Direkt zum Inhalt

Globale Impfinitiative COVAX: Ein Armutszeugnis für die Welt

Die weltweite Verteilung von Impfstoffen gegen Covid-19 bleibt deutlich hinter den Zielen der WHO zurück. Ein Ende der Pandemie ist so nicht schnell zu erwarten.
Eine Frau wird im Westen der Stadt Caracas, Venezuela, mit dem in China von Sinopharm hergestellten Präparat gegen Covid-19 geimpft.

Knapp zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie hat mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung mindestens eine Impfdosis gegen Covid-19 erhalten: 7,71 Milliarden Impfdosen sind nach Angaben von »Our World in Data« Mitte November 2021 verabreicht worden. Das ist eine enorme wissenschaftliche und logistische Leistung. Leider dämpft ein Blick auf die Details aber eine allzu große Begeisterung – denn wie gehofft und geplant läuft die Verteilung keineswegs.

So haben zum Beispiel nur rund fünf Prozent der Impfungen in Länder mit geringem Einkommen stattgefunden. Dabei wäre gerade hier Hilfe von außen besonders nötig: Staaten wie Afghanistan und Syrien leiden unter kriegerischen Konflikten, Haiti hat mit den Folgen eines schweren Erdbebens zu kämpfen. Besonders verheerend ist die Lage in Afrika, wo der Anteil der vollständig Geimpften nur knapp sieben Prozent beträgt. In Ländern wie Nigeria oder Äthiopien sind gerade einmal rund drei Prozent der Bevölkerung geimpft – auch weil Impfstoff knapp ist.

Die WHO sowie Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen prangern die eklatante Ungerechtigkeit beim Zugang zu Impfstoffen seit Monaten an. Am Ende sorge das auch dafür, dass die Pandemie die Welt länger begleiten wird. Der Generaldirektor der WHO Tedros Ahanom Ghebreyesus kritisiert dabei die reichen Industrienationen ebenso wie die Impfstoff produzierenden Pharmaunternehmen: Das Verhalten reicher Nationen, die trotz der Lage in den ärmeren Ländern große Impfstoffvorräte aufbauen und mit Drittimpfungen starten, sei moralisch verwerflich und epidemiologischer Wahnsinn. Mitte Oktober 2021 hat Tedros einen Fünf-Punkte-Plan vorgelegt, der für eine gerechtere Impfstoffverteilung sorgen soll.

Dabei seien doch »Impfstoffe der Königsweg raus aus der Pandemie«, sagt auch Jürg Utzinger, der Direktor des schweizerischen Instituts für Tropen und Public Health. Und folglich werde die Pandemie erst dann beendet sein, »wenn alle Menschen mit Impfstoffen versorgt wurden«. Zudem sei eine schnelle Durchimpfung zentral, damit möglichst wenige neue Virusvarianten entstehen und sich ausbreiten. Dies geschehe vor allem dort »wo ein reges Infektionsgeschehen herrscht, also vor allem unter Ungeimpften«, erklärt Utzinger und betont: »In unserer hoch vernetzten Welt stellen neue Varianten überall und jederzeit eine Bedrohung dar.«

WHO-Generaldirektor Tedros erinnert an die COVAX-Initative und appelliert an die reichen Nationen, ihre Zusagen einzuhalten und womöglich zusätzliche Lieferungen zu unterstützen. COVAX war von der WHO und den Impfstoffallianzen GAVI und CEPI angestoßen worden: Das Programm soll sicherstellen, dass alle Länder gleichberechtigt Zugang zu Covid-19-Impfstoffen haben. Im Juni 2021 hatten die Teilnehmer des G7-Gipfeltreffen sich verständigt, eine Milliarde Impfstoffdosen an ärmere Länder zu liefern; entweder direkt oder über das COVAX-Programm. Bislang seien aber nur 15 Prozent der zugesagten Impfstoffmenge eingetroffen, schreibt Tedros.

Woran scheitert die Impfstofflieferung?

Das betrifft auch Deutschland. Die nun scheidende Bundesregierung wollte bis Ende des Jahres 100 Millionen Dosen Impfstoff an COVAX unentgeltlich abgeben. Das entspricht in etwa der Menge an Impfstoff, die in Deutschland bis Mitte November 2021 verimpft wurde. Tatsächlich überstellt wurden bislang knapp 20 Millionen Dosen, weitere 48 Millionen Dosen befinden sich in Auslieferung. Allerdings: »An primärer Stelle steht jedoch stets die Versorgung der Menschen in unserem Land mit Impfstoffen«, schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf Anfrage. Das Ziel von 100 Millionen Impfstoffdosen werde weiter angestrebt, die für Dezember geplante Abgabe von 5,8 Millionen Dosen Biontech-Impfstoff auf Grund der gestiegenen Nachfrage aber verschoben.

Die Idee hinter COVAX überzeugt: Alle Staaten der Welt bilden eine Solidargemeinschaft, in der die reichen für die armen bezahlen. Mit dem Geld werden Impfstoffe für alle gekauft und gerecht verteilt. Plan und Wirklichkeit entwickelten sich dann aber sehr bald auseinander. Die reichen Nationen schlossen schon direkte Lieferverträge mit den Herstellern ab, als die Impfstoffe noch in der Erprobung waren; so etwa die USA, die sieben Verträge unterzeichnete. Auch die EU sicherte sich eine halbe Milliarde Dosen. Diese Vertragspartner wurden später – als sich die Impfstoffe als wirksam und sicher erwiesen hatten – bevorzugt beliefert. Aber das verzögert bis heute ausreichenden Nachschub für das COVAX-Programm.

Und so hat COVAX rund 507 Millionen Impfdosen in 144 Länder ausgeliefert. Eigentlich sollten es bis Ende des Jahres weltweit etwa zwei Milliarden sein, die Initiative hat das Ziel aber vor Kurzem auf 1,4 Milliarden gesenkt – mit einem realistischen Blick auf Export- und Produktionsprobleme und langsame Genehmigungsverfahren. »Man hätte sich gewünscht, dass es stärkere und bessere Mechanismen gäbe, um mit anderen Ländern zu teilen«, sagt der Virologe Wolfgang Preiser von der Universität Stellenbosch in Südafrika. »Das Scheitern von COVAX ist ein Armutszeugnis für die moderne Welt.«

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Die Ursachen sind vielfältig. »Wir würden heute anders über COVAX reden, wenn Indien nicht mit einer so übermächtigen zweiten Welle zu kämpfen gehabt hätte«, ist sich Jürg Utzinger sicher. Denn Indien stoppte im April 2021 die Impfstoffexporte des Serum-Instituts, des größten Impfstoffherstellers der Welt, an COVAX – wegen des dringenden Bedarfs im Land selbst. Andere Hersteller außerhalb Indiens hatten Probleme, die Produktion hochzufahren.

Mittlerweile nimmt die Impfstoffproduktion immerhin Fahrt auf. Vor Kurzem ist ein indischer Totimpfstoff von der WHO nach erfreulichen Studienergebnissen als wirksam empfohlen worden, und möglicherweise folgt bald der erste proteinbasierte Impfstoff. Solche Fortschritte sind auch dringend notwendig, wenn die ehrgeizigen Impfziele der WHO eingehalten werden sollen: Bis Ende 2021 möchte sie 40 Prozent der Bevölkerung aller Länder vollständig impfen, bis Mitte 2022 70 Prozent. Dazu braucht es mindestens elf Milliarden Dosen Covid-19-Impfstoffe.

»Das Scheitern von COVAX ist ein Armutszeugnis für die moderne Welt«Wolfgang Preiser, Virologe

Dass sich die Lage in Zukunft entspannen wird, glaubt Uğur Şahin, der Mitgründer des Pharmaunternehmens Biontech. »Spätestens im Jahr 2022 wird es genug Impfstoff für jeden Menschen auf der Welt geben. Wir haben unsere Produktionskapazitäten enorm steigern können. In diesem Jahr werden wir in der Lage sein, drei Milliarden Dosen über unser Netzwerk herzustellen, und im nächsten Jahr, wenn die Nachfrage da ist, halte ich vier bis fünf Milliarden Dosen für machbar. Auch anderen Anbietern ist es gelungen, ihre Produktionsprobleme zu überwinden«, sagte Sahin dem Nachrichtenmagazin »Spiegel«.

Tom Frieden, der ehemaliger Direktor der US-Gesundheitsbehörde CDC, zweifelt noch daran, dass uns eine Flut an Impfstoffen bald helfen wird. In einem Kommentar in der »Washington Post« kritisiert er die optimistischen Annahmen im Detail: Etwa die Hälfte der weltweit bereits verabreichten Dosen seien mit den weniger wirksamen Impfstoffen von Sinopharm und Sinovac aus China vorgenommen worden. »Menschen, die mit weniger wirksamen Impfstoffen geimpft wurden oder mit Impfstoffen, deren Schutz nachlässt, insbesondere gegen Varianten, benötigen Auffrischungsimpfungen«, sagt Frieden dem US-Blatt. Außerdem könnten bei der unkontrollierten Ausbreitung neue Varianten auftauchen, die sich den Impfstoffen teilweise oder ganz entziehen, was wiederum Nachimpfungen erforderlich machen könnte.

Schadet das Boostern hier dem globalen Kampf gegen die Pandemie?

Vor diesem Hintergrund ist eine hitzige Debatte über Drittimpfungen in Gang gekommen. Kritiker wie Mike Ryan, der WHO-Direktor für globale Gesundheitskrisen, nimmt dabei kein Blatt vor den Mund: »Ein drittes Mal zu impfen ist so, als würde man jemandem, der bereits eine Schwimmweste hat, eine weitere Rettungsweste geben, während nebendran gerade jemand ertrinkt.« Die WHO hat sich positiv zur Drittimpfung der Risikogruppen geäußert, rät von Boostern für alle aber ab. Das unterstreicht auch Jürg Utzinger: »Sie breitflächig ab zwölf Jahren einzuführen, ist zurzeit – mit Blick auf die ganze Welt – absolut inkorrekt.« Denn selbst wenn es vielleicht zu Impfdurchbrüchen bei doppelt Geimpften kommen kann: Bei ihnen sei »die Gefahr einer schweren Erkrankung oder des Todes ganz stark reduziert. Es ist jetzt also absolut zentral dort voranzukommen, wo noch nicht geimpft wurde.«

Die Ständige Impfkommission in Deutschland hat das Boostern allerdings gerade empfohlen, zumindest für Menschen ab 18. Boostern hat Vorteile und das Problem ist komplex: »Betrachtet man die Situation rein infektionsbiologisch, dann lernen wir gerade, dass eine vollständige Immunisierung gegen die Delta-Variante aus drei Teilimpfungen besteht«, erklärt der Virologe Hartmut Hengel von der Universität Freiburg. Der Schutz vor einer Infektion sei nach zwei Impfungen rasch verflogen, was epidemiologisch relevant sei, weil Geimpfte das Virus auch unbemerkt übertragen könnten: »Um das Infektionsgeschehen zu bremsen, sind zweifellos drei Impfungen notwendig«, sagt Hengel. »Insofern kann man die Drittimpfung moralisch schon rechtfertigen. Aber es bleibt natürlich das Defizit in den anderen Ländern, denn dort braucht es ebenfalls ein dreiteiliges Impfprogramm.«

»Breitflächig ab zwölf Jahren zu Boostern ist mit Blick auf die ganze Welt derzeit absolut inkorrekt«Jürg Utzinger, Virologe

Dort, in den weniger reichen Staaten der Welt, spielen ohnehin auch andere Faktoren eine Rolle. »Es ist nicht nur eine reine Frage der Impfstoffmenge«, betont Preiser. Bei ihm in Südafrika, das schwer von der Pandemie getroffen wurde, sind 23 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Es könnten mehr sein, denn mittlerweile steht hier ausreichend Impfstoff zur Verfügung. »Genügend Impfstoff ist eine Voraussetzung, aber es braucht auch eine funktionierende Logistik. Manche afrikanischen Länder können etwa die Kühlkette für die mRNA-Impfstoffe nicht gewährleisten, es braucht Aufklärung und niederschwellige Angebote. Und es braucht Vertrauen in den Staat«, sagt der Virologe. Man könne daher nicht pauschal sagen, dass eine Drittimpfung in der EU automatisch einem Menschen in einem Entwicklungsland die Impfung wegnehme.

In einem Punkt stimmen alle überein: Um die Länder des globalen Südens unabhängiger zu machen, vor allem Afrika, müssen die Produktionskapazitäten dort ausgeweitet werden. So hat die WHO gemeinsam mit der COVAX-Initiative ein Technologietransferzentrum mit Sitz im südafrikanischen Kapstadt initiiert. »Die WHO führt derzeit Gespräche mit Moderna, um zu sehen, wie wir zusammenarbeiten können. Es gibt aber noch nichts Konkretes«, sagt Martin Friede, Leiter der Abteilung für Impfstoffforschung der WHO.

Die Pharmakonzerne stehen mittlerweile unter großem Druck, auf Patentrechte zu verzichten, um die Produktion in jenen Regionen zu fördern, die um Impfstoffe ringen. Moderna gab Anfang Oktober bekannt, eine mRNA-Impfstoffanlage in Afrika bauen zu wollen, in der jährlich bis zu 500 Millionen Impfstoffdosen hergestellt werden sollen. Biontech/Pfizer trafen im Juli eine Vereinbarung mit dem südafrikanischen Unternehmen Biovac, das bei der Herstellung von jährlich rund 100 Millionen Impfstoffdosen für Afrika helfen soll. Derweil verfolgt das WHO-Zentrum für Technologietransfer in Kapstadt die Entwicklung eines eigenen mRNA-Impfstoffs für Afrika. »Wenn wir Moderna oder Biontech dabei hätten, könnten wir in 18 Monaten einen zugelassenen Impfstoff entwickeln. Ohne sie wird es drei, vier Jahre dauern«, sagt Friede. Möglicherweise werde dann keine Notwendigkeit mehr für die Produktion eines Covid-Impfstoffs bestehen. »Wenn wir jedoch auf die nächste Pandemie warten, um mit dem Bau von Anlagen in diesen Ländern zu beginnen, wird es wieder einmal zu spät sein«, sagt Friede, »Wir müssen jetzt bauen, um für die Zukunft gerüstet zu sein.«

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.