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Lexikon der Neurowissenschaft: corticale Reorganisation

corticale Reorganisation, verletzungs- oder stimulationsbedingte Veränderungen der Struktur und/oder Funktion der sensorischen Areale und des motorischen Areals im Cortex (Großhirnrinde). Bis in die 1980er Jahre hinein vermutete man, daß sich diese Areale nur im Laufe der Individualentwicklung (Ontogenese des Nervensystems) verändern. Neuere Forschungsergebnisse belegen, daß diese Veränderungen auch im Cortex des Erwachsenen auftreten und bis ins hohe Alter wirksam sind. So kommt es z.B. nach der Amputation einer Hand zu einer Einwanderung von Nervenimpulsen benachbarter Areale in das corticale Repräsentationsareal des amputierten Gliedes. Tierexperimentelle Untersuchungen haben gezeigt, daß diese Reorganisationsprozesse durch Demaskierung normalerweise gehemmter Verbindungen wie auch die Schaffung neuer Verbindungen, z.B. durch das Aussprossen von Axonen entstehen können. Für das visuelle System wurde ein Kaskadenmodell vorgeschlagen, mit dem sich die beschriebenen Läsionseffekte erklären lassen: Demnach kommt es in der frühen Phase nach einer Läsion zu einer Verringerung der über GABA vermittelten Inhibition und einer Zunahme der über NMDA-Rezeptoren vermittelten excitatorischen Glutamatreaktion (Glutamatrezeptoren). Dies wiederum erleichtert – über die Auslösung von Langzeitpotenzierungs-Effekten – synaptische Reorganisationsprozesse in den Zellen, die eine deafferentierte Cortexregion umgeben oder am Rand einer corticalen Läsion überleben. Über diesen Mechanismus können bereits vorhandene unterschwellige synaptische Verbindungen, die vor allem benachbarte corticale Regionen innervieren, ihre Effektivität erhöhen und überschwellige Impulse auslösen. Dies hat für retinale und corticale Läsionen unterschiedliche funktionelle Bedeutung. Nach einer Läsion in der Netzhaut verschiebt sich die corticale Repräsentation des Teils der Netzhaut, der die Läsion umgibt, in ein corticales Gebiet, das durch die Deafferentierung "erblindet" ist, wohingegen sich nach corticalen Läsionen die corticale Repräsentation von den zerstörten corticalen Neuronen zu den überlebenden Nachbarzellen verschiebt. Beide Typen von Reorganisation beruhen auf einer synaptischen Plastizität und sind sehr wahrscheinlich erfahrungsabhängig. Corticale Reorganisationsprozesse können auch vom Thalamus oder tiefer gelegenen Regionen zum Cortex weitervermittelt werden. Da jedoch auch der Cortex durch absteigende Verbindungen modulierend wirkt, ist es schwierig, den primären Ort der Reorganisation zu bestimmen. – Mittels bildgebender Verfahren wie der neuromagnetischen und der neuroelektrischen Quellenanalyse, der Positronenemissionstomographie oder der funktionellen Kernspinresonanztomographie sind in den letzten Jahren corticale Reorganisationsprozesse auch beim Menschen aufgezeigt worden. So fand man z.B. Vergrößerungen der Repräsentation des Handareals oder einzelner Finger im primären somatosensorischen und motorischen Cortex (primärer Motorcortex, primärer somatosensorischer Cortex) als Folge von sensorischem oder motorischem Training oder bei Musikern, die lange Jahre ein Instrument gespielt hatten. Auch im auditorischen Cortex kommt es nach Training einzelner Frequenzen oder auch bei Musikern mit langem musikalischem Training zu ähnlichen Veränderungen. Untersuchungen am Menschen haben darüber hinaus ergeben, daß corticale Reorganisation mit veränderter Wahrnehmung und verändertem motorischem Verhalten einhergehen kann. So wurde schon Anfang der 1990er Jahre vermutet, daß die bei Amputierten häufig beobachtete Auslösung von Phantomempfindungen durch Berührung in den dem Amputationsareal benachbarten Gebieten das Wahrnehmungskorrelat corticaler Reorganisation sein könnte (Phantomglied). Es ließ sich schließlich zeigen, daß es z.B. bei einseitig Armamputierten zu einer Einwanderung des Mundareals in die Zone im primären somatosensorischen Cortex kommt, die vorher Zuflüsse aus dem Amputationsareal erhielt. Je größer diese Reorganisation ist, desto ausgeprägter ist auch der von den Amputierten empfundene Phantomschmerz. Reduziert man durch eine Plexusanästhesie den Phantomschmerz, reduziert sich analog auch die corticale Reorganisation. Bei etwa der Hälfte der Patienten tritt durch diese Manipulation keine Veränderung im Phantomschmerz auf, hier bleibt auch die corticale Reorganisation unverändert. Ähnliche, eher aversive sensorische Begleiterscheinungen corticaler Reorganisation fanden sich auch bei Patienten mit Tinnitus, wo die Verschiebung der Repräsentation der Tinnitusfrequenz in ein Gebiet außerhalb der tonotopen Karte (Tonotopie) eng mit der Stärke der Ohrgeräusche verbunden ist. Auch beim chronischen Rückenschmerz fand sich eine mit der Dauer der Chronifizierung zunehmende Größe der Repräsentation des betroffenen Körperareals. Man nimmt an, daß dieses somatosensorische Schmerzgedächtnis chronische Schmerzen mit aufrechterhalten und verstärken könnte. Auch der bei Amputierten häufig beobachtete Zusammenhang zwischen präamputativen Schmerzen und Phantomschmerz könnte auf den Aufbau eines derartigen Schmerzgedächtnisses zurückzuführen sein (Schmerz). Repetitive Bewegungen z.B. der Finger können zu einer "Verschmelzung" der einzelnen Finger einer Hand im corticalen Repräsentationsareal führen, die mit fokaler Dystonie oder mit Schmerzsyndromen der Skelettmuskulatur einhergehen können. – Corticale Reorganisationsprozesse können jedoch auch adaptive Wirkungen haben. So läßt sich bei Blindgeborenen beobachten, daß sie für Tastaufgaben wie auch beim Hören den durch visuelle Reize nicht mehr erregbaren visuellen Cortex benutzen und bei einer Störung der Verarbeitung in dieser Region durch transcranielle Magnetstimulation schlechtere Leistungen aufweisen. Auch in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall ließ sich tierexperimentell wie auch in Untersuchungen an Patienten nachweisen, daß hier adaptive Reorganisationsprozesse auftreten und die Funktionserholung vermitteln. Diese Befunde haben eine wichtige Bedeutung für die Neurorehabilitation, da sich durch Methoden der Beeinflussung der corticalen Reorganisation möglicherweise neue Rehabilitationsverfahren entwickeln lassen. So ließ sich zeigen, daß der Phantomschmerz und die corticale Reorganisation vermindert sind, wenn die Patienten myoelektrische Prothesen tragen, die durch direkte Stimulation und propriozeptives wie auch visuelles Feedback dem Gehirn neuronale Aktivität aus dem amputierten Glied suggerieren. Ein sensorisches Diskriminationstraining am Stumpf führte ebenfalls zu einer Verminderung der corticalen Reorganisation und des Phantomschmerzes. Bei Patienten mit fokaler Dystonie konnten durch ein Verhaltenstraining, in dem einzelne Finger in der Bewegungsfähigkeit eingeschränkt und andere trainiert wurden, wieder normale Bewegungen durchzuführen, die Dystonie und auch die corticale Reorganisation positiv beeinflußt werden. Ähnliche positive Effekte fanden sich auch bei einer Kombination aus Bewegungseinschränkung des intakten Armes und Verhaltenstraining des betroffenen Armes bei Patienten mit chronischen motorischen Funktionseinschränkungen nach einem Schlaganfall. Auch pharmakologische Interventionen beeinflussen die Reorganisation und damit einhergehende sensorische und motorische Phänomene. So konnte gezeigt werden, daß sowohl die Gabe von GABA-Agonisten wie auch die Gabe von NMDA-Rezeptor-Antagonisten Reorganisationsprozesse verhindern und evtl. auch rückgängig machen kann. Dies könnte eine wichtige Bedeutung für die Prävention von Schmerzen nach chirurgischen Eingriffen wie z.B. Amputationen haben. Die Forschung konzentriert sich derzeit auf die Aufklärung der Mechanismen der corticalen Reorganisation und die Weiterentwicklung und Überprüfung von neuen therapeutischen Ansätzen. Des weiteren stellt sich die Frage, ob vergleichbare Reorganisationsprozesse in präfrontalen und subcorticalen Strukturen mit affektiven und motivationalen Störungen wie Angst, Depression oder Sucht einhergehen und sich auch hier neue Interventionsmöglichkeiten entwickeln lassen.

H.F.

Lit.: Jones, E.: Cortical and subcortical contributions of activity-dependent plasticity in primate somatosensory cortex. Annual Review of Neuroscience 2000. Kaas, J.H.: The reorganization of sensory and motor maps after injury in adult mammals. In: Gazzaniga, M.S. (Ed.): The new cognitive neurosciences. 2nd ed. Boston 2000. Recanzone, G.H.: Cerebral cortical plasticity: Perception and skill acquisition. In: Gazzaniga, M.S. (Ed.): The new cognitive neurosciences. 2nd ed. Boston 2000.

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