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»Vom Mythos des Normalen«: Ist Gesundheit normal?

Wie gesellschaftliche Normen Menschen krank machen.
Viele Menschen sschlendern auf der berühmten Istiklal-Straße im Stadtteil Beyoğlu

Haben Sie sich schon einmal dabei ertappt, dass Sie dachten: »Was ist denn heute noch normal?« Das Hinterfragen von Normalität ist grundsätzlich kein besonders origineller Gedanke. Wir leben in einer Welt, die sich so schnell wandelt, dass Normalität kaum mehr möglich scheint. Die Globalisierung und die neuen Erfahrungen, die ständig auf uns einprasseln, lassen uns unsere kulturellen und gesellschaftlichen Normen laufend hinterfragen. Die Vermutung liegt nahe, dass es womöglich nichts Normales mehr gibt. Und doch sind unsere Einstellungen, unser Verhalten und unser Leben in einen gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen eingebunden, der das Fundament des Normalen bildet.

Dieses Gerüst ist für eine funktionierende Gesellschaft essenziell. Doch kann er auch der Auslöser von Problemen, ja sogar von Krankheiten sein? Dieser Frage widmet sich Gabor Maté in »Vom Mythos des Normalen«, das er gemeinsam mit seinem Sohn Daniel Maté geschrieben hat. Der kanadische Mediziner, der sich mit Stress, Sucht, ADHS und Trauma befasst, untersucht darin, wie unsere westliche Welt uns krank macht. Die Ausgangslage, die er anschaulich anhand von Daten der Weltgesundheitsorganisation darlegt, ist bedenklich: Psychische Leiden werden immer häufiger, ebenso Fettleibigkeit, Autoimmunerkrankungen und chronische Beschwerden. Aus ärztlicher Sicht stellen diese eine Abweichung vom gewünschten Zustand dar, der durch eine Behandlung wiederhergestellt werden soll. Laut Maté entspricht dieser Wunschzustand der Normalität im medizinischen Sinn: Gesund ist »normal«, krank ist »anormal«.

Er selbst hingegen definiert Normalität anders: als jene Umstände, die so allgegenwärtig sind, dass sie für uns unsichtbar werden. Hieraus ergibt sich die These, dass man sich in modernen Gesellschaften bestimmten Anforderungen anpasst, die im Hinblick auf naturgegebene Bedürfnisse anormal sind. In fünf Kapiteln versucht der Autor, seine These zu untermauern und Lösungen anzubieten. In einem Kapitel geht es beispielsweise um Abhängigkeit. Maté zufolge ist der Konsum psychoaktiver Substanzen ein (unbewusster) Versuch, Normalität herzustellen, um »anormale« Empfindungen wie innere Leere, Schmerz oder die Folgen eines Traumas zu überwinden.

Das Buch enthält zahlreiche Fallstudien, in denen teils bekannte Persönlichkeiten wie Schauspieler oder Politiker zur Sprache kommen, aber auch Patienten, die Gabor Maté selbst betreute. Das Persönliche und Zwischenmenschliche, das der Schulmedizin oft abhandenkommt, soll so betont werden. Doch vor allem im letzten Drittel der mehr als 600 Seiten langen Lektüre wird es langatmig. Zu dieser zähen Leseerfahrung tragen auch die teils sehr blumigen Formulierungen bei (»Wie ihr natürlicher Verwandter, die Liebe, ist die Authentizität kein Konzept«). Häufig wird das inzwischen inflationär verwendeten Wort »toxisch« genutzt. Dies erweckt den Eindruck, dass sich das Werk an den Zeitgeist anbiedert.

Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass »Vom Mythos des Normalen« ein Werk ist, das in der modernen Gesellschaft zu Recht ein verzerrtes Bild von Normalität anprangert. Ob dieses allein oder so stark, wie der Autor es postuliert, am Aufstieg diverser Erkrankungen schuld ist, muss in Frage gestellt werden.

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