei. Darauf angesprochen, lehnt der Betroffene diese Sicht lächelnd ab: Sein Leben sei durchaus lebenswert.

Glücklicher als vermutet

Die Anekdote deckt sich mit der empirischen Forschung. Es ist nachgewiesen, dass Behinderte oft glücklicher sind, als Außenstehende vermuten. Der Grund für die Diskrepanz: Betroffene bewerten ihr Leben meist neu und finden Erfüllung in anderen, oft einfacheren Dingen. Die Kombination aus persönlichen Erfahrungen und empirischer Forschung ermöglicht es dem Leser, seine Einstellung zu hinterfragen. Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Würde des Menschen, auch wenn dieser gesundheitlich eingeschränkt ist.

Es ist nicht ganz eindeutig, welche Leserschaft Barbara Schmitz anspricht. Auf Grund der Methodik (Subjektivität) handelt es sich nicht um ein reines Fachbuch. Der erklärende Stil der Verfasserin deutet darauf hin, dass sich das Buch an Menschen richtet, die an Ethik interessiert sind, aber kein akademisches Vorwissen mitbringen.

Doch gerade interessierte Laien, die nicht mit allen philosophischen Theorien vertraut sind, könnten unwissentlich beeinflusst werden: Barbara Schmitz stellt vor allem Theorien vor, die ihren eigenen Standpunkt stützen. Beispielsweise blendet sie den Antinatalismus aus, den etwa David Benatar (* 1966) vertritt und der dem Leben einen inhärenten, intrinsischen Wert abspricht.

Auch – zugegebenermaßen seltene – Fälle im Zusammenhang mit dem Thema Suizid bespricht Schmitz nicht. So ist das begleitete Sterben in der Schweiz, dem Heimatland der Autorin, rechtlich anerkannt und wird institutionell umgesetzt (etwa bei EXIT). Hierbei werden Menschen über einen sehr langen Zeitraum psychologisch und wenn gewünscht spirituell begleitet. Ihrem Wunsch nach Beendigung des Lebens wird erst entsprochen, wenn sichergestellt ist, dass ihnen ihre Entscheidung in jeglicher Hinsicht klar ist. Der Autorin fällt es schwer zu rechtfertigen, warum diese Menschen (im Gegensatz zu Menschen mit Behinderung) den Wert ihres Lebens nicht erkennen können und den Freitod wählen dürfen.

Trotz solcher Kritikpunkte ist das Buch jedem zu empfehlen, der seine Ansichten zur Frage nach dem lebenswerten Leben hinterfragen und die Geschichten von Menschen kennen lernen möchte, die entgegen aller Wahrscheinlichkeit einen Weg gefunden haben, glücklich zu sein.

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