Die fabelhafte Welt der Mathematik: Sind Katzen eine Flüssigkeit?

An Neujahr vor etwa fünfzehn Jahren suchten wir stundenlang nach unserer Katze. Das Feuerwerk hatte das arme Tier so verängstigt, dass es sich irgendwo verkrochen hatte. Wir klapperten erfolglos alle Lieblingsplätze ab. Die Katze schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Doch irgendwann beobachteten wir erstaunt, wie etwas Schwarzes, Flauschiges aus einer schmalen länglichen Öffnung unterhalb unseres Kamins herauskroch. Dort hatte sich Tigrou, unser Stubentiger, also versteckt. An diesem Ort hätten wir niemals nachgeschaut: Die Öffnung schien viel zu schmal, als dass eine Katze hineinpassen könnte.
Ähnliche Beobachtungen haben viele Menschen gemacht, weshalb seit mehreren Jahren online Memes kursieren, in denen Katzen als Flüssigkeit bezeichnet werden. »Ich verbringe gerne viel Zeit im Internet«, sagte der Physiker Marc-Antoine Fardin von der Université Paris Diderot in einem TED-Talk, »natürlich nur zu Forschungszecken«. Das brachte ihn im Frühjahr 2014 auf die Idee, das Fließverhalten von Katzen wissenschaftlich zu untersuchen. Er tat das als Zeitvertreib, um sich vor seiner eigentlichen Arbeit zu drücken. »Diese Art der Prokrastination hat sich als sehr lohnenswert erwiesen«, erklärte er bei seinem Vortrag. »Sie hat mir 2017 den IG-Nobelpreis eingebracht, eine Auszeichnung für Forschung, die sowohl zum Lachen als auch zum Nachdenken anregt.«
Grundlage von Fardins Untersuchungen ist die so genannte Rheologie, eine Wissenschaft, die auch als Fließkunde bekannt ist. In dieser werden Objekte, die ein gleich bleibendes Volumen und eine feste Form haben – also Festkörper – von flüssigen Substanzen unterschieden. Deren Volumen bleibt zwar ebenfalls gleich, aber ihre Form kann sich ändern. Letzteres scheint eindeutig auf Katzen zuzutreffen: Ihr Volumen ist immer gleich groß, aber sie können sich scheinbar beliebig krümmen, um ein Behältnis wie einen Pappkarton oder ein Waschbecken voll auszufüllen. Damit sollten Katzen zur Kategorie der Flüssigkeiten zählen, oder?
Ganz so einfach lässt sich die Frage nicht beantworten. »Ein wichtiges Motto der Rheologie lautet: Wenn man lange genug wartet, zerfließt alles irgendwann einmal«, sagte Fardin während seines TED-Talks. So fließt der – eigentlich feste – Asphalt einer abschüssigen Straße sehr langsam weiter. Nach mehreren Jahren oder Jahrzehnten lässt sich das durchaus beobachten. Zudem lassen sich auch Festkörper deformieren, wenn man nur genügend Druck auf sie ausübt. Andererseits können auch Flüssigkeiten feste Eigenschaften aufweisen. Zum Beispiel fließt Ketchup erst nach mehrmaligem Schütteln aus einer geöffneten Flasche.
Was ist eine Flüssigkeit?
Die zuvor genannte Definition einer Flüssigkeit ist also nicht ganz stichhaltig. Offenbar hängt die Antwort auf die Frage, was flüssig ist, davon ab, wie lange man etwas beobachtet. Daher ziehen Rheologen eine Größe namens Deborah-Zahl heran, die unter anderem von der Beobachtungszeit abhängt. Sie gibt an, wie flüssig ein Objekt ist. Prinzipiell gilt: je kleiner De, desto flüssiger die Substanz.
Neben der Beobachtungszeit T hängt die Deborah-Zahl auch von der so genannten Relaxationszeit τ ab, der Dauer, die ein Fluid braucht, um seine Form anzupassen. Schüttet man Wasser in ein Glas, füllt es dieses blitzschnell aus, die Relaxationszeit ist demnach sehr kurz. Bei einer zähflüssigen Flüssigkeit wie Ketchup muss man hingegen länger warten. Indem man die Relaxationszeit und die Beobachtungsdauer ins Verhältnis τ⁄T setzt, erhält man die Deborah-Zahl De. Für Werte kleiner als eins gelten Objekte als flüssig. Falls De größer oder gleich eins ist, spricht man hingegen von Festkörpern.
Je länger man also etwas beobachtet, desto kleiner wird die Deborah-Zahl und desto flüssiger erscheint es. Berge sind für uns beispielsweise unumstritten fest. Während eines Menschenlebens lässt sich kein Fließverhalten erkennen. Über Millionen von Jahren betrachtet ist das hingegen anders. Aus diesem Beispiel leitet sich der Name der Deborah-Zahl ab, die nach einer Passage aus dem »Deboralied« des Alten Testaments benannt wurde (»die Berge ergossen sich vor dem Herrn«).
Eine eindeutige Antwort auf die Frage, was eine Flüssigkeit ist, lässt sich daher nicht geben. »Ob Katzen flüssig sind oder nicht«, erklärte Fardin in seinem Vortrag, »hängt von der Dauer ab, während der man sie beobachtet«. Trotzdem lassen sich rheologische Untersuchungen durchführen – und die offenbaren zahlreiche flüssige Merkmale von Katzen.
Katzen und Flüssigkeiten teilen viele Eigenschaften
Um die Deborah-Zahl von Katzen zu berechnen, muss man deren Relaxationszeit τ bestimmen. Diese ist von Tier zu Tier unterschiedlich und hängt unter anderem von der Rasse und dem Alter ab. So haben junge Kätzchen in der Regel eine höhere Relaxationszeit, da sie ziemlich viel zappeln. Es kann mehrere Stunden dauern, bis sie ihre Form an ihre Umgebung anpassen.
»Die Relaxationszeit hängt aber auch vom Behältnis ab«, erklärte Fardin. So haben Katzen meist kein Problem damit, sich auf dem Schoß ihres Besitzers zu entspannen und wie ein zähflüssiges Fluid auszudehnen. In einer Box, in der sie zum Tierarzt transportiert werden, kann das jedoch völlig anders aussehen. Auch bei Flüssigkeiten wie Wasser hängt die Relaxationszeit von der Umgebung ab. Zum Beispiel bildet Wasser auf abweisenden Flächen wie Teflon Tröpfchen, während es auf anderen Oberflächen sofort zerfließt.
Insgesamt lasse sich sagen, dass die Relaxationszeit von erwachsenen Katzen zwischen einer Sekunde und einer Minute beträgt, schreibt Fardin in seiner bei der Fachzeitschrift »Rheology Bulletin« erschienenen Arbeit. Damit lässt sich die Deborah-Zahl berechnen: Wenn sich eine Katze beispielsweise innerhalb von fünf Sekunden in einen kleinen Pappkarton quetscht und man sie dabei eine Minute lang beobachtet, dann beträgt De = 0,0833... Das ist deutlich kleiner als eins; in diesem Fall zeigt die Katze also eindeutig flüssiges Verhalten.
Wie Fardin in seinem Fachaufsatz herausarbeitet, teilen Katzen weitere Eigenschaften mit Flüssigkeiten. Zum Beispiel weisen sie eine Fließspannung auf; man muss also ein Minimum an Kraft aufwenden, bevor sie aus einem Behältnis fließen. Gleiches gilt zum Beispiel für Ketchup in einer Flasche, die man vor dem Ausgießen erst schütteln muss. Zudem passen Katzen ähnlich wie ein Fluid ihren Körper so an ein Behältnis an, in das sie sich hineinquetschen, dass sie es vollständig ausfüllen.
Ein weiteres Merkmal, das sich Katzen mit manchen Flüssigkeiten teilen, ist die große Oberflächenspannung. Sie erlaubt es, dass sich die Tiere in kleine Behältnisse quetschen und dabei herausquellen.
Fardin interessierte sich außerdem für die Strömungseigenschaften von Katzen, zum Beispiel wollte er herausfinden, ob sie auch Turbulenzen bilden können. Allerdings seien solche Eigenschaften schwer zu untersuchen, gibt der Forscher in seiner Arbeit zu bedenken, da Katzen – wie Actomyosin-Systeme oder schwimmende Bakterienzellen – aktiv sind: »Sie haben eine eigene Antriebskraft.«
»Zusammenfassend lässt sich sagen, dass noch viel Arbeit vor uns liegt«, schließt Fardin seinen Fachaufsatz, »aber Katzen erweisen sich als ein reichhaltiges Modellsystem für die rheologische Forschung.« Der biologische Grund, warum diese Tiere – im Gegensatz zu anderen Lebewesen wie Menschen – einer Flüssigkeit ähneln, ist ihr bewegliches (und manchmal fehlendes) Schlüsselbein. Sobald ihr Kopf durch eine Öffnung passt, kann der Rest des Körpers deswegen leicht folgen. So floss auch Tigrou in den schmalen Spalt unterhalb unseres Kamins.
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