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Umweltkatastrophe: Die große Ölpest

Ein großer Ölteppich treibt vor Brasilien auf dem Meer und bedroht viele Tier- und Pflanzenarten. Die Regierung ist ratlos, woher er kommt, und bleibt passiv. Stattdessen werden weitere Ölfelder versteigert – was die Gefahr künftiger Katastrophen nur erhöht.
Ölpest in Brasilien

Mit Superlativen sparte die Regierung Brasiliens nicht: Die »Megaversteigerung« von Ölfeldern mehrere hundert Kilometer südlich der brasilianischen Stadt Rio de Janeiro sollte den öffentlichen Kassen Brasiliens Milliarden Einnahmen einbringen und die Entwicklung des brasilianischen Ölsektors beschleunigen. Der Bund hoffte, mit dem Verkauf von vier »Pré-Sal«-Gebieten im atlantischen Santos-Becken 106,5 Milliarden Reais, umgerechnet 23,5 Milliarden Euro, einzunehmen. Wären alle Blöcke vergeben worden, wäre dies nach der Vorstellung von Brasiliens Regierung der höchste Betrag gewesen, der jemals in einer Versteigerungsrunde von Ölfördergebieten erzielt wurde.

Was die Versteigerung vermeintlich so besonders machte und die Blöcke so wertvoll, ist die Gewissheit, dass dort bereits Öl gefördert werden kann: Petrobras hat die Gebiete schon erkundet. Ein Gesetz gewährte dem brasilianischen halbstaatlichen Konzern 2010 das Recht, die bis zu fünf Milliarden Barrel Öl aus den Tiefen des Atlantiks unter einer dicken Salzschicht (weshalb die Brasilianer von »Pré-Sal«, vor dem Salz, sprechen) zu fördern. Doch dort dürfte die zwei oder sogar dreifache Menge, bis zu 15 Milliarden Barrel, lagern. Diese Differenz ging nun in die Versteigerung.

Nicht einmal die Ölpest, die sich im Nordosten Brasiliens weiter ausbreitet, konnte die Versteigerung verhindern, auch wenn das Ergebnis mit umgerechnet 15,5 Milliarden Euro Einnahmen geringer ausfiel als erwartet – nur weil Petrobras beim Mindestgebot zuschlug, wurde die Auktion nicht ein völliger Reinfall.

Rätselhafte Quelle der Ölpest

Dabei hat die große Ölpest inzwischen auch den Bundesstaat Rio de Janeiro erreicht. Begonnen hatte alles Anfang September 2019, als an den Küsten des Nordostens die ersten Ölklumpen angeschwemmt wurden. Mehr als 720 Orte in den neun Bundesstaaten der Region und im weiter südlich gelegenen Espírito Santo sind nach der jüngsten Erhebung des Instituto Brasileiro do Meio Ambiente (Ibama, Brasilianisches Umweltinstitut) inzwischen betroffen. 72 Prozent der Küste des Nordostens sind demnach seit dem Beginn der Ölpest verschmutzt worden. Küstenabschnitte auf einer Strecke von mehr als 2000 Kilometern am Atlantischen Ozean zwischen den Bundesstaaten Maranhão und Bahia sind verschmutzt. Manche Bundesstaaten riefen gar den Notstand aus, ohne dass die Regierung wirklich eine Ahnung zu haben scheint oder haben will, woher das Öl stammt oder wie der Ölpest beizukommen ist.

Fast jeden Tag veröffentlichen brasilianische Medien neue Nachrichten über weitere Orte – Touristenziele, Naturparks, Korallenriffe, Fischgründe –, die die Ölpest verschmutzt, zuletzt die Inselgruppe Abrolhos, der erste Meerespark Brasiliens und eine der artenreichsten Regionen im Südatlantik. Und sie spekulieren darüber, woher das Öl stammen könnte. Die Bundespolizei hatte jüngst den Tanker »Boubalina», der unter griechischer Flagge fährt, verantwortlich gemacht und Büroräume in Rio de Janeiro durchsucht; die Eigentümerfirma »Delta Tankers« wies die Verantwortung jedoch zurück. Doch woher stammt es dann?

Zunächst hatte Präsident Jair Bolsonaro davon gesprochen, dass »etwas Verbrecherisches« passiert sei, und nahm Venezuela ins Visier. Zwischenzeitlich sind Fässer des Shell-Konzerns aufgetaucht – doch der Konzern ließ verlauten, der Inhalt dieser Fässer habe nichts mit der aktuellen Katastrophe zu tun. Umweltminister Ricardo Salles beschuldigte anfangs indirekt die Umweltorganisation Greenpeace: Er twitterte ein Foto von einem Greenpeace-Schiff mit dem Text: »Zufälle gibt's im Leben … Es scheint, als ob das Schiff just in der Zeit des Auslaufens des venezolanischen Öls in internationalen Gewässern vor der Küste Brasiliens gefahren ist.« Das ähnelt dem Muster von Präsident Bolsonaro, der während der Waldbrände im Amazonasgebiet Nichtregierungsorganistionen beschuldigt hatte, dass diese die Feuer gelegt hätten.

Eine der größten Umweltkatastrophen Brasiliens

Sowohl Wissenschaftler wie der Geowissenschaftler Tiago Marinho de Souza Lima von der Universidade Federal de Pernambuco und der Geowissenschaftler Luciano Seixas Chagas, der mehr als 30 Jahre bei Petrobras arbeitete, als auch Politiker wie die Ibama-Koordinatorin Fernanda Pirillo oder der Unternehmer Roberto Castello Branco, Petrobras-Präsident, haben die Ölpest als eine der größten Umweltkatastrophen Brasiliens in der jüngeren Zeit eingeschätzt. Chagas hält sie sogar für größer als die Ölpest im Golf von Mexiko 2010, die durch das Unglück von »Deepwater Horizon« ausgelöst wurde.

Die Regierung habe früh ausgeschlossen, dass das Öl in Brasilien hergestellt oder gehandelt worden sei, auch weil es »fester und dicker ist«, wie der Geowissenschaftler Tiago Marinho von der Universidade Federal de Pernambuco erklärt: Es gleicht venezolanischem Öl.

»Die Ölindustrie ist mit Risiken für die Umwelt verbunden«Adriano Pires

Der Nordosten Brasiliens mit seinen weiten Sand- und Palmstränden ist ein beliebtes Reiseziel, die deutsche Fußballnationalmannschaft schlug hier während der Weltmeisterschaft 2014 ihr Lager auf. Aber der Nordosten ist auch Ölfördergebiet; vor Aracajú etwa, der Hauptstadt Sergipes, sind ebenfalls Bohrinseln zu sehen. Brasilien gehört zu den zehn Ländern mit den größten Erdölreserven auf der Welt. »Das hat nichts mit der Ölproduktion zu tun«, sagt Adriano Pires, Direktor des Brasilianischen Zentrums für Infrastruktur. »Es habe ja bereits geheißen, dass ein Schiff unter einer griechischen Fahne schuld gewesen ist. Die Ölindustrie ist mit Risiken für die Umwelt verbunden.«

Protest gegen die Ölverschmutzung in Farol da Barra | Hunderte Dörfer sind von der Ölpest betroffen. Vor Ort regt sich der Widerstand.

Als die Agência Nacional de Petróleo (ANP, Nationale Ölagentur) bei der bis dato letzten Versteigerung im Oktober Blöcke in der Nähe der Inselgruppe Abrolhos anbot, schlug niemand zu – wahrscheinlich aus Angst vor einem Umweltunfall, der das Ende eines Unternehmens bedeuten kann. Die Ölförderung in der Region würde Korallenriffe, Wale, Schildkröten, Tölpel, Krabben und die Existenz von Fischern bedrohen. Während der Anwalt Miguel Neto sich vor allem Sorgen machte, dass der Preis, der bei der Versteigerung vor Rio de Janeiro veranschlagt gewesen war, zu hoch gewesen ist, richtet sich für Umweltschützer der Blick auf die Regierung, die Versteigerungen von Öl bevorzugt, ohne sich Zeitungsberichten zufolge wegen Umweltkatastrophen wie der Ölpest im Nordosten Sorgen zu machen.

»Das Öl hört nicht auf, die Strände zu erreichen, trotz dieser endlosen Diskussion darüber, woher es stammt. Alles weist darauf hin, dass es kein Schiff ist, weil die Quelle nicht so weit von der brasilianischen Küste entfernt ist. Es gibt Anzeichen, dass es sich dabei um Bohrlöcher handelt, die nicht gewartet wurden und nicht geschlossen werden können. Auf jeden Fall kommt es von der Erdölindustrie«, sagt ein Techniker einer weltweit anerkannten Umweltorganisation, der angesichts des gegenüber Umweltschützern feindlichen Klimas in Brasilien nicht namentlich genannt werden will (Name ist der Autorin bekannt, Anm. d. Red.).

Nächste Katastrophe vorprogrammiert

Jair Bolsonaro hatte schon vor seiner Wahl angekündigt, Umweltkontrollen zu lockern; nachdem er in das Amt gekommen war, strich das Umweltministerium sein Budget für den Kampf gegen den Kimawandel fast komplett. Mehr als 100 Millionen Brasilianer leben mit weniger als dem Mindestlohn, da herrschen ohnehin andere Prioritäten. Neben der Versteigerung der Offshoreölfelder hat die Regierung vor, die Produktion in der kommenden Dekade zu verdoppeln, so dass Brasilien unter die fünf größten Ölnationen der Welt aufsteigt. Die nächste Katastrophe ist laut Umweltaktivisten bereits vorprogrammiert, wenn die Regierung nicht auch in Vorsorge- und Notfallmaßnahmen investiert.

Die Bedenken von Wissenschaftlern und Umweltschützern richten sich vor allem gegen Bolsonaro und Umweltminister Salles. Bei der Ölpest im Nordosten hätte die Regierung mit einer schnellen und koordinierten Aktion – inklusive Ministerien, Bundesstaaten, Gemeinden, der Umweltbehörde Ibama und anderen Einrichtungen – vermeiden können, dass das Öl die Strände erreicht, so die Kritiker. Nämlich, indem sie einen Notfallplan aktiviert, den ein Dekret von 2013 festgelegt hat. »Die Regierung hätte die Schäden kleinhalten können«, sagt der Geowissenschaftler Tiago Marinho von der Bundesuniversität von Pernambuco. Die Regierung versichert Medien gegenüber, dass sie ihre Arbeit machen würde, und behauptet, dass sie den Notfallplan bereits im September aktiviert und schon 900 Tonnen Öl beseitigt hätte.

»Das Umweltministerium sollte die oberste Autorität bei den Reinigungsarbeiten sein. Aber der Eindruck ist, dass Führung fehlt«Suely Vaz de Araújo

Aber sie setzte den Plan der Zeitung »Folha de S. Paulo« zufolge erst mehr als 40 Tage später in Kraft, nachdem die ersten Ölflecken aufgetaucht waren. Staatsanwälte, die die neun Bundesstaaten des Nordostens vertreten, wollen gegen den Bund klagen. Suely Vaz de Araújo, ehemaliger Präsident des Ibama, sagte der Zeitung »El País«: »Das Umweltministerium sollte die oberste Autorität bei den Reinigungsarbeiten sein. Aber der Eindruck ist, dass Führung fehlt. Die Bevölkerung kann und muss helfen, aber sie muss angeleitet werden.« Angesichts der Langsamkeit der offiziellen Stellen haben sich tausende Bürger über Whatsapp-Gruppen oder Initiativen von NGOs selbst organisiert und versuchen, den Sand und das Wasser mit ihren eigenen Händen zu reinigen, oft ohne jeden oder nur mit einem einfachen Schutz.

»Die Leute, die am und vom Meer leben, sind bereit, mit bloßen Händen ins Öl zu fassen. Wir geben ihnen die Mindestaurüstung«, sagt die Fischereiingenieurin Lica Sousa von der Organisation »Maracuípe Vive«, außer Handschuhen etwa auch Stiefel und Masken. Die Studentin Camille Azevedo sagt aber: »Es sind mehr Personen, als wir Material haben. Der Staat ist bei dem hier nicht vorne dran. Wenn die Zivilgesellschaft nicht wäre, wären die Strände immer noch voll mit Öl.«

Freiwillige Helfer vergiften sich

Viele der Freiwilligen mussten wegen Vergiftungssymptomen wie Kopfschmerzen, Übelkeit, Atembeschwerden oder Hautausschlag ins Krankenhaus, langfristig ist das Benzol Krebs erregend. Auch wenn sie das Öl, das die Strände erreicht, einsammeln, bleiben chemische Komponenten im Wasser, ohne dass man diese mit bloßem Auge sieht.

Die Umweltkatastrophe wird wahrscheinlich noch in den kommenden Jahren Auswirkungen haben; das Öl kann sowohl die menschliche Gesundheit wie auch das Ökosystem des Meeres dauerhaft schädigen. Der unmittelbare Kontakt führe dazu, dass Meerestiere wie Korallen, Muscheln oder Fische ersticken, so Forscher: »Wegen der Menge an Öl ist es schwierig, die Riffstruktur zu retten. Das, was man am Strand als tot wahrnimmt, ist ein kleiner Teil, im Verhältnis eins zu zehn«, sagt der Biologe André Maia, der im Rahmen seines Projekts »Trilogiabio« Wildtiere aufpäppelt und wieder aussetzt. Weitere Tierarten, die nicht sterben, nehmen das Benzol oder andere Stoffe auf; die ganze Nahrungskette, an deren Ende der Mensch steht, kann vergiftet werden. Weil die Fischzucht und der Tourismus, auf denen die Wirtschaft in weiten Teilen des Nordostens beruht, bedroht sind, kann sich die ökologische leicht in eine ökönomische und soziale Krise ausweiten.

Als neue Ölflecken in Pernambuco und Sergipe aufgetaucht sind, sagte Vizepräsident Hamilton Mourão, der in Abwesenheit von Präsident Jair Bolsonaro die Regierungsgeschäfte führte laut dem Nachrichtenportal G1, dass es keinen verschmutzen Strand im Nordosten mehr gebe. Tourismusminister Marcelo Álvaro Antônio hatte sich in Pernambuco kurz davor mit Vertretern des Tourismussektors getroffen, wo außer Itapuama auch Traumstrände wie Carneiros, Porto de Galinhas, Maracaípe und Muro Alto liegen. Er hat nach Medienberichten die Füße ins Wasser gestreckt und garantiert, dass die ehemals verschmutzten und gereinigten Strände schon wieder zum Baden geeignet wären. Dabei ist noch kein Ende absehbar.

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