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Metzler Lexikon Philosophie: Erklären-Verstehen-Kontroverse

Den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung bildet die von Droysen und Dilthey getroffene methodologische Unterscheidung zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Die terminologische Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen wird durch den unterschiedlichen Phänomenbereich und die unterschiedliche Zugangsweise dazu begründet. Schleiermachers philosophisch begründete Hermeneutik gibt die Grundlage für derartige Überlegungen ab. Diltheys Entwurf einer »verstehenden Psychologie« stellt eine Entgegensetzung zu Mills getroffener Festlegung, der Erklärungsbegriff der »moral sciences« sei in den induktiven Wissenschaften begründet, dar. Er stellt dem Erklären aus kausalen Gesetzen das Verstehen als methodologisches Verfahren der Geistes- und Humanwissenschaften gegenüber.

Die E.-V.-K. entzündete sich neu, als im Anschluss an die Überlegungen des Logischen Empirismus zum Status wissenschaftlicher Begriffe und Probleme die wissenschaftliche Erklärung zum zentralen Thema der Wissenschaftstheorie wurde. Hempel, Oppenheim und Popper beanspruchten für das Modell der Kausalerklärung (Erklärung) den Status der einzig akzeptablen Form von wissenschaftlicher Erklärung und gestanden dem »Verstehen« bestenfalls im Kontext des Auffindens von Hypothesen zu Kausalerklärungen menschlichen Handelns eine methodische Relevanz zu. Ihren besonderen Stellenwert erhält die Kontroverse zum einen im Hinblick auf die Frage nach den methodologischen und epistemischen Grundlagen der Sozial- und Humanwissenschaften, zum anderen im Hinblick auf den Stellenwert dieser Wissenschaften in Bezug auf den philosophischen Anspruch praktischer Vernunft. Im Rahmen einer von Apel, Habermas, Wellmer u.a. vertretenen kritischen Gesellschaftstheorie führt das zu der entscheidenden Frage, ob die Erkenntnisse der Sozialwissenschaften als ein Mittel für den Menschen zu begreifen sind, um zu gesellschaftlichen Prozessen Stellung zu nehmen und nach eigenen Rationalitätskriterien verändernd und gestaltend in sie einzugreifen, oder nur in einem sozialtechnologischen Sinne fungieren, so dass der Mensch gleichermaßen zum Objekt der Wissenschaften wie irgendwelcher gesellschaftlicher Regelungen wird. Gegen die Reduzierung des Menschen auf ein technisch verfügbares Objekt werden die lebenspraktischen Interessen, die in jeden Forschungsprozess eingehen und das Vorverständnis des Forschers bestimmen, ins Feld geführt. Dieses Vorverständnis enthält Vorstellungen über die künftige Lebensgestaltung und damit auch über die gesellschaftliche und soziale Entwicklung. Dem Anspruch der praktischen Vernunft wäre entsprochen, wenn sich die Sozialwissenschaften aus dem Kontext solcher lebenspraktischer Interessen verstehen würden und der wissenschaftliche Fortschritt aus der Perspektive der Emanzipation (der Menschheit) von (bisher) nicht durchschauten Zwangszusammenhängen bestimmt würde.

Der wissenschaftstheoretische Aspekt der Debatte lässt sich in die methodologische und die epistemische Teilfrage aufspalten. Unter methodologischem Aspekt wird die Frage relevant, welcher Art die empirischen Daten sind und welche Zugangsweisen zu diesen Daten den Sozialwissenschaften möglich sind. Der epistemische Aspekt wird in dem Gegensatz von kausaler und teleologischer Handlungserklärung thematisiert. Obwohl sich beide Fragen aufgrund ihres systematischen Zusammenhanges nicht säuberlich trennen lassen, führen sie doch zu unterschiedlichen Diskussionssträngen. – Dem methodologischen Postulat der empirischen Datenerhebung und der Überprüfbarkeit der Aussagen auf der Grundlage von Beobachtungsdaten wird seitens der Verstehensposition Webers Unterscheidung von Sinn- und Kausaladäquanz entgegengehalten. Dessen Unterscheidung weist darauf hin, dass soziales Handeln als ein menschliches Verhalten anzusehen ist, bei dem der Handelnde mit seiner Tätigkeit einen subjektiven Sinn verbindet. Das bedeutet für die empirische Datenerhebung, dass sie nur auf solche Phänomene Bezug nehmen kann, deren Sinngehalt der Beobachter verstanden hat (Bspw. lassen sich soziale Rituale oder Institutionen wie Taufe und Eheschließung nicht aufgrund äußerer Daten bestimmen). In diesem Zusammenhang erweist sich als klärungsbedürftig, welcher Art der als »Verstehen« bezeichnete Prozess ist. Die von Hempel u.a. vertretene Auffassung wird in dem klassisch gewordenen Aufsatz von Abel »The Operation called ›Verstehen‹« erörtert: Die als »Verstehen« bezeichnete Operation ist ein Prozess, der auf der Übertragung persönlicher Erfahrung auf beobachtbares Verhalten anderer Personen beruht. Wir verstehen einen beobachteten oder angenommenen Zusammenhang dann, wenn wir in der Lage sind, ihn mit etwas in Beziehung zu bringen, das wir aus eigener Erfahrung bzw. aufgrund von Selbstbeobachtung kennen. Das Problem wird von Abel so formuliert, als ob es um das Verständnis von individuellem Handeln im Sinne seiner Motive ginge: Der Sozialwissenschaftler beobachtet eine Verhaltenssequenz und schreibt dem Akteur bestimmte psychologische Zustände (Motive, Werte, Emotionen) zu, die für das Handeln ausschlaggebend sein können. Die Operation beruht auf der Introspektionsfähigkeit bzw. Einfühlung des Betrachters in den Akteur. Er geht von dem beobachteten Verhalten aus und versucht dazu aus eigener Erfahrung eine Verhaltensmaxime als Bezug zwischen Ausgangsbedingungen und Verhaltensreaktion zu rekonstruieren. Ausgehend von diesem auf das Motivverstehen reduzierten Verstehenbegriff kommen Hempel, Abel u.a. zu der These, dass das Verstehen nur heuristischen Wert habe im Prozess der Entdeckung von wissenschaftlichen Hypothesen über menschliches Verhalten, aber für den Prozess der Erklärung keine Bedeutung besitze. Die Kritiker dieser These ziehen in Zweifel, dass Abels Explikation von »Verstehen« hinsichtlich der Sinndimension des Handelns als adäquat angesehen werden kann. Denn soziales Handeln ist an Sinngehalte der Kultur, der gesellschaftlichen Normen und Verhaltenserwartungen orientiert. Der zu erfassende Sinn des Handelns hat den Status von Tatsachen, der Zugang dazu kann aber nicht allein durch Beobachtung äußerer Daten oder Ereignisse gelingen, da eine solche Beobachtung bereits das Verstehen dieser Sinnzusammenhänge voraussetzt. D.h. im Hinblick auf die Erfahrungsbasis der Sozialwissenschaften bedarf es einer Methodologie, die Verstehen und Beobachtung verbindet. Diese hat in Rechnung zu stellen, dass das beobachtbare Verhalten in der Gesellschaft durch die Interpretationsschemata der Akteure selbst vermittelt ist. Deshalb ist der Versuch, gesellschaftliche Wirklichkeit unabhängig von der Situationsdefinition der Beteiligten zu erfassen und die Begriffs- und Theoriebildung unter Abstraktion von der Sinnkategorie zu gestalten, dem Phänomenbereich der Sozialwissenschaften nicht adäquat. Nur durch den Rekurs auf das Vorverständnis der Alltagswelt erreicht der Sozialwissenschaftler ein Verständnis dessen, worauf sich seine Messoperationen beziehen sollen. Das erfordert eine Reflexion auf die Eigenart und die Bedingungen der sozialen Erfahrung, die als Erfahrung von Subjekten in interaktiven, kommunikativen Bezügen zu begreifen ist. Die Analyse der für den Aufbau sozialer Lebenswelten konstitutiven Regeln stellt die Grundlage der Begriffs- und Theoriebildung in den Sozialwissenschaften dar. Entsprechende methodologische Überlegungen wurden in Anknüpfung an die Phänomenologie Husserls durch Schütz, Luckmann und die Ethnomethodologie von Garfinkel und Cicourel angestellt. Die theoretischen Begriffe werden aus einer Rekonstruktion jener Prozesse, durch welche die sinnhaft strukturierte Wirklichkeit produziert wird, gewonnen. Winch setzt im Anschluss an Wittgensteins Philosophische Untersuchungen den Begriff »einer Regel folgen« als zentral an. Gadamers These vom Universalitätsanspruch der Hermeneutik verweist darauf, dass das Verstehen die Vollzugsform menschlichen Soziallebens ist. Dadurch wird die geschichtliche Dimension allen Sinns und Sinnverstehens, in der sich Akteure und Interpreten gleichermaßen befinden, herausgestellt.

Die epistemische Teilfrage wurde durch die wissenschaftstheoretischen Überlegungen zum Begriff der Erklärung in den Geschichtswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Als repräsentativ dafür sind die Überlegungen von Gardiner, Dray und Danto anzusehen. Diese kulminieren in der Feststellung, dass der umfassende Anspruch des Gesetzesschemas der wissenschaftlichen Erklärung, wie er von Hempel, Oppenheim und Popper vertreten wurde, den Erklärungswert geschichtswissenschaftlicher Aussagen erheblich beschränken würde. Denn der Historiker hat keine Naturereignisse zum Gegenstand, sondern soll menschliches Handeln erklären, d.h. ein historisches Ereignis in Termini von Absichten und Plänen beschreiben. Das Problem der historischen Erklärung führt zu dem zentralen Problembereich, welcher Erklärungsbegriff in Bezug auf menschliches Handeln Geltung haben könne. Dazu entwickelte v. Wright anhand des praktischen Schlusses das Schema einer intentionalen Erklärung. Deren logische Struktur lässt sich am angemessensten mit der logischen Form des praktischen Schlusses, wie er in Grundzügen bei Aristoteles (Nikomachische Ethik, 6. u. 7. Buch) zu finden ist, erklären. Dieser Schluss hat, an einem Beispiel demonstriert, folgende Form: 1. Eine Person P beabsichtigt, in ein Haus einzudringen (Handlung a), 2. P glaubt, dass er dies nur dann erreicht, wenn er eine Fensterscheibe beseitigt (Handlung b), 3. also vollzieht P die Handlung b (Conclusio). In den Prämissen wird eine bestimmte Absicht und eine Meinung über das für den Zweck geeignete Mittel ausgedrückt, so dass die Prämissen eine Erklärung der in der Conclusio genannten Handlung darstellen. Die Prämissen implizieren eine Aussage über eine intentionale Handlung ohne Rekurs auf kausale oder gesetzesartige Aussagen, d.h. sie erklären die Handlung nicht kausal, sondern teleologisch, weil diese Prämissen die Bedingungen wiedergeben, mit Hilfe derer die betreffende Handlung zu verstehen ist. Damit wird der Begriff der Handlung zu einem nicht weiter reduzierbaren Grundbegriff. Nach Ansicht v. Wrights liefert der praktische Schluss den Sozial- und Humanwissenschaften ein Erklärungsschema, das eine Alternative zum subsumtionstheoretischen Gesetzesschema der Erklärung darstellt.

Literatur:

  • Th. Abel: The Operation called »Verstehen«. In: H. Feigl/M. Brodbeck (Hg.): Readings in the Philosophy of Science. New York 1953
  • K. Acham: Analytische Geschichtsphilosophie. Freiburg/München 1974
  • K.-O. Apel: Die Erklären-Verstehen-Kontroverse in transzendentalpragmatischer Sicht. Frankfurt 1979
  • Ders. (Hg.): Neue Versuche über Erklären und Verstehen. Frankfurt 1978
  • A. C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Frankfurt 1980
  • W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften (Gesammelte Schriften Bd. 1). Stuttgart 71973
  • Ders.: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (Gesammelte Schriften Bd. 6). Stuttgart 61974
  • W. Dray: Laws and Explanation in History. London 1957
  • J. G. Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. München 61971
  • R. Gardiner: The Nature of Historical Explanation. London 1952
  • J. Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt 1967
  • Th. Haussmann: Erklären und Verstehen. Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Frankfurt 1991
  • C. G. Hempel: The Function of General Laws in History. In: Aspects of Scientific Explanation and other Essays in the Philosophy of Science. New York/London 1965. S. 321 ff
  • A. Kenny: Action, Emotion and Will. London 1965
  • J. St. Mill: System der deduktiven und induktiven Logik (Gesammelte Werke Bd. 2–4). Leipzig 1873
  • E. Nagel: The Logic of Historical Analysis. In: The Scientific Monthly 74 (1952)
  • K. R. Popper: Logik der Forschung. Tübingen 71982
  • M. Riedel: Verstehen oder Erklären: Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften. Stuttgart 1978
  • O. Schwemmer: Theorie der rationalen Erklärung. München 1976
  • Ch. Taylor: Erklärung und Interpretation in der Wissenschaft vom Menschen. Frankfurt 1975
  • St. Toulmin: Voraussicht und Verstehen. Frankfurt 1968
  • A. Wellmer: Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus. Frankfurt 1971
  • P. Winch: Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie. Frankfurt 1966
  • H. v. Wright: Erklären und Verstehen. Frankfurt 1974
  • Ders.: Handlung, Norm und Intention. Berlin/New York 1977.

PP

  • Die Autoren
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AB Andreas Bartels, Paderborn
AC Andreas Cremonini, Basel
AD Andreas Disselnkötter, Dortmund
AE Achim Engstler, Münster
AG Alexander Grau, Berlin
AK André Kieserling, Bielefeld
AM Arne Malmsheimer, Bochum
AN Armin Nassehi, München
AR Alexander Riebel, Würzburg
ARE Anne Reichold, Kaiserslautern
AS Annette Sell, Bochum
AT Axel Tschentscher, Würzburg
ATA Angela T. Augustin †
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BA Bernd Amos, Erlangen
BBR Birger Brinkmeier, Münster
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BD Bernhard Debatin, Berlin
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BK Bernd Kleimann, Tübingen
BKO Boris Kositzke, Tübingen
BL Burkhard Liebsch, Bochum
BR Boris Rähme, Berlin
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BZ Bernhard Zimmermann, Freiburg
CA Claudia Albert, Berlin
CH Cornelia Haas, Würzburg
CHA Christoph Asmuth, Berlin
CHR Christa Runtenberg, Münster
CI Christian Iber, Berlin
CJ Christoph Jäger, Leipzig
CK Christian Kanzian, Innsbruck
CL Cornelia Liesenfeld, Augsburg
CLK Clemens Kauffmann, Lappersdorf
CM Claudius Müller, Nehren
CO Clemens Ottmers, Tübingen
CP Cristina de la Puente, Stuttgart
CS Christian Schröer, Augsburg
CSE Clemens Sedmak, Innsbruck
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CZ Christian Zeuch, Münster
DG Dorothea Günther, Würzburg
DGR Dorit Grugel, Münster
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DHB Daniela Hoff-Bergmann, Bremen
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WvH Wolfram von Heynitz, Weiburg

Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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