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Metzler Lexikon Philosophie: Ethnomethodologie

von Garfinkel und Cicourel entwickelte sozialwissenschaftliche Forschungsmethode, deren Ziel nicht kausale Erklärungen von beobachtbar regulären, geordneten und sich wiederholenden Handlungen von Mitgliedern einer Gesellschaft sind; vielmehr versucht sie die Prozesse und Strukturen der Sinnerzeugung im Alltagswissen einer Gesellschaft zu beschreiben. Ihr Interesse richtet sich darauf, wie die Mitglieder einer Gesellschaft einerseits mittels der natürlichen Sprache das interpersonale Verstehen und Handeln bewerkstelligen und wie sie andererseits die Bedingungen dieses Verstehens selbst schaffen, indem sie die nicht-sprachlichen Eigenschaften von Interaktionsformen und -strukturen erkennen und produktiv einsetzen. z.B. ist das Verstehen einer Begrüßungsszene nicht primär an die damit verbundenen Äußerungen gebunden, vielmehr resultiert deren Sinn aus den ausgetauschten Gesten und aus anderen spezifischen Situationsmerkmalen. Nicht warum die Menschen bestimmte Handlungen durchführen, sondern wie sie diese durchführen, ist für die E. von besonderem Interesse. Die Annahme, dass die Erforschung sozialer Phänomene nur aus den Interaktionssituationen heraus sinnvoll betrieben werden könne, führt zu der methodologischen Forderung, dass der Forscher die Perspektive des Teilnehmers (an solchen Interaktionen) einnehmen muss. Die E. basiert auf drei zentralen Begriffen: Indexikalität, Darstellung und Reflexivität. Der Terminus Indexikalität verweist auf eine spezifische Interpretation als methodologische Grundregel: Die Interpretation zielt darauf ab, die den einzelnen Handlungen zugrundeliegenden Muster freizulegen. Die Beziehung zwischen den einzelnen Erscheinungen und den zugrundeliegenden allgemeinen Mustern bezeichnet Garfinkel als Phänomen der Indexikalität. Die indexikalischen Ausdrücke beziehen sich in einer Weise auf Personen, Orte, Objekte und Ereignisse, die sie in der spezifischen Einzigartigkeit ihrer jeweiligen konkreten Manifestation darstellt. Solche Ausdrücke sind für die Festlegung ihres Sinnes von dem Kontext abhängig. Indexikalität beschreibt den Sachverhalt, dass die Erscheinungen Zeichen für dahinter liegende Strukturmuster sind, die von dem Mitglied der Gesellschaft wie dem Soziologen gleichermaßen zu enkodieren sind. Die Darstellung umfasst jene Mittel, deren sich die Mitglieder bedienen, um für sich Alltagswissen verfügbar zu machen. Der Ethnomethodologe erkennt eine Identität zwischen jenen Handlungen, mittels derer wir unsere Alltagssituationen herstellen, und jenen Praktiken, die uns zur Verfügung stehen, um solche Situationen darstellbar zu machen.

Aus den Implikationen des Begriffs »Darstellung« bestimmt die E. ihr thematisches Forschungsgebiet: (1) Wenn die Mitglieder Darstellungen tatsächlicher Situationen geben, werden sie Begriffe verwenden, welche die Wirksamkeit solcher Faktoren betonen, von denen sie und andere typischerweise erwarten, dass sie in Bezug auf die Situationen, die sie erklären, kontingent sind; oder sie werden die Wirksamkeit solcher Faktoren unentschieden sein lassen, um die Möglichkeit alternativer Erklärungen nicht auszuschließen. (2) Die Darstellungen werden für die Mitglieder deshalb sinnvoll sein, weil es ein Kontextwissen gibt, von dem sie annehmen, dass alle es teilen. Dieses Wissen wird ein stillschweigendes Merkmal ihrer Interaktion sein. (3) Die Darstellung hat eine »Warten-wir-es-ab-Qualität«, weil nicht alles Wissen, was in ihnen enthalten ist, um den darzustellenden Handlungen Sinn zu verleihen, gleichzeitig mit den erklärten Daten verfügbar sein wird. Während des Prozesses des Darstellens werden Teile der Darstellung nicht den vollständigen Sinn erkennbar machen, bis die Darstellung insgesamt fertiggestellt ist. (4) Die Darstellungen sind systematisch und in der Form von Sequenzen konstruiert. (5) Das Material oder die Teile einer Darstellung hängen hinsichtlich ihres Sinnes vom Kontext (z.B. der Biographie des Mitglieds oder der dargestellten Situation) ab. – Diese Darstellungen haben insofern den Charakter der Reflexion, als die Mitglieder diese verwenden, um eine vertraute Alltagshandlung als vertraute Handlung erkennbar zu machen. Die Eigenschaft der Reflexivität der eigenen Handlung versetzt die Mitglieder in die Lage, die Vernünftigkeit ihrer eigenen Handlungen für andere erkennbar zu machen.

Literatur:

  • A. V. Cicourel: Method and Measurement in Sociology (dt. Methode und Messung in der Soziologie. Frankfurt 1970)
  • Ders.: Interpretive Procedures and Normative Rules in the Negotation of Status and Role (dt. Basisregeln und normative Regeln im Prozess des Aushandelns von Status und Rolle. In: Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Reinbek 1973. S. 147–188)
  • P. Filmer: On H. Garfinkel’s Ethnomethodology. In: P. Filmer u.a. (Hg.): New Directions in Sociological Theory. London 1972. S. 203–233
  • H. Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. New York 1967
  • Ders./H. Sacks: Über formale Strukturen praktischer Handlungen. In: E. Weingarten/F. Sack/J. Schenkein (Hg.): Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt 1976. S. 130–176
  • E. Weingarten/F. Sack: Ethnomethodologie. Die methodische Konstruktion der Realität. In: a.a.O. S. 7–27.

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Herausgegeben von Peter Prechtl (†) und Franz-Peter Burkard.

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