Metzler Lexikon Philosophie: Empirismus
(griech. empeiria, lat. experientia), bezeichnet die erkenntnistheoretische Lehre, derzufolge alles Wissen seinen Ursprung allein in der Erfahrung hat, d.h. nicht im Verstand oder der Vernunft, wie der Rationalismus es annehmen würde. In diesem Sinne kann man die Aussage, nihil est in intellectu quid non fuerit in sensu (nichts ist im Verstand, das nicht vorher durch die Sinne erfasst worden wäre), als Grundlage des E. bezeichnen. Kant charakterisiert den E. als die Lehre, die auch die von Kant selbst als nichtempirisch betrachteten Vernunftbegriffe aus der Erfahrung abzuleiten versucht (vgl. KrV B 882). Der E. verband sich in der Geschichte v.a. mit anti-metaphysischen, nominalistischen (Nominalismus) sowie stark auf induktive Methoden fixierten Lehren. E., verstanden als logischer E., ist die Doktrin des für die Wissenschaftstheorie dieses Jahrhunderts außerordentlich bedeutungsvollen, stark von Mach beeinflussten Wiener Kreises. Dieser forderte, dass sich alle Terme einer präzisen Wissenschaftssprache, außer den logischen, letztendlich auf das direkte Erfassen von Sinnesdaten zurückführen lassen müssen bzw. durch ostensive Definition zu erklären sind: Ein vorheriges Verstehen seiner Bedeutung sollte hier nicht vorausgesetzt sein und die Wahrnehmung von Sinnesdaten als unkorrigierbar gelten.
Von zentraler Bedeutung für den Gebrauch des Erfahrungsbegriffes im E. ist die Idee, dass das Erkenntnissubjekt dem Objekt passiv gegenübersteht. Erfahrung in diesem Sinne kann sich dann näher bestimmen als die Gesamtheit des noch unstrukturiert Gegebenen, das sich erst im Erkennen durch Begriffe und Erinnerung zu einer stabilen und erkennbaren Wirklichkeit formt. In einem engeren Sinne impliziert der Begriff »Erfahrung« das konkrete sinnliche Empfinden eines Einzelsubjekts, das im E. als Grundlage aller Wissensbildung gedeutet werden kann. Die Grenzen dessen, was als Erfahrung gelten darf, sind damit freilich nicht klar abgesteckt. So verwickelte sich Russell in das Problem, was effektiv als ein Name eines Sinnesdatums, d.i. eines rein Erfahrungsgegebenen, gelten dürfe. Das Merkmal eines solchen sog. logischen Eigennamens wäre, dass er sich direkt und ohne jede begriffliche Vermittlung auf ein Objekt bezieht. Insbesondere darf kein Schluss von unmittelbar Gegebenem auf eine »hinter« den Erscheinungen befindliche Realität vorliegen (vielleicht sind »jetzt«, »dies« oder »rot« solche Eigennamen). Diese Sicht kann zur ontologisch-reduktionistischen Position des Phänomenalismus führen, der alle Erfahrung von physischen Objekten aus der Erfahrung von Sinnesdaten rekonstruieren zu können behauptet. Die damit einhergehende epistemologische Sicht bestreitet jede Form von Notwendigkeit für Erfahrungssätze und führt alle Notwendigkeit von Sätzen auf Konventionen oder Bedeutungspostulate zurück, so dass uns notwendige Sätze nichts über die Wirklichkeit mitzuteilen vermögen.
Die Suche des logischen Positivismus nach einem archimedischen Punkt des Wissens hat in diesem Jahrhundert schnell zu heftiger Kritik geführt. Zum einen ist nicht klar, wie eine solche reduktionistische Analyse von Aussagen über physikalische Körper faktisch durchführbar sein kann. Zum anderen erscheinen uns auch Aussagen als bedeutungsvoll, die sich prinzipiell nach empiristischen Kriterien nicht verifizieren lassen können. Schließlich ist die Idee eines Sinnesdatums mit Schwierigkeiten überhäuft, die insbesondere durch Wittgensteins Kritik der Möglichkeit einer Privatsprache an den Tag getreten sind. Auch die Schule Poppers bestreitet, dass Beobachtungsdaten theorieunabhängig sind. Es scheint auch heute schwieriger als je, eine klare Trennung zwischen den Daten unmittelbarer Erfahrung auf der einen Seite und denjenigen begrifflich vermittelter auf der anderen Seite festzuschreiben. Das nimmt dem E. aber die Möglichkeit, dem Skeptiker durch den Vorweis eines unbezweifelbaren Wissensgrundes Widerstand zu leisten. Besondere Schwierigkeiten tun sich für den E. insbesondere auch in der Philosophie der Mathematik durch die Schwierigkeit auf, Sätze über mathematische Objekte durch Erfahrung zu rechtfertigen. Auch hier aber gibt es Versuche, die dem E. verpflichtet sind (vgl. Kitcher).
Geschichte: Ursprünge des E. werden häufig in Aristoteles’ Kritik der platonischen Ideen gesehen, reichen aber weiter in die Vorsokratik zurück. Aristoteles’ Metaphysik erlaubt sicherlich die Möglichkeit, dass es Erkenntnis von Wahrheiten mit Notwendigkeitsgeltung gibt, die uns etwas über die Welt mitteilen. Ähnliches gilt für die Erkenntnislehre des Thomas von Aquin, der den Inhalt jeden Wissens zwar in der Erfahrung sieht, aber unter Verwendung der aristotelischen Unterscheidung eines passiven und eines aktiven Intellekts den Mechanismus der Urteilsfindung so beschreibt, dass die Gewinnung von begrifflichen Abstraktionen aus Vorstellungen ihren Ursprung im aktiven Intellekt hat. Epikur ist ein geeigneterer Kandidat für einen E. in der griechischen Philosophie. Weitere empiristisch orientierte griechische Philosophen waren Demokrit, Protagoras sowie die Stoiker. Epikur zufolge muss sich jedes Urteil letztlich vor der Sinneserfahrung verantworten. Eine empirische Welt von Erscheinungen entsteht durch eine Art von Kontakt zwischen der Seele und Konglomeraten von Atomen, die die Natur ausmachen. Bildet die Seele Begriffe, um sie den Erscheinungen aufzuprägen, ergibt sich eine Irrtumsmöglichkeit, wohingegen die ursprüngliche Sinneserfahrung irrtumsimmun ist. Wie häufig im E., ist schon bei Epikur festzustellen, dass sich auch die skizzierte Erkenntnistheorie apriorischen und metaphysischen Annahmen verdankt, die sich innerhalb der Theorie nicht wieder rechtfertigen lassen. Das zeigt eine mögliche Inkohärenz in der empiristischen Argumentation im Allgemeinen an.
Eine Blüte des E. liegt im englischen E. Lockes, Berkeleys, Humes und Mills. Locke wandte sich gegen die Annahme eingeborener Ideen, d.h. solcher Ideen, die der Seele von Anbeginn angehören und nicht der Erfahrung entstammen (vgl. das erste Buch des Essay Concerning Human Understanding). Vorstellungen (ideas) haben ihre Quelle allein im Empfinden oder in einer Reflexion auf dieses. Die Irrtumsmöglichkeit wird erklärt durch einen gewissen Grad von Freiheit, der der Seele bei der Formung komplexerer aus einfachen Vorstellungen zugesprochen wird. Lockes E. erlaubt eine Apriorität bzgl. den beiden Wissensgraden des intuitiven Wissens sowie des demonstrativen Wissens; eine dritte von Locke unterschiedene Wissensform verdankt sich nicht allein dem Verhältnis von Ideen untereinander, sondern bezieht sich auf sinnliche Objekte. Inwieweit sich unsere Klassifizierungen wirklich auf das Wesen der Dinge beziehen, oder inwieweit wir Gewissheit von der Wirklichkeit der Erscheinungen erlangen können, muss nach Locke prinzipiell offen bleiben. Locke unterschied jedoch, anders als später Berkeley, sog. primäre Qualitäten wie Bewegung und Gestalt von sog. sekundären wie Farbe: Letztere können einem Objekt auch abgehen, ohne dass sich damit das Objekt selbst aufhöbe, Erstere nicht. – Wie bei Locke ist auch Berkeleys E. kompatibel mit einer als demonstrierbar angenommenen Gottesidee. Bei Berkeley ist Gott der direkte Grund unserer Wahrnehmungen. Die Objekte der Außenwelt haben ihr Sein im Wahrgenommenwerden, so dass ihnen kein ontologischer Status als Substanz unabhängig von der Seele zukommt. Die Vorstellungen von Gott und uns selbst sollen sich keiner Sinneserfahrung verdanken. Berkeley folgerte aus seinen ontologischen Annahmen, dass dem menschlichen Erkennen prinzipiell keine Grenzen gezogen sein können. – Eine weitere Verschärfung des E. kann man in Humes Werk beobachten. Er unterschied zwischen Eindrücken (impressions) und Vorstellungen (ideas); Letztere müssen sich auf Erstere zurückführen lassen, und insbesondere gibt es, ähnlich wie bei Berkeley, keinerlei Realität hinter der Welt bloßer Eindrücke. Anders als bei Berkeley sah sich Hume in die Skepsis geführt und bestritt, dass es ein Wissen um die Existenz der äußeren Welt oder auch der Seele geben könne. Alles ist lediglich ein Bündel von Eindrücken, alle Konstanz und Gesetzmäßigkeit in der äußeren Welt basiert auf Vorstellungsassoziationen, die allenfalls eine kausale psychologische Untersuchung aufklären kann. Hume leugnete ebenfalls, dass es eine gesetzliche oder irgendwie essentielle Beziehung zwischen Ursache und Wirkung gebe; was für ihn zu erklären ist, ist der psychologische Eindruck von Notwendigkeit, den eine ursächliche Beziehung evoziert. – Hume fand einen Kritiker in Kant, der in seiner Transzendentalphilosophie die Notwendigkeitsgeltung des Kausalgesetzes zu reetablieren suchte. Kant schlug eine Versöhnung von Rationalismus und E. in der Annahme vor, dass es zwar apriorische Erkenntnis der Realität gebe, diese aber nur für die Welt der Erscheinungen gelte. Das 19. Jh. hat einen Hauptvertreter des E. in Mill. Er verfolgte Humes psychologistische Denkweise und machte Vorstöße, seinen E. auch auf die Wahrheiten der Mathematik auszudehnen: auch diese sind nur Verallgemeinerungen von Erfahrung. In neuester Zeit muss der E. in dieser seiner radikalsten Form wohl als gescheitert gelten. Mehr Erfolg zu versprechen scheinen Positionen, die eine Theorie von im Subjekt bereits angelegten apriorischen Strukturen mit einem empiristischen Begriff von Sinneserfahrung zu kombinieren vermögen.
Literatur:
- A. J. Ayer/R. Winch (Hg.): British Empirical Philosophers. London 1952
- W. Balzer: Empiristische Theorien. Braunschweig 1982
- G. Bergmann: The Metaphysics of Logical Empirism. Madison 21967
- K. Deichgräber: Die griechische Empirikerschule. Berlin 1965
- P. Feyerabend: Problems of Empirism. Cambridge 1981
- A. H. Goldmann: Empirical Knowledge. Berkeley 1988
- I. Kant: Kritik der reinen Vernunft
- Ph. Kitcher: The Nature of Mathematical Knowledge. New York 1984
- E. Mach: Die Mechanik in ihrer Entwicklung historisch-kritisch dargestellt. Leipzig 1883
- J. S. Mill: System of Logic. London 1974 (dt.: System der deduktiven und induktiven Logik. Braunschweig 1877
- K. R. Popper: Conjectures and Refutations. London 1969
- B. Russell: Inquiry into Meaning and Truth. London 1940.
WH
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.