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Integrale: Revolution in der Analysis

Ein Integral auszurechnen, kann schwierig sein. Besonders, wenn es um komplizierte Funktionen geht. Mathematiker haben einen revolutionären Weg gefunden, Integrale durch Ableitungen zu ersetzen.
Überraschung in der Analysis

In der Oberstufe lernen Schülerinnen und Schüler die grundlegenden Werkzeuge der Analysis kennen: das Ableiten und das Integrieren. Man braucht sie für eine der Hauptaufgaben der Mathematik: für das Vermessen geometrischer Körper. Möchte man etwa den Flächeninhalt einer komplizierten zweidimensionalen Figur berechnen, braucht man dafür ein Integral.

Während es dank griffiger Regeln kein Problem ist, komplizierte verschachtelte Funktionen abzuleiten, gestaltet sich das bei der Integration wesentlich schwieriger. Denn dabei handelt es sich um eine Art umgekehrte Ableitung: Um die Stammfunktion zu ermitteln, muss man sich überlegen, welche Terme abgeleitet die zu integrierende Funktion ergeben. Solange man es mit einfachen Polynomen wie f(x) = x oder f(x) = 3x2 + 4x5 zu tun hat, ist die Aufgabe schnell bewältigt. Doch sobald man sich anspruchsvolleren Fällen wie f(x) = sin(x)/x · sin(x/3)/x widmet, wird es schwieriger.

Wenn man etwa das Produkt mehrerer Terme integrieren möchte, kann man die partielle Integration anwenden – was allerdings bei mehrmaligen Wiederholen ziemlich aufwändig wird. Darüber hinaus gibt es weitere »Tricks« wie die Anwendung der Substitutionsregel, die manchmal zum Erfolg führt. Wenn all das scheitert, kann man auf praktische Handbücher zurückgreifen, die Integrationstabellen enthalten, oder man nutzt algebraische Computerprogramme wie Maple oder Mathematica. Diese können Integrale nicht nur numerisch berechnen (also einen Zahlenwert durch Näherungsverfahren ausgeben), sondern sogar die exakten Stammfunktionen liefern. Wenn der zu integrierende Ausdruck jedoch zu kompliziert wird, scheitert auch die Software.

Integration durch Differenziation

Doch die Mathematiker Achim Kempf und David M. Jackson von der University of Waterloo in Kanada haben 2014 zusammen mit Alejandro H. Morales von der University of Massachusetts Amherst eine neue Methode gefunden, um Integrale exakt zu berechnen – und das ausschließlich mit Hilfe von Ableitungen:

\[ \int_a^b f(x) dx = \lim_{\epsilon \to 0}\ f\left(\frac{d}{d \epsilon}\right) \frac{e^{\epsilon b}-e^{\epsilon a}}{\epsilon} \]

Da die Ableitung die wesentlich einfachere Operation ist, eröffnet das ungeahnte Möglichkeiten. Das algebraische Computerprogramm Maple hat den Ansatz in der 2019 erschienenen Version bereits implementiert und kann einige Berechnungen dadurch deutlich schneller durchführen als zuvor. Zudem lassen sich auf diese Weise Stammfunktionen von komplizierten Ausdrücken berechnen, die sonst die Laufzeit herkömmlicher Software überschreiten – für die man also sonst kein Ergebnis erhalten würde.

Riemann- vs. Lebesgue-Integral | Es gibt verschiedene Methoden, um ein Integral zu definieren. Die bekanntesten, das Riemann- und das Lebesgue-Integral, bauen beide auf der Zerlegung in Intervalle auf – einmal waagerecht und einmal senkrecht. Oben (blau) das Riemann-Integral und unten (rot) das Lebesgue-Integral.

Überraschend ist allerdings, dass der neue Ansatz nicht schon viel früher entwickelt wurde. Schließlich legten Leibniz und Newton bereits im 17. Jahrhundert die Grundsteine der modernen Analysis. Seitdem haben sich Integration und Differenziation als nützliches Werkzeug erwiesen, das weit über die Mathematik hinaus Anwendung findet. Ob in den Ingenieurwissenschaften, der Wirtschaft oder im Design – spätestens wenn man Objekte vermessen möchte, braucht man Integrale und Ableitungen. Dass sich das komplizierte Integral komplett durch Ableitungen ersetzen lässt, erschien womöglich zu schön, um wahr zu sein. Dabei ist die Herleitung recht einfach.

Eine unerwartete Überraschung

Kempf und seine Kollegen waren darauf gestoßen, als sie sich einer wesentlich schwierigeren Aufgabe widmeten: dem Pfadintegral der Quantenfeldtheorie. Obwohl es zahlreichen Berechnungen zu Grunde liegt, ist es aus mathematischer Sicht mehr als fragwürdig: Häufig ist unklar, ob das in der Physik ausgedrückte Pfadintegral überhaupt einen endlichen Wert ergeben kann. Kempf und Co. versuchten daher, die Operationen zu vereinfachen – und stießen dabei auf ein Ergebnis, das nur noch von Ableitungen abhing.

Als sie ihr Resultat veröffentlichen wollten, waren auch die Gutachter überrascht. Sie fanden keinen Fehler, hatten aber einen Einwand: Wenn der Ansatz richtig sei, müsse er sich auch auf gewöhnliche Integrale anwenden lassen. Tatsächlich sprach nichts dagegen: Die Physiker und Mathematiker übertrugen ihre Methode auf den viel einfacheren Fall eines gewöhnlichen Integrals und landeten bei der oben genannten Formel. Möchte man einen komplizierten Ausdruck integrieren, kann man sich stattdessen also nur auf dessen Ableitungen konzentrieren.

Die Methode hat allerdings eine Einschränkung: Sie funktioniert nur für Funktionen, die sich als unendliche Reihe, eine so genannte Potenzreihe, darstellen lassen. Das ist beispielsweise für glatte Funktionen der Fall: solche, die keine Knicke oder Unterbrechungen aufweisen und sich daher beliebig oft ableiten lassen. Derartige Funktionen kann man durch Polynome annähern, indem man sie als unendliche Summe von Polynomen ausdrückt, wobei ak reelle Zahlen sind:

\[ f(x) = \sum_{k=0}^\infty a_k x^k \]

Nun bedient man sich eines Tricks, den Fachleute aus der Mathematik und Physik gerne nutzen: Man fügt eine »intelligente Eins« ein. Das heißt, man nimmt einen komplizierten Ausdruck, in diesem Fall \( \lim_{\epsilon \to 0} e^{\epsilon x} =1 \) (jede Zahl hoch null ergibt eins), und fügt ihn in eine Gleichung ein, ohne dass er deren Wert verändert:

\[ f(x) = \sum_{k=0}^\infty a_k x^k = \lim_{\epsilon \to 0} \sum_{k=0}^\infty a_k x^k e^{\epsilon x} \]

Damit lässt sich dieser Term mit Hilfe von Ableitungen der Exponentialfunktion umschreiben. Ziel ist es, die Faktoren xk aus der Gleichung zu ersetzen. Die Form sieht dann zwar komplizierter aus, erweist sich aber als äußerst hilfreich, um anschließend das Integral zu vereinfachen. Dabei ist die praktische Eigenschaft entscheidend, dass die Ableitung der Exponentialfunktion wieder die Exponentialfunktion ist:

\[ f(x) = \lim_{\epsilon \to 0}\sum_{k=0}^\infty a_k x^k e^{\epsilon x} = \lim_{\epsilon \to 0}\sum_{k=0}^\infty a_k \left(\frac{d}{d \epsilon}\right)^k e^{\epsilon x}\]

Mit jedem Ableiten der Exponentialfunktion nach ε erhält man gemäß der Kettenregel ein x als Faktor. Damit ist man schon fast am Ziel. Denn wie sich herausstellt, kann man die unendliche Reihe wieder in die ursprüngliche Funktion f umschreiben. Allerdings ändert sich dabei das Argument: Die Potenzreihe hängt nicht mehr von x ab, sondern von der Ableitung nach ε :

\[ f(x) = \lim_{\epsilon \to 0}\sum_{k=0}^\infty a_k \left(\frac{d}{d \epsilon}\right)^k e^{\epsilon x} = \lim_{\epsilon \to 0} f \left(\frac{d}{d \epsilon}\right) e^{\epsilon x} \]

Damit ist man schon am Ziel. Indem man diese Funktion in ein Integral einsetzt, kann man die Vereinfachungen vornehmen, um die Integration vollständig loszuwerden. Denn f hängt nicht mehr von der Integrationsvariablen x ab und kann somit aus dem Integral herausgezogen werden. Man muss nur noch über eine Exponentialfunktion integrieren – dem denkbar einfachsten Argument eines Integrals:

\[ \int_a^b f(x) dx = \lim_{\epsilon \to 0} f \left(\frac{d}{d \epsilon}\right) \int_a^b e^{\epsilon x} dx = \lim_{\epsilon \to 0} f \left(\frac{d}{d \epsilon}\right) \frac{e^{\epsilon b}-e^{\epsilon a}}{\epsilon} \]

Der komplizierte Teil des Integrierens lässt sich auf diese Weise durch eine Ableitung ersetzen. Die Schwierigkeit der Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, was f(d/dε) ist. Hierbei hilft, dass sich f als Potenzreihe umschreiben lässt: \(\sum_{k=0}^\infty a_k \left(\frac{d}{d \epsilon}\right)^k \). Das heißt, man erhält Terme höherer Ableitungen, angewandt auf den Ausdruck \(\frac{e^{\epsilon b}-e^{\epsilon a}}{\epsilon}\).

Man kann sich zum Beispiel fragen, was herauskommt, wenn f eine Exponentialfunktion ist. Anders ausgedrückt: Was ergibt ed/dε angewandt auf eine beliebige differenzierbare Funktion g(ε)? Wie sich herausstellt (siehe Kasten weiter unten), kommt dabei nichts anderes heraus, als eine Verschiebung der Funktion g: ed/dεg(ε) = g(ε+1).

Da sich viele Funktionen (etwa der Sinus, der Kosinus oder Hyperbelfunktionen) durch Exponentialfunktionen ausdrücken lassen, kann man deren Integrale mit der neuen Methode sehr schnell berechnen – selbst wenn man viele von ihnen miteinander verknüpft. Wo sonst immer wieder die partielle Integration zum Einsatz kommt, kann man nun stattdessen geschickt die Ableitungen berechnen.

Auch wenn der inzwischen über acht Jahre alte Ansatz noch größtenteils unbekannt ist, hat er sich schon in einigen Situationen bewährt. Kempf und seine Kollegen konnten damit nicht nur gewisse Berechnungen von Pfadintegralen vereinfachen oder den Zusammenbruch wiederkehrender Muster in Borwein-Integralen erklären, sondern auch mathematischer Software wie Maple ein neues Werkzeug liefern, um Integrationen schneller durchzuführen. Jetzt muss die neue Methode bloß noch zu Studentinnen und Studenten durchdringen – es könnte ihre Arbeit erheblich erleichtern.

Ableitung als Verschiebung

Um zu berechnen, wie sich die Exponentialfunktion einer Ableitung auf eine Funktion g auswirkt, braucht man die Potenzreihe von ex. Deren Koeffizienten ak entsprechen 1/k!, wobei das Ausrufezeichen für die Operation der Fakultät steht:

\[ e^{d/d \epsilon} g(\epsilon) = \sum_{k=0}^\infty \frac{1}{k!} \frac{d^k}{d\epsilon^k} g(\epsilon)\]

Nun kann man ausnutzen, dass sich die Funktion g(ε) ebenfalls als unendliche Reihe schreiben lässt:

\[ e^{d/d\epsilon}g(\epsilon) = \sum_{k=0}^\infty \frac{1}{k!} \frac{d^k}{d\epsilon^k} \sum_{n=0}^\infty a_n \epsilon^n \]

Man hat also zwei unendlich lange Summen, die man theoretisch nacheinander ausführen muss. Um das Ganze übersichtlicher zu gestalten, kann man die k-te Ableitung nach ε für g(ε) ausführen:

\[ \frac{d^k}{d\epsilon^k} g(\epsilon) = \sum_{n=0}^\infty a_n \frac{d^k}{d\epsilon^k} \epsilon^n = \sum_{n=0}^\infty a_n \frac{n!}{(n-k)!} \epsilon^{n-k}\]

Der letzte Term erinnert an Binomialkoeffizienten, die man erhält, wenn man Ausdrücke der Form (a + b)n berechnet. Das ergibt nämlich: \( (a+b)^n =\sum_{k=0}^n \frac{n!}{k!(n-k)!} a^kb^{n-k} \). Indem man diesen Zusammenhang nutzt, kann man die vorherigen Gleichungen umschreiben:

\[ e^{d/d\epsilon}g(\epsilon) = \sum_{n=0}^\infty a_n (\epsilon +1)^n = g(\epsilon + 1)\]

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