Geometrie: Mathematiker entschlüsseln mit neuartigen Formen die Natur
Gábor Domokos verfolgt nicht den typischen Weg eines Mathematikers. Anstatt in abstrakte Welten abzutauchen und an völlig unvorstellbaren Gebilden zu forschen, faszinieren den Ungarn von der Technischen Universität Budapest all jene Objekte, die in der Natur auftauchen. »Mein Interesse an dem Thema begann vor acht Jahren«, erinnert sich der Mathematiker. An einem milden Herbsttag im Jahr 2016 stand er vor der Tür des Geophysikers Douglas Jerolmack in Philadelphia, mit einer verblüffenden Idee im Gepäck. Bei einem Spaziergang über einen Kiesplatz kam Domokos auf sein Anliegen zu sprechen: »Wie viele Flächen haben diese Steine durchschnittlich?«, fragte er seinen Kollegen. Diese harmlos anmutende Frage hatte Domokos zur Mathematik der Kachelungen geführt, ein Bereich, der ihn bis heute nicht loslässt und viele Überraschungen hervorgebracht hat.
Vier Jahre nach seinem Besuch in den USA entwickelte Domokos mit seinen Kolleginnen und Kollegen eine Theorie, wonach fast alle zerbröckelnden Gesteine sechs Seiten aufweisen. »Wie es aussieht, besteht die Welt aus Würfeln«, sagte er in einem 2021 bei »Spektrum« erschienenen Artikel – so ähnlich hatte es sich Platon bereits vor mehr als 2000 Jahren überlegt. Um diese These zu stützen, hatten die Forschenden etliche verschiedene natürliche Proben untersucht: von mikroskopischen Fragmenten über größere Gesteinsausschnitte bis hin zu Planetenoberflächen. Sie fanden immer wieder quaderförmige Gebilde vor. Und wenn die Objekte eine andere Form aufwiesen, konnte Domokos' Theorie auch das erklären. Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte der Mathematiker eine »Theorie von Mosaiken« entwickelt, die beschreibt, wie verschiedene Objekte zerbrechen.
Allerdings fußen alle Untersuchungen auf Objekten mit geraden Flächen oder Seiten: Polygone im Zweidimensionalen und Polyeder in drei Dimensionen. »Wir fanden bald heraus, dass es auch Mosaike mit gekrümmten Kanten gibt«, sagt Domokos. Diese sind in der Natur, vor allem in der Biologie, allgegenwärtig: Man findet sie vor, wenn man eine Zwiebel aufschneidet und die Querschnitte der einzelnen Schichten betrachtet; sie erscheinen in den Landflächen innerhalb eines Flussdeltas oder in den Schalen von Perlbooten.
Allerdings gab es bisher noch keine geometrischen Untersuchungen zu derartigen Flächen. Sie hatten noch nicht einmal eine klare Bezeichnung. Das haben Domokos und seine Kolleginnen und Kollegen nun geändert: Sie haben die neuen geometrischen Bausteine mit gekrümmten Seiten »soft cells« (deutsch: weiche Zellen) getauft. Als er diesen Namen prägte, sei ihm das gleichnamige britische Pop-Duo nicht bekannt gewesen, beteuert Domokos. »Es gibt keine absichtliche Verbindung dazu.« Zusammen mit seinem Team gelang es dem Mathematiker, Kachelungen mit »soft cells« zu untersuchen und damit die erstaunliche Geometrie von Perlbooten zu erklären. Ihre Ergebnisse haben sie im September 2024 im Fachjournal »PNAS« veröffentlicht.
Wie findet man die perfekte Kachel?
Möchte man ein Badezimmer neu fliesen, ist die Wahl der Kachelform meist klar vorgegeben. In Baumärkten finden sich fast nur viereckige Exemplare, in seltenen Fällen findet man vielleicht eine sechseckige Variante. Grund für die begrenzte Auswahl ist, dass es mit diesen beiden Formen denkbar einfach ist, eine Fläche lückenlos zu bedecken. Theoretisch sind aber auch ganz andere Formen denkbar. 2023 hatte der Hobby-Mathematiker David Smith Begeisterung in der Fachwelt ausgelöst, als er erstmals eine Kachel fand, mit der sich die Ebene lückenlos bedecken lässt – und zwar so, dass dabei niemals ein periodisches Muster entstehen kann.
Besonders überrascht waren Mathematiker und Mathematikerinnen damals, weil die Kachelform denkbar einfach ist. Die »Einstein-Kachel« ist ein simples 13-Eck, das an ein T-Shirt erinnert. Kurz darauf präsentierte Smith eine weitere Wunderkachel, die Spectre (deutsch: Geist) genannt wird und abgerundete Seiten besitzt. Damit ist diese Kachel kein Polygon mehr.
Mit ähnlichen Formen haben sich Domokos und seine Kolleginnen und Kollegen nun erstmals intensiv beschäftigt. Sie haben zunächst Polygone (Vielecke) und Polyeder (dreidimensionale Bausteine mit ebenen Flächen) untersucht, welche die Ebene beziehungsweise den Raum lückenlos ausfüllen können. Dann verformten sie deren Kanten beziehungsweise Seitenflächen, so dass sie gekrümmt sind. Die sich daraus ergebenden neuen Objekte nannten sie »soft cells«. »Dadurch betreten wir einen völlig neuen Bereich, in dem radikal andere geometrische Merkmale auftauchen«, schreiben sie in ihrer Arbeit.
Eine neue geometrische Welt
Die Fachleute entwickelten einen Algorithmus, der gewöhnliche Kachelungen mit Vielecken und Polyedern schrittweise abrundet und in Pflasterungen aus »soft cells« verwandelt. Damit wollten sie herausfinden, welche Anforderungen »soft cells« erfüllen müssen, um eine Ebene zu pflastern. Ebenso untersuchten sie die Eigenschaften von dreidimensionalen »soft cells« und die Möglichkeit, mit ihnen den dreidimensionalen Raum lückenlos auszufüllen. Vor allem interessierte sie, wie glatt ein Baustein dabei höchstens sein kann.
Denn tatsächlich begegnet man bei natürlich gewachsenen Strukturen tendenziell eher glatten Formen. »Es ist schwierig und energetisch kostspielig, spitze Ecken in physikalischen Zellen zu schaffen und aufrechtzuerhalten, da Oberflächenspannung und Elastizität von Natur aus dazu neigen, Unebenheiten zu glätten«, schreiben die Fachleute.
Sie stellten fest, dass die gekrümmten Kacheln weniger Ecken aufweisen können als die Polygone und Polyeder, aus denen sie hervorgehen. Und diese »soft cells« füllen dabei immer noch die Ebene oder den Raum lückenlos.
Doch in zwei Dimensionen kann man nicht sämtliche Ecken verschwinden lassen. Glättet man alle Kanten einer Kachel, ist es unmöglich, eine Ebene damit lückenlos zu bedecken. Wie die Forschenden herausfanden, müssen zweidimensionale »soft cells« mindestens zwei spitz zulaufende Ecken enthalten, die in einen Winkel von null Grad münden.
In der Natur gibt es zahlreiche Beispiele solcher minimalen »soft cells« mit nur zwei Spitzen. »Man findet sie nicht nur in natürlichen Mustern wie Muskelzellen, Muschelschalen und Streifen von Zebras«, schreiben die Fachleute. »Sie tauchen auch immer wieder in den Werken der visionären Architektin Zaha Hadid auf.«
Dreidimensionale Überraschung
In drei Dimensionen erwartete die Fachleute allerdings eine Überraschung. Dort ist es möglich, den Raum mit Grundbausteinen lückenlos zu füllen, die komplett ohne Spitzen und Ecken auskommen. Damit hatten sie nicht gerechnet, da eine zweidimensionale Kachelung aus einem Querschnitt einer dreidimensionalen hervorgehen kann. Und im Gegensatz zum zweidimensionalen Fall, bei dem es zahlreiche Beispiele für »soft cells« mit nur zwei Spitzen gibt, »kannten wir kein Beispiel im Dreidimensionalen« für Bausteine ohne Spitzen, sagt Domokos.
»Diese Vermutung war sehr, sehr schwer zu glauben. Und falls sie wahr wäre, würde das unsere Forschungsarbeit komplett umkrempeln«Gábor Domokos, Mathematiker
Aber dann äußerte seine Studentin, Krisztina Regős, eine erstaunliche Vermutung. »Wir wollten den Querschnitt der Schale von Perlbooten als weiteres Beispiel für zweidimensionale ›soft cells‹ verwenden, weil die Kammern jeweils zwei spitze Ecken haben«, sagt Domokos. Regős warf daraufhin ein, sie glaube, dass die Kammern innerhalb der Schale dreidimensionale »soft cells« ohne Ecken sein könnten. »Diese Bemerkung war eine ›tickende Zeitbombe‹. Sie war sehr, sehr schwer zu glauben. Und falls sie wahr wäre, würde das unsere Forschungsarbeit komplett umkrempeln.«
Anschließend verbrachten die Forschenden mehrere Monate damit, die Vermutung von Regős zu überprüfen. »Schließlich fanden wir extrem detaillierte 3-D-Scans aus Computertomografen von der University of Dundee, die ihre Vermutung bestätigten«, sagt Domokos. Damit hatten sie das erste Beispiel dreidimensionaler »soft cells« ohne Ecken gefunden, die lückenlos den Raum füllen.
Mit den neu eingeführten Formen hat das Team einen neuen Bereich der Geometrie eröffnet. »Die weichen Kanten sind ein Hindernis für Geometer, weshalb sie bisher nicht daran gedacht haben, sie zu untersuchen«, sagt der Mathematiker Chaim Goodman-Strauss vom National Museum of Mathematics in New York City in einem bei »Nature« erschienen Artikel zu dem Thema.
Goodman-Strauss war nicht an der neuesten Forschungsarbeit beteiligt, hatte aber die erste Forschungsarbeit zur aperiodischen Einstein-Kachel zusammen mit David Smith verfasst – ebenso die Publikation zur Spectre-Fliese, die abgerundete Seiten besitzt. Allerdings fällt das Spectre nicht in die Kategorie der »soft cells«, erklärt Domokos: »Es ist eine absolut spannende Frage, ob aperiodisches ›soft cells‹ existieren«; also eine einzige »soft cell«, mit der sich die Ebene lückenlos pflastern lässt, ohne dass sich ein periodisch wiederkehrendes Muster ergeben kann. Diese und andere Fragen rund um die neuen Gebilde werden Geometer wahrscheinlich noch eine ganze Weile begleiten.
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